Manuel Magiera
Eis unter dem Regenbogen
Regenbogen
„Bääh!“ Angewidert von seinem Spiegelbild steckte sich Toni die Zunge aus. Fürchterlich! Das bin nicht ich, dachte er verzweifelt, während er sich kerzengerade vor dem Spiegel lang nach oben streckte und den eigens in der Stadt gekauften Hüftgürtel in Brusthöhe vor sich hielt. Er musste die Brust so flach es ging abbinden. Keine noch so geringe Wölbung durfte ihn verraten. Wie immer in Momenten wie diesen, fühlte er sich hundeelend. Er spürte wie ihn die fremde Person im Spiegel herunterzog. Starr blickte sie auf ihn herab und die Welt um ihn herum fühlte sich unwirklich an. Der Spiegel konnte nichts dafür. Er gab nur wieder, was ihm vorgesetzt wurde. Und dieses zurückgeworfene Bild trug nicht zu Tonis Erheiterung bei. Zwischen seiner inneren und äußeren Realität lag so viel Irrationales, Unverständliches, dass er sich außerstande sah, die richtigen Worte dafür zu finden.


Der Sechzehnjährige seufzte laut auf, spreizte die Finger seiner rechten Hand und fuhr damit durch das dunkelblonde leicht gewellte kurze Haar. Sinnlich begann er mit beiden Händen Strähne für Strähne auseinander zu ziehen. Die Spitzen in der Mitte des Kopfes wurden aufrecht gestellt, die seitlich davon befindlichen übereinander gelegt. Etwas Gel sollte seine widerspenstigen Haare bändigen, was aber nur mit dem Mittelschopf gelang. An den Seiten gab seine Naturkrause immer wieder nach und er konnte einige kleine Ringellöckchen nicht verhindern. Es war nicht sein Haar, welches ihm Sorge bereitete, denn es passte eigentlich zu seinem durchtrainiertem schlanken Körper, wie er selbst zugeben musste. Die Stupsnase, umgeben von ein paar kecken vorwitzigen Sommersprossen, die sich stets zu Frühjahrsbeginn rasant vermehrten und ein sinnlicher Mund mit nicht zu großen Lippen, verliehen ihm einen frechen Gesichtsausdruck. Nur die weichen Züge ließen ihn zu seinem Leidwesen etwas mädchenhaft erscheinen. Eine geheimnisvolle Aura, für den Betrachter interessant und spannend, umgab den Teenager, dessen freundlicher und vertrauenerweckender Blick faszinierte. Menschen, die ihn nicht kannten, begannen beim Anblick seiner Erscheinung zu überlegen: Ist das nun ein Junge oder ein Mädchen? Es war ihm bewusst. Sollen sie doch, dachte er. Sie war also wieder da, die Melancholie, die ihn in das tiefe Loch stürzen wird, das er seit geraumer Zeit als ständigen Begleiter neben sich erdulden musste. Die kommenden Stunden, welche, wie üblich seiner depressiven Phase folgten, waren somit vorprogrammiert. Er wird zu nichts mehr Lust haben und der Nachmittag endet stumm und trist auf dem Bett. Soweit darf ich es nicht kommen lassen. Vor allem nicht heute. Tonis Gedanken begannen sich aufzulehnen. Zum einen, gegen die von ihm eigens für sich selbst provozierte menschliche Erniedrigung, welche ihm stets das sichere Gefühl gab Scheiße zu sein und zum anderen gegen den, der ihm dieses missliche Empfinden bescherte. Das war er natürlich selbst.


Er begann sich Mut zu zusprechen. Wie lange willst du dich noch verstecken? Steh endlich zu dir. Die Stimme in seinem Kopf hörte sich eindringlich und klar an. Es klang wie ein Machtwort. Er musste dieser Aufforderung Folge leisten, denn sonst konnte er über kurz oder lang verrückt werden. Ihm war bewusst, dass das Versteckspiel vor sich selbst keine Zukunft hat und ihm mehr schadete als nützte. Trotzdem musste er einen Weg finden, damit die Eltern und die Mitschüler in der Schule nichts von dem, was ihn seit er denken konnte bedrückte, erfuhren. Er war felsenfest davon überzeugt, dass ihn weder seine Eltern noch sonst irgendjemand in seinem Umfeld verstand. Die nie zu enden scheinenden Gefühle falsch zu sein drückten ihm die Kehle zu, ließen heiße und kalte Schauer über seinen Nacken gleiten und lösten panische Ängste in seiner Seele aus. Er wähnte sich im falschen Körper gefangen, oder doch nicht? Zum Körper gehörten Arme, Beine, Haare. Wie konnte er die vertrackte Situation, in der er sich befand, überhaupt einigermaßen verständlich beschreiben? Er rang mit sich, suchte traurig nach Erklärungen. Nach dem Eintrag in seiner Geburtsurkunde war der Junge Toni ein Mädchen und hieß Tanja. Was für ein Name! Nicht, dass er grundsätzlich etwas dagegen gehabt hätte, aber im speziellen Fall war Tanja fehl am Platze, also völlig daneben. Toni war ein Junge. Gab es überhaupt Männer, die Tanja hießen? Seine Gedanken flogen davon, wie so oft, wenn er seinen Tagträumen folgte. Sicher, es gab schwule Männer, die sich wie Frauen benahmen und sich entsprechend nannten oder eben genau solche, die wie er, litten: Männer, die von Geburt Mädchen waren. Falsch, oder war er im Grunde ein Mädchen, das aber in Wirklichkeit ein Mann war? Eigentlich war er auch das noch nicht, sondern allenthalben ein Junge. Gut, da sollte er mit Sechzehn ehrlich zu sich sein. Er hatte im Internet recherchiert, sich alles zu dem Thema, was er dort finden konnte durchgelesen. War er transsexuell? So nannte man sein Problem im Netz. Es schien ihm, als sei er mit dem falschen Geschlecht geboren worden. Aber wie sollte er das seinen Eltern erklären? Die hatten sich ein Mädchen gewünscht. Toni sah die Zwickmühle in der er sich befand, mehr als deutlich.
Er liebte seine Eltern. Es lief eigentlich alles gut für ihn. Die Eltern hörten ihm zu, äußerten Verständnis und suchten stets Kontakt zu ihm. Sie erfüllten ihrem einzigen Kind auch die meisten materiellen Wünsche. Das fiel ihnen nicht so schwer, denn seine Mutter verdiente als Krankenschwester dazu und sein Vater arbeitete als Dozent für Geschichte an der Hochschule. Er hatte gerade habilitiert und sollte einen Lehrstuhl als Professor an der Uni Hamburg übernehmen. Die Eltern sprachen von nichts anderem, als von der bevorstehenden Beförderung, wegen der sie auch von Bayern nach Norddeutschland umgezogen waren. Wie soll ich denen klar machen, das ihre heißgeliebte Tochter als Kerl leben will, ja leben muss? Tonis Gedanken kreisten ununterbrochen weiter. Es ging ständig nur um seine Geschlechtsidentität. Er hatte Angst seine Eltern damit zu überfordern. Sein Problem würde ihnen vielleicht wehtun, ihr bisheriges Familienleben auf den Kopf stellen. Es wird Auseinandersetzungen geben. Toni hatte Angst vor endlosen Diskussionen, die ihn im Grunde nicht weiterbrachten. Bis jetzt hatte er seine Schulleistungen aus seinen Ängsten und Grübeleien heraushalten können, aber er war nach den Ferien in die Elfte gekommen. Das Abi rückte somit näher. Natürlich wünschten sich Vater und Mutter das Abitur für ihn und eigentlich hatte er mit dem Lernstoff keine nennenswerten Schwierigkeiten. Wenn bloß dieser schreckliche Mädchenkörper nicht wäre! Toni hasste seine weiblichen Attribute, wie er seine kleinen Brüste zu nennen pflegte. Ein Junge hatte keinen Busen. Ein Junge besaß einen Schwanz. Punkt. Und ich? Toni sah sein nacktes Oberteil im Spiegel verächtlich an.


Entschlossen legte er sich den engen Hüftgürtel, den er vor ein paar Tagen heimlich in Hamburg gekauft hatte, um. Im Internet konnte er sich das passende Modell anschauen und alle Daten dazu aufschreiben. Im Sanitätshaus brauchte er die Verkäuferin gar nicht zu fragen. Als er sich umblickte, fielen ihm die Hüftgürtel griffbereit ins Auge. Geschickt hatte er sich einen in Größe M aus dem Stapel heraus gezogen und bezahlt. Die Verkäuferin nahm das Geld und gab zwei Euro Wechselgeld zurück. Damit gehörte der Gürtel ihm. Es war eigentlich ganz easy gewesen. Trotzdem hatte er Schiss gehabt. Toni bekam immer Schiss, wenn er sich etwas kaufte, das seinen eigenen Vorstellungen entsprach. Die Sachen für Tanja besorgte schon seit langer Zeit seine Mutter. Gottseidank hatte die seinen Geschmack inzwischen kapiert. Dunkle T-Shirts, Sweatshirts und Hosen. Am liebsten Jeans. An dir ist wirklich ein Junge verloren gegangen, meinte sie immer kopfschüttelnd und Toni ergänzte dann in Gedanken: Ja, Mutter. Genau das ist auch mein Problem! Er zog den Gürtel strammer um die Brust. Die war plötzlich ganz flach geworden. Der Klettverschluss an der Seite hielt. Gelungen, fand er spontan und seine Laune begann sich schlagartig zu bessern, während ihm ein kleiner freudiger Schauer ein wohliges Gefühl bereitete. T-Shirt drüber. Jetzt den dünnen schwarzen Rollkragenpulli und dann noch den dicken Sweater mit Kapuze. Das war‘s. Schnell die neuen Unterhosen an. Die gab‘s obendrauf, weil er noch etwas Geld übrig gehabt hatte. Toni grinste. Die Mädchen aus seiner Klassenstufe gaben viel für Klamotten und Schminke aus. Er holte sich stattdessen heimlich ein paar Knabenunterhosen. Mit traurigem Blick besah er sich den Eingriff. Schön wäre es gewesen, wenn da schon etwas drin stecken würde, etwas, das zu einem richtigen Jungen gehört. Schade, aber es gab keinen Penis in seinem Leben. Toni schaute sich suchend im Zimmer um. Wo war die Socke? Aha, ans Bettende gerutscht. Ein Paar schwarze Socken lag dort eingerollt am Fußende. Also, Unterhose auf und rein damit. Ein zwölf- bis dreizehnjähriger Junge mit kurzen blonden Haaren blickte ihm im Spiegel entgegen. Vorne flach wie ein Brett, aber in der Unterhose eine dicke Beule.
Das bin ich. Endlich. So kann ich auf die Straße gehen. Ach lieber Gott, kannst du nicht machen, dass das echt wird? Kann ich nicht einen Unfall haben, im Krankenhaus aufwachen und erfahren, dass man männliche Organe in meinem Bauch gefunden hat? Die Ärzte erklären meinen Eltern, dass ich in Wahrheit ein Junge bin und operiert werden muss. Dann schlaf ich ein und wache aus diesem Albtraum endlich auf. Ich bin ein Junge und habe diese fürchterlichen Mädchenjahre nur geträumt.


Wobei, es war nicht alles furchtbar. Da übertrieb er etwas. Toni ließ positive Erinnerungen an sein bisheriges Leben zu. Die vielen Reisen in fremde Länder, weil ihm Vater und Mutter die Welt zeigen wollten, hatten ihm sehr gefallen. In München erhielt er als Kind teure Eislaufstunden. Nun, Leistungstraining wird er nicht mehr haben. Toni vermisste vieles, was ihm in seiner alten Umgebung so vertraut gewesen war. An seinem neuen Wohnort gab es gottseidank eine Eishalle, die ihn für einige liebgewordene Gewohnheiten entschädigen sollte. Und eine wichtige Neuerung lag dadurch im Bereich des Möglichen: Toni wollte nicht mehr als Mädchen eislaufen. Er war ein Junge und die Eisbahn sollte für ihn der erste Ort sein, an dem er seinen Rollenwechsel vollzog. Es kannte ihn noch niemand in der Gemeinde am Rande Hamburgs. Im Sommer waren sie hergezogen und nun zeigte der Kalender Oktober. Ideal für einen Neuanfang. Die Halle startete vor drei Tagen in die Saison. Jetzt noch die dünne schwarze Leggings. Die musste sein, es war kalt auf dem Eis. Die lange Sporthose drüber. Fertig. Das Sockenknäul zeichnete sich sichtbar ab. Die enge Hose beulte, aber sie saß fest. Er musste sich gut bewegen können und dehnte sich im Schritt. Weit war es nicht bis zur Eishalle. Er brauchte ungefähr zehn Minuten zu Fuß. Mit ausgebreiteten Armen belastete er erst das linke Knie, schwang danach aufs rechte. Immer darauf bedacht sich gerade zuhalten. Kopf hoch, Bauch rein, nach vorne schauen. Eiskunstläufer dürfen hochnäsig sein. Seine Körperspannung konnte sich sehen lassen. Die vielen Trainerstunden machten sich bezahlt.


Toni nahm früher an Wettbewerben teil. Er gehörte mit zwölf Jahren bereits zum bayerischen Landeskader. Doch seine Mutter und der Trainer wollten ihn in hübsche bunte Röckchen stecken und Toni fühlte sich so unwohl darin. Was hätte er damals für eine lange schwarze Hose gegeben, wie sie die Jungen trugen! Irgendwann schämte er sich für seine Kleidung und wollte nicht mehr auftreten. Die Eltern fanden, dass er dann keinen teuren Einzeltrainer mehr brauchte und Toni nahm nur noch zum Spaß am Vereinstraining teil. Sein Blick fiel erneut in den Spiegel. Er stimmte der Person darin zu. Ja, so sah ein richtiger Junge aus. Schnell zog er seine schwarze Jacke über, die Schlittschuhe wurden in die Schoner geschoben und in die dreieckige Schlittschuhtasche gesteckt. Leise öffnete er seine Zimmertür. Horchte. Die Mutter schien oben im Elternschlafzimmer zu liegen. Sie hatte Nachtschicht gehabt. Toni hörte ihre regelmäßigen tiefen Atemzüge. Es war jetzt viertel vor drei Uhr. Vorsichtig schlich er sich zur hinteren Tür und schielte auf dem Weg dorthin sicherheitshalber ins Wohnzimmer. Vergewisserte sich, dass ihm das leise Schnarchen den Schlaf des Vaters verriet. Jetzt oder nie.
Auf der Straße wurde er von einem kühlen frischen Wind empfangen, was leichtes Frösteln auslöste. Etwas mulmig war ihm zu Mute. Wird ihn jemand ansprechen? Was sollte er sagen, wenn er nach seinem Geschlecht gefragt wurde? Oder, war das unwahrscheinlich? Aber wenn ihn jemand aus der neuen Schule erkannte? Toni versuchte sich zu beruhigen. Die hatten hier ein Kurswahlsystem, Klassenverbände, wie in Bayern gab es nicht. In jeder Stunde trafen sich andere Schüler im jeweiligen Unterricht. Er war ohnehin bemüht, keine Freundschaften aufzubauen. Das brachte nichts. Die Mädchen erschienen ihm unpassend und die Jungs sahen ihn als Mädchen an. Er wollte ihnen gerne Kumpel sein und in seinen Träumen ertappte er sich sogar bei erotischen Spielereien. Transsexuell und Homosexuell, ich bin ein feines Früchtchen, dachte er. Onkel Bernd war der Bruder seiner Mutter. Er hatte erst neulich bei Mutters Geburtstag über Schwuchteln hergezogen. Was er wohl über mich sagen wird? Toni ging gedankenverloren weiter. An eine Beziehung zu einem Mädchen zu denken kam ihm nicht in den Sinn. Er war schließlich keine Lesbe. Erschrocken blickte er auf, ein kleiner Junge auf dem Fahrrad hätte ihn fast umgefahren. 


Toni sah nach vorn. Da, die Kurve. Die große Eishalle erschien vor ihm. Sie hatte anscheinend noch nicht geöffnet. Etliche Leute standen herum und warteten geduldig auf den Einlass. Toni stellte sich etwas abseits an den Zaun. Er schaute zur Seite. Hinter ihm befand sich der Kindergarten. Wie in einem Gefängnis kam ihm der Zaun vor, der den Spielbereich von der Straße trennte. Na ja, musste vielleicht auch sein, wegen der Sicherheit der Kleinen, fiel ihm abrupt ein. Die Schlange vor der Kasse begann sich plötzlich zu bewegen. Er trat in die Reihe, zog sein Geld aus der Hosentasche heraus. Es gab anonyme Jahreskarten, auf die er seinen Namen nicht schreiben brauchte. Der Name würde ihn also nicht verraten und er brauchte nicht zu lügen. Für vierzig Euro konnte er die ganze Saison aufs Eis. Ein älterer Junge schob ihn ruppig zur Seite, nachdem Toni bezahlt hatte und die Karte umständlich in die Jackentasche steckte. Er stand dem Jungen wohl im Weg. Und wieder rempelte ihn ein anderer Jugendlicher an. Ein Mädchen hätte sich vielleicht beschwert, nicht so Toni. Männer waren nicht zimperlich.


Ungerührt betrat er den Vorraum, in dem sich auch die Ausleihe für die Schlittschuhe und der Schleifbetrieb befanden. Zwei Treppenstufen führten nach unten. Links gab es einen Kiosk, dahinter ging es weiter zu den Toiletten. Vor ihm lag die große Eisfläche, gerade war frisches Eis gemacht worden, das im Sonnenlicht hell glitzerte. Er wählte die Tribüne zu seiner Linken und suchte sich einen Platz am Gang. Dann zog er seine Jacke aus und holte seine Schlittschuhe hervor. Einige Minuten später war er fertig angezogen. Schwarze Handschuhe mit Noppen gaben ihm die notwendige Sicherheit, sich auch nach einem Sturz gut abstützen zu können. Das Aufstehen war mit den Noppen, die sich ins Eis krallten, kein Problem. Seine schwarzen Schlittschuhe steckten noch in Plastikschonern. Toni trat zufrieden lächelnd vor die Bande und ließ die Arme kreisen. Er wechselte wieder von einem Bein aufs andere. Streckte sie hoch aus und dehnte sich. Das Aufwärmprogramm war ihm seit Kinderzeiten ins Blut übergegangen. Viele Leute liefen noch nicht auf dem Eis. Ein kleines Mädchen fiel ihm sofort auf. Sie trug ein hübsches grünes glitzerndes Kleidchen, grad so wie er früher und lief schnell und mit perfekter Haltung in eine Pirouette ein. Eine Frau stand neben ihr und gab Anweisungen. Toni musste schmunzeln. Ja, so ähnlich hatte auch er die Trainingsstunden erlebt. Etwas wehmütig dachte er an die Zeit, als er genauso alt war und sich auf Wettkämpfe vorbereitete. Er wäre jetzt vielleicht ziemlich weit oben, kam ihm in den Sinn. Er hätte es schaffen können. Mit neun Jahren sprang er bereits alles doppelt. Wenn ich weiter gemacht hätte, wäre ich jetzt vielleicht bei den deutschen Junioren Meisterschaften oder sogar schon in der Seniorenmeisterklasse. Er seufzte leise. Aber es ging nicht. Er hätte als Mädchen antreten müssen und das war nicht drin. Toni ließ einem kleinen Jungen den Vortritt, zog seine Schoner ab und stellte sich aufs Eis. Eine Stelle am Eishockeynetz, wo er die Schoner hineinstecken konnte, war gefunden. Glücklich lächelnd ließ er seinen Gefühlen und Gedanken ihren Lauf. Es war herrlich sich nach der langen Winterpause wieder auf dem Eis bewegen zu können.


Kraftvoll stieß er sich ab. Innenbögen, Außenbögen und das Wechseln der Kanten auf einem Bein waren kein Problem. Er hatte absolut nichts verlernt. Alles gelang sicher und flott im Tempo. Das kleine Mädchen lächelte ihn an, während sie einen Salchow sprang. Ja, es war wie eine Sucht. Wenn man einmal das Eis gekostet hatte, kam man nie wieder davon los. Auch Erwachsenen ging es oft so. Eiskunstlauf erforderte strenge Disziplin und Einsatz. Nur Übung machte den Meister, das konnte man bei diesem Sport wörtlich nehmen. Wer verbissen und unermüdlich trainiert, wird Übungen schaffen, von denen er bisher nur träumen konnte. Die Belohnung für die harte Arbeit war groß. Und es musste nicht die Teilnahme am Wettbewerb sein oder eine Platzierung. Es reichte, wenn man nach zwei Stunden abgekämpft und müde Schluss machte. Vielleicht das eine oder andere Erfolgserlebnis verbuchen konnte. Toni war in seinem Element und wieder ganz der Alte. Ein Flieger in alle Richtungen, auf Rückwärts gedreht und dann Rückwärts übersetzen, das linke Bein vor, mit Rechts Schwung holen. Das Spielbein in die Höhe zur Waagepirouette. Das Eis füllte sich langsam mit Publikum. Die beiden Kunstläufer waren nicht mehr allein. Zwei junge Mädchen schauten Toni interessiert zu. Sie liefen sehr gut, fand er. Kleine Kinder schoben Seehunde übers Eis. Toni war so vertieft in seine Übungen, dass er fast ein kleines Mädchen im Schneeanzug übersehen hätte. Huch, er lachte. Vom Seehund überfahren! Hätte grad noch gefehlt. Das Kind schob mit stolzem Blick seinen orangefarbenen Spielkameraden weiter. Toni suchte sich einen freien Platz und sprang ab. Der Toeloop war nur einfach. Den Salchow als nächstes, dann den Rittberger und einen Flip. Alles sauber gestanden. Stolz richtete er sich auf, denn manchmal waren seine Sprünge unterrotiert und das mochten die Richter im Wettbewerb gar nicht. Kinder und Erwachsene liefen nun alle durcheinander. Es wurde zu eng auf der Eisfläche. Den Lutz und den Axel riskiere ich in diesem Getümmel nicht, dachte er und übte einige Schrittfolgen. An der Ecke, wo er seine Schoner abgelegt hatte, war das Eis noch gut. Dann bleibt’s eben bei Doppeldreiern und Pirouetten. Toni lächelte und stellte sich pustend zum Ausruhen an die Bande. „Warst du im Verein?“ Ein älterer Mann stoppte neben ihm. „Das sieht richtig gut aus. Aber es wird jetzt zu voll. Vormittags ist weniger los, wenn nicht gerade Schulklassen da sind.“ „Da muss ich leider in die Schule, aber wenn man gleich um drei Uhr schnell macht, kann man noch einiges üben und ich denke, später, gegen sechs Uhr, wird es auch weniger. Dann ist nur das Eis schlechter“, antwortete Toni. „Die bereiten gegen 17 Uhr das Eis noch einmal auf. Wo kommst du her? Du hörst dich süddeutsch an?“, fragte der Mann im Sportanzug, der auf dem Kopf eine blaue Mütze trug und leichte Schrittfolgen und Pirouetten gelaufen hatte. Sein Alter war für den Jungen schwer zu schätzen.


Toni lachte. „Wir sind grad im Sommer aus München hergezogen, da gab es an allen Ecken Eisbahnen. Ich bin froh, dass diese jetzt schon auf hat. Es ist schön hier.“ Der Mann nickte ihm freundlich zu. „Dann viel Spaß, mein Junge.“ Hui, Tonis Backen nahmen eine gesunde rote Farbe an, die nicht auf die Kälte in der Eishalle zurückzuführen war. Erst das Lob für seine läuferischen Fähigkeiten und dann das! Etwas verlegen war er schon, aber sehr glücklich. Es hatte also geklappt. Man hielt ihn für einen Jungen. Jauchzend warf er die Arme nach oben über den Kopf. Dabei drehte er auf einem Bein ganz schnell herum, sprang aufs andere und drehte weiter. Ich bin für andere ein Junge, hurra! Das Glück stand ihm ins Gesicht geschrieben. Einige kurze Gespräche lenkten ihn ab und er merkte nicht, wie die Zeit verging.


Ein bekanntes Gefühl signalisierte, dass er vielleicht die Toilette aufsuchen sollte. Er nahm seine Schoner in die Hand und strebte dem Ausgang zu. Augenblicklich erstarrte er. Ach herrje, was mach ich denn nun? Auf die gewohnte Mädchentoilette als Junge? Nein, das ging natürlich nicht und auf das Jungsklo? Das wäre verständlicherweise die logische Folge seines männlichen Outfits gewesen. Doch konnte er es wagen? Die aufkommende Angst schnürte ihm die Luft ab und gleichzeitig wollte zwischen seinen Beinen etwas raus. Er musste schnell handeln und sich entscheiden. Nach Hause schaffte er es nicht mehr, so viel war sicher. Er zog die Schoner über und machte sich zielstrebig auf den Weg zu den Toiletten. Angekommen drückte er die Klinke herunter und stand mit Herzklopfen im Waschraum der Herrentoilette. Ein dunkelblonder Junge, den er spontan auf dreizehn bis vierzehn Jahre schätzte, drehte sich vom Waschbecken um und starrte ihn erschrocken an. Man konnte eine Stecknadel fallen hören. Toni fühlte sich ertappt. Aber seine Blase forderte ihn auf, weiter in den Toilettenraum zu gehen. Der andere nahm sich Papier, wischte sich fahrig die Hände trocken und verließ fluchtartig, wie es Toni schien, den Raum. Links und rechts hingen Becken, die der natürlich nicht gebrauchen konnte. Er musste in die Kabine. Gerade noch rechtzeitig. Vorsichtig öffnete er nach vollbrachter Tat wieder die Tür. Niemand da. Uff, das war noch einmal gut gegangen, in jeglicher Hinsicht. Schnell wusch er seine Hände und riss, wie sein Vorgänger etwas Papier zum Abtrocknen ab. Tür auf und raus. Toni atmete durch, als er wieder im Getümmel stand. Hey, das war doch gar nicht so schlimm gewesen. Solange Kabinen da sind und die gibt es auch bei den Männern fast überall, hast du nichts zu befürchten. Keiner rechnet damit, dass ein Mädchen so mir nichts dir nichts aufs Jungsklo geht. Da merkt niemand etwas. Das musst du oft wiederholen. Damit solltest du auch sicherer im Auftreten werden, sprach die Stimme in seinem Kopf. Toni fühlte sich nach diesen Gedanken wohler. Warum der Junge am Waschbecken so perplex und erschrocken reagierte, konnte er sich allerdings nicht erklären. Er sah auf die Stadion Uhr. Die Zeit verging wie im Flug.


„Bitte die Eisbahn verlassen, die Eismaschine kommt!“, dröhnte der Lautsprecher. Toni ging zu seinen Sachen, nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. Mit den Kindern stellte er sich danach an die Bande und verfolgte die Spuren der schweren Eismaschine. Die unzähligen Rillen und der überschüssige künstliche Schnee, welcher sich durch die vielen Besucher gebildet hatte, verschwanden und eine glatte klare Eisfläche kam zum Vorschein. Toni beschloss bis sechs Uhr zu bleiben und das schöne Eis auszunutzen. Wie vorhergesagt, lichteten sich die Läuferreihen. Die geliehenen Schlittschuhe mussten wieder abgegeben werden. Toni grinste. Der Tag war super gelaufen. Er hatte seine Feuertaufe als Junge erfolgreich bestanden. Die Rückmeldungen von anderen Besuchern zu seinem gefühlten Geschlecht gaben ihm Sicherheit und Auftrieb. Sogar die Toilette hatte er geschafft. Als das Eis wieder frei gegeben wurde, sprang er als erster schnell drauf und setzte zum Axel an. Einige Besucher klatschten. Platz gab es genug. Gleich nochmal das Ganze, aber doppelt. Es reichte zum doppelten Toeloop und als er weiterhin freie Bahn hatte, kamen ein doppelter Lutz mit Euler und ein doppelter Flip hinterher. Er strahlte. Lief immer weiter. „Bitte das Eis verlassen, wir schließen gleich!“, sagte eine Männerstimme aus dem Lautsprecher. Toni hatte nicht mehr bemerkt, wie es langsam Abend geworden war. Müde und abgekämpft, zog er sich um.
„Eh, das war geil. Bist du im Verein gewesen?“, hörte er eine hohe Stimme neben sich fragen. Der Junge aus der Toilette blickte ihn freundlich an. Merkwürdig, dachte Toni. Der spricht noch so hoch, aber eigentlich müsste der doch älter sein. „Ja, als kleines Kind in Bayern. Das verlernt man nicht. Wie heißt du?“, fragte er zurück. Etwas an dem Jungen irritierte und faszinierte ihn zur gleichen Zeit. Er schien jedenfalls nett zu sein. „Ich bin Ole“, antwortete der andere und blickte verschämt auf den Boden. „Schöner Name, norddeutsch, ich heiße Toni!“ Beide lächelten. „Kommst du morgen wieder?“, fragte Ole. Toni nickte. Ja, das wollte er. Zeit war genug da und er würde seine Jahreskarte ausnutzen. Es gab nichts Schöneres als eislaufen. „Dann bis morgen, ich muss zum Bus“, meinte sein Gegenüber, als sie vor der Eishalle standen und schien genauso glücklich über den neuen Kontakt wie Toni zu sein. „Bist super gesprungen, klasse!“ Ein junger Mann schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Danke.“ Er blickte sich um und sah Ole zur Bushaltestelle laufen. Auch Toni musste sich beeilen.


Als er vor der Tür die Schuhe auszog, öffnete ihm seine Mutter Anneliese. „Kind, wie siehst du denn nur aus?“, rief sie entsetzt und schüttelte den Kopf. „So läuft doch kein junges Mädchen herum. Zieh dir bitte etwas Ordentliches an, Tanja. Du weißt, dass Vater Wert auf gepflegtes Äußeres legt.“ Tadelnd wandte sie ihren Blick ab. Ja, so konnte es gehen. Eben noch himmelhochjauchzend über den Wolken und in der nächsten Sekunde erhielt man einen Dämpfer, dass es nur so brummte. Toni schlich sich auf sein Zimmer. Und doch, der Nachmittag hätte nicht schöner sein können. Er zog seine Pullover und Hosen aus. Sorgfältig verstaute er seine Jungsklamotten im Bettkasten. Er hielt peinlich Ordnung und machte auch selbst rein, damit die Mutter gar nicht erst auf die Idee kommen konnte, in seinem Zimmer herumzuwühlen um womöglich Sachen, die ihr nicht gefielen, weg zu werfen. Doch wohin mit dem Brustgürtel? Toni hatte den Karton bereits in der Stadt ausgepackt und dort in der blauen Tonne entsorgt. Jetzt musste er ein sicheres Versteck für seine neue Errungenschaft finden. Dem Bettkasten traute er nicht. Er blickte sich suchend um. Zwischen dem Kopfende seines Bettes und der Wand befand sich eine schmale Spalte, auf die er sich ein Brett gelegt hatte. Sein Wecker und zwei kleine Matchboxautos aus frühen Kindertagen standen darauf, zusammen mit Pluto, seinem Stofftier. Pluto war schon ziemlich abgewetzt, aber Toni konnte den treuen Begleiter seiner ersten Lebensjahre nicht wegwerfen. So saß Pluto in der Ecke und die dunklen Knopfaugen des Pudels schienen zu lachen. Natürlich, nimm‘ das Brett zur Seite und packe den Gürtel in einer Tüte darunter. Mutter wird nie das Zimmer aufräumen, solange immer alles sauber ausschaut. Toni freute sich über seinen tollen Einfall. Jetzt musste er sich nur noch etwas zum Anziehen suchen, das seinen Vater nicht irritieren konnte, aber andererseits auch Toni in seiner männlichen Rolle bestärkte. Die neue dunkelblaue Jeans durfte er tragen und die karierte Bluse dazu. Leider war sie aus der Mädchenabteilung, jedoch das Karomuster erinnerte an ein Jungenhemd. Zufrieden sah Toni in den Spiegel. Okay, wenn Vater trotzdem etwas auszusetzen hatte, war es nicht zu ändern.


Er ging geradewegs in die Küche um seiner Mutter zu helfen, wie immer. Sie sagte nichts. Der Vater sprach beim Essen über die Schule und fragte beiläufig, was Toni am Nachmittag gemacht hatte. Der war froh, die Wahrheit sagen zu können. „Ich war in der Eishalle, hab mir auch gleich eine Jahreskarte gekauft. Denkt euch, ich konnte noch alles und bin zweifach gesprungen. Als nach fünf Uhr nicht mehr so viele Leute da waren und wir frisches Eis hatten, klappte sogar der Axel auf Anhieb doppelt. Ich bin morgen wieder verabredet. Ach so, die Mathearbeit war eine zwei plus und Erdkunde eine Eins“, beeilte er sich zu sagen. Der Vater nickte. „Das Abitur ist wichtig für dich, Tanja. Gerade als Mädchen brauchst du einen Beruf, der dir ein festes Einkommen sichert, damit du nie von einem Mann abhängig wirst.“ „Ja, Vater“, Toni kannte die alte Leier. Und schmunzelte. Hach, Mädchen. Wenn Vater wüsste, als was ich in der Eishalle war! Nach dem Essen ging er auf sein Zimmer, nachdem er der Mutter, wie immer, beim Abräumen geholfen hatte. Im Internet las er sich wieder durch Webseiten, die über Transsexualität berichteten. Es gab viele Vereine und Gruppen in beide Richtungen, also, die wie er waren, von Frau zu Mann, aber es gab natürlich auch den umgekehrten Weg. Frauen, die in einem Männerkörper steckten. Auf den Seiten fand Toni alles, was er suchte. Dort hatte er auch die Info über den Hüftgürtel erhalten, um erfolgreich die Brust abzubinden. Für das Geschlecht gab es sogenannte Packer. Sie sahen einem echten Glied täuschend ähnlich und wurden in die Unterhose gelegt. Toni beschloss, dass er so ein Teil unbedingt als nächstes besorgen musste. Aber da gab es ein Problem. Er war erst Sechzehn und besaß noch nicht die Erlaubnis im Internet etwas zu kaufen. Außerdem hätte er das Päckchen abfangen müssen, damit seine Mutter nichts merkt. Irgendwie musste er einen Weg finden, um an die Ware zu kommen. Da fiel sein Blick auf eine Werbung auf der Website. In Hamburg gab es Geschäfte, in denen man Dildos und Sexartikel kaufen konnte. Möglicherweise wäre das eine Option. Er schrieb sich die Anschrift in sein Notizbuch. Der Laden befand sich in Altona, in der Nähe der Reeperbahn. Wie kam er dorthin?
Toni hatte öfter Freistunden und der Zug fuhr gegenüber der Schule ab. Einige seiner Schulkameraden nutzten die freien Stunden bis zum Nachmittag um sich in Hamburg herumzutreiben. Da konnte er getrost mitfahren und würde wieder rechtzeitig zurück sein. Herrlich, wie weit bist du heute gekommen. Du kannst stolz auf dich sein, Junge! , lobte er sich in Gedanken. Auf einem Internetforum für Transsexuelle konnte man sich anmelden und mit anderen chatten. Toni war vorsichtig mit solchen Bekanntschaften. In Hamburg gab es diverse Selbsthilfegruppen. Die erregten nun seine Aufmerksamkeit. Im Augenblick konnte er abends noch nicht weg, aber das wird er schon hinbekommen. Vielleicht fand sich eine Schulkameradin, die in Hamburg lebte und die er besuchen konnte. Irgendwann würden ihm die Eltern auch eine Übernachtung bei ihr erlauben. Er kam seinem Ziel näher. Als die Mutter gegen neun Uhr Schlafenszeit anmahnte, schaltete ihr heimlicher Sohn hoffnungsvoll und sichtlich zufrieden seinen PC aus.

Toni startet durch


Am anderen Morgen kreisten seine Gedanken sofort um ein besseres Jungenoutfit. Er überlegte, einen zweiten, etwas schmaleren Hüftgürtel zu kaufen, den er in der Schule um die Brust binden konnte. Geld besaß er noch genug und Zeit hatte er auch, denn die letzte Stunde fiel aus. In Jeans und Sweater ging er in die Küche. Seine Mutter hatte bereits das Haus zur Frühschicht verlassen, so dass er sich sein Frühstück selbst zusammenstellen musste. Die Kaffeemaschine lief. Er hörte, wie sich sein Vater im Badezimmer rasierte. Toni schaltete den Wasserkocher ein um sich einen Tee aufzubrühen. Er deckte, während das Wasser heiß wurde, den Tisch für den Vater und sich selbst. Toni verhielt sich daheim so unauffällig wie möglich. Ein Mädchen ist brav und tut, was es soll. Es war ein Klischee, aber in diesem besonderen Fall recht hilfreich. „Guten Morgen, Tochter, was hab ich das gut mit deiner Fürsorge!“ Der Vater hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Guten Morgen, Dad. Möchtest du Schwarzbrot oder Toast?“ „Ich nehme zwei Scheiben Toast, danke.“ Toni begann geschäftiges Treiben, indem er sich Brot zum Mitnehmen schmierte und wieder aufstand um das Wasser für den Tee zu holen. Sein Vater sah ihn aus den Augenwinkeln an. Etwas irritierte den fünfzigjährigen Lehrer immer wieder an seiner Tochter. Sie benahm sich nicht wie die Mädchen und jungen Frauen, die er aus der Schule und von der Uni kannte, sie trug nie Kleider und interessierte sich absolut nicht für Kleidung, Mode, Schminke. Er war schon lange im „Bildungsgeschäft“ und kannte sich mit den Unterschieden zwischen den Geschlechtern aus. Anfangs unterrichtete er Deutsch und Geschichte an einem Gymnasium, bis er sich für einen Lehrstuhl an der Uni entschied. Nach einigen Jahren als wissenschaftlicher Assistent an der Münchner Universität, hatte es in Hamburg mit einer Professur geklappt. Der Preis war der Umzug in den hohen Norden, der ihn und die gesamte Familie vor eine besondere Herausforderung stellte. Sprache und Kultur unterschieden sich. Aber das würden sie bewältigen, dachte er. Tanja machte ihm Sorgen. Ihre Schulleistungen boten selten Anlass zur Klage. Tanja war eine brave Tochter. Klaus Obermöller dachte nach. Zu brav, schoss es ihm durch den Kopf. Verheimlichte sie ihm etwas? „Tanja, du weißt, dass du mit allen Sorgen zu mir und Mama kommen kannst. Wir sind immer für dich da, wenn du ein Problem hast.“ Oh je, Toni spürte Gefahr. Wenn der Vater auf diese Tour kam, war Vorsicht geboten. Nur nichts verraten, hieß jetzt die Devise.


„Natürlich, Dad, deshalb habe ich euch auch sehr lieb. Ich treffe mich nach der Schule noch mit ein paar Mitschülern zum Mathelernen. Um zwei Uhr bin ich zuhause, wir haben sonst heute nicht viel auf. Neben Mathe steht nur Geschichte auf dem Programm. Ach so, Kunst auch noch. Ich werde dann gleich nach der Mittagsstunde in die Eisbahn verschwinden. Oh, ich muss los. Wünsch dir einen schönen Tag.“ Er sprang auf, stellte sein Geschirr in den Spüler. Küsste seinem Vater auf die Wange und verschwand, ehe der antworten konnte. „Bye, Dad.“ Mit der Jacke in der Hand beeilte sich Toni die Wohnung zu verlassen. Uff, alles gutgegangen. Die Windjacke zog er rasch vor der Haustür an. Es war kurz vor halb acht Uhr und er musste schneller gehen, um den Bus zu erreichen. Seine Gedanken flogen in die Großstadt Hamburg, in das Geschäft, in dem er heute Mittag einen etwas schmaleren Gürtel zum Abbinden seines Busens kaufen wollte. Den konnte er in der Schule tragen, er fiel weniger auf, als der breite. Das nächste war der Gliedersatz. Toni schmiedete freudig Pläne. Der Bus kam und in den nächsten Stunden forderte die Schule seine volle Aufmerksamkeit. Aber so pünktlich wie er begonnen hatte, endete der Unterricht. Toni beeilte sich.


Ein Metronom nach Hamburg stand auf dem Bahnhof bereit. Die Fahrkarte hatte er sich in der zehn Uhr Pause geholt. Er war aufgeregt. Als er wenig später zunächst das Orthopädiefachgeschäft betrat, wusste er, wohin er sich zu wenden hatte. Diesmal kaufte er zielsicher ein. Und wieder nahm er vor der Tür die Ware aus der Packung, suchte sich einen Mülleimer und entsorgte verräterische Hüllen. Es war ein Uhr durch. Die S- Bahn hielt auf dem Rückweg zum Hauptbahnhof an der Reeperbahn. Toni dachte nicht mehr nach, folgte einer inneren Eingebung und stieg aus. Als er die Rolltreppe hinter sich gelassen hatte und sich auf der Straße befand, umfing ihn pulsierendes Leben. Menschen eilten an ihm vorbei, er suchte sich einen sicheren Standplatz in einer Ladenecke, um nicht umgerannt zu werden. Plötzlich entdeckten seine Augen auf der anderen Straßenseite das Sexartikelgeschäft aus dem Internet. Wieder runter in den S-Bahntunnel und geradeaus rüber. Er fühlte keine Angst und sein Auftreten war selbstbewusst. Mit wachen Blicken musterte er die Regale, ging unbehelligt durch den Laden. Er lächelte, denn er hatte rasch gefunden, wonach er suchte. Sein Herz begann zu rasen. Er hatte solange von diesem Moment geträumt und nun war es so einfach gewesen. Viel Zeit blieb ihm nicht. Ein anderer Junge stand neben ihm, besah sich die künstlichen Glieder, öffnete eine der Schachteln und nickte mit dem Kopf. Der Junge verschwand in Richtung Kasse. Toni sah auf den Preis. Whow. Die Freude war groß, denn sein Geld reichte. Auch er griff sich die Packung mit dem Gliedersatz. Dabei glühten seine Wangen vor Erregung. Die Verkäuferin lächelte ihn verstohlen an. „Ich gebe Ihnen einen Katalog mit, wir haben eine große Auswahl an Artikeln, die von Transsexuellen gerne gekauft werden. Viele junge Männer aus der Selbsthilfegruppe sind Kunden bei uns.“ Toni hielt einen Moment später eine Tüte in der Hand, bedankte sich mit hochrotem Kopf und verließ das Geschäft starr und ungelenkig wie ein Roboter. Ich muss nach Hause, dachte er. Die Tüte steckte er in der S-Bahn in seine Schultasche.


Mit ängstlichem Blick ging er eine gute Stunde später die heimische Hofeinfahrt hinauf. Er hatte sich etwas verspätet. Niemand öffnete die Haustür. Er schloss sich selbst auf. Alles war ruhig im Haus, die Eltern schienen fort zu sein. Gottseidank, sie werden also nichts merken. Er musste sich sputen. Die Eishalle hatte bereits geöffnet und Ole wird sicher auf ihn warten. Spuren verwischen, umziehen und den Packer ausprobieren. Es war ein anderes Gefühl mit dem Gliedersatz in der Unterhose, als mit dem Sockenknäul.


Ein glücklicher Toni betrat um halb vier Uhr die Eishalle.
„Da bist du ja, ich dachte, du kommst nicht mehr“, hörte er die vertraute Stimme neben sich. Ole lachte ihn an.
„Ich war nach der Schule noch einkaufen, sorry. Aber es geht schnell. Warmlaufen kann ich mich auch auf dem Eis.“
Toni hatte sich noch nie so leicht und happy gefühlt. Es war wie ein Befreiungsschlag für seine Seele. Er tobte mit Ole herum, übte konzentriert seine Schrittfolgen und erntete ein paar böse Blicke der Eismeister, weil er zu wild lief und dabei andere Besucher gefährdete. Mit Ole spazierte er ungeniert zur Toilette, wunderte sich allerdings, dass dieser genau wie er eine Kabine nutzte und sich nicht an eines der zahlreichen Becken stellte.
Toni wollte sich die Hände waschen. Auf dem Weg zum Waschbecken sah er einen kleinen Jungen am Urinal stehen. Ja, der kleine Kerl hat mehr Glück gehabt, als du, sagte die Stimme in seinem Kopf. Ihm wurde seine Andersartigkeit wieder bewusst. Ole erschien.
„Was hast du?“, wollte er wissen.
„Nichts. Tonis Melancholie stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sie erweckte in Ole Gefühle, die dieser abgrundtief hasste. Auch Ole musste mit einem Problem leben, doch darüber reden konnte er genauso wenig wie Toni.
„Komm, ich gebe Pommes und Cola aus“. Ole wollte Toni und sich auf andere Gedanken bringen.
Wer die beiden sah, schloss auf zwei Jungen, die einerseits Spaß am Leben hatten, lustig und aufgedreht den Augenblick genossen und andererseits in kurzen Augenblicken dem Betrachter Rätsel aufgaben. Da war etwas, dass sie auf merkwürdige Weise verband, eine Ähnlichkeit, begründet in ihrem Schicksal, unsichtbar verstrickt, verwoben und verworren, nicht greifbar, in der Tiefe ihrer beider Seelen verborgen. Sie bemerkten es selbst, jeder für sich, in jeweils eigener Art und Weise und sie nahmen es hin. Einfach so. Warum sollten sie sich Gedanken über etwas machen, dass sie nicht ändern konnten? Es gab ihnen die Sicherheit, die ihnen im Umgang mit anderen Menschen häufig fehlte. Sie waren einander Halt und Kraft. Die notwendige Aussprache blieb jedoch aus.
Einige Wochen vergingen. Ole besuchte die Oberstufe der Gesamtschule, Toni das Gymnasium. An einer ihrer Schulen verabredeten sie sich nie. Warum, wussten sie nicht. Es war einfach tabu.


Dann kam der Tag, an dem sie zusammen ins Kino gingen. Sie saßen in der Dunkelheit eng beieinander und jeder fühlte das Herz des anderen neben sich schlagen. Eine Tüte Chips lag auf Tonis Schoß. Ole griff danach, berührte dabei zufällig Tonis Hand und strich gedankenverloren über dessen Hosenlatz. Erschrocken hielt er inne, wagte es nicht, seine Finger abrupt wegzuziehen. Auch Toni verharrte in Starre, begann zu zittern und legte im Überschwang der Gefühle seine Hand in die Oles.
Das Licht ging an, es gab eine kurze Pause. Der Film hatte Überlänge. Mit einer zärtlichen Geste schoben sie ihre Finger auseinander. „Ich muss zur Toilette“, meinte Ole. Toni lächelte. In seinem Bauch begann es während Oles Abwesenheit zu kribbeln. Er stellte sich vor, in Oles Armen zu liegen, von ihm geküsst zu werden. Hatte er sich verliebt? Die Antwort konnte nur Ja heißen. Als Ole zurückkam, sahen sie einander in die Augen und die spiegelten ihnen die tiefen Gefühle füreinander wider. Toni verschwand und kämpfte mit den Tränen, so sehr wurde er von Glück überwältigt. Aber hatte dieses überhaupt eine Chance? Ole war ein normaler Junge und wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, dass Toni transsexuell war? Ole durfte die Wahrheit nicht erfahren. Zu groß erschien die Angst, ihn verlieren zu können. Und Ole? Der freute sich über die wahnsinnigen Gefühle, die ihm seine Liebesfähigkeit bestätigten. Doch es gab ein Problem, von dem Toni nichts wissen durfte. So schwieg er und blieb mit seinen Ängsten allein.


Nach dem Kino tranken sie eine Cola und schlenderten zum Busbahnhof. Zwei Jungen, Kumpel, wie es schien und doch waren sie mehr. Ihre Berührungen und Raufereien wirkten auf Außenstehende, die sie beobachteten, derb. Die beiden sahen jedoch Liebkosungen und einen zaghaften Ausdruck von … Liebe in ihrem Toben. Toni konnte es nicht lassen. Er lockte Ole auf den nahegelegenen Parkplatz hinter einen Baum. Es war dunkel, niemand konnte sie sehen.
„Weißt du, wie es Schwule machen?“, fragte er Ole unvermittelt. Der schüttelte den Kopf. Toni schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf den Mund.
„Komm her, du kleine Schwuchtel“, hauchte Ole daraufhin und zog Tonis Kopf fest an sich. Eng umschlungen versanken die zwei und tranken von ihrer ersten großen Liebe. „Okay, dann wäre das jedenfalls geklärt“, meinte Ole, bedeckte Tonis Gesicht und Augen weiter mit Küssen. „Ich liebe dich, Toni und ich bin froh, dass es raus ist. Die Heimlichtuerei hat mich sehr belastet.“
„Mich auch. Wir haben leider keine Zeit mehr, die Busse kommen gleich. Wir sehen uns morgen auf dem Eis.“ Auch Toni war erleichtert. Wie sehr hatte er diesen Moment herbeigesehnt und gehofft, seine Gefühle würden erwidert.

Sie sahen die Lichter der Scheinwerfer von Tonis Bus an der Haltestelle. Für die beiden reichte es nur noch zu einer kurzen Umarmung. Toni stieg ein und suchte sich einen freien Fensterplatz. Überglücklich winkte er Ole zu.
Dieser war der Nachdenklichere von den beiden. Er hatte im Internet gesurft, um etwas über sein Problem zu erfahren. Anders als Toni wollte er sich Hilfe im Gespräch mit Gleichgesinnten suchen und war auf eine Gruppe gestoßen, die sich regelmäßig in Hamburg traf. Er fragte sich verunsichert, wie es mit ihm und Toni weitergehen sollte. Irgendwann musste er mit der Wahrheit herausrücken. Er wollte sich Rat holen. Eine Verabredung mit dem Gruppenleiter schien ihm die richtige Lösung zu sein. Zwei Tage später sollte er sich in Hamburg vor einem Café mit einem älteren Mann treffen. Ole konnte deshalb am nächsten Freitag nicht zur Eishalle kommen. Aber da würde ihm schon eine Ausrede für Toni einfallen.
*
Toni trainierte so hart und ausdauernd, wie er es aus seiner Vereinszeit kannte. Ole hatte heute keine Zeit. Eine Verabredung mit einem Bekannten wäre sehr wichtig für ihn, mehr wollte er seinem Freund nicht erzählen. Toni fragte sich deshalb, welcher Art das Treffen der beiden wohl sein konnte. So sehr er auch grübelte, er fand keine plausible Antwort. Oles Verhalten erschien ihm merkwürdig und brachte Unruhe in sein Leben. Gedanken begannen zu kreisen und wollten nicht mehr aus Tonis Kopf weichen. Ob Ole einen Freund hatte? Eifersucht flackerte auf. Was, wenn sich seine Befürchtung bewahrheitete?
Das Gefühl wurde so stark, dass es ihn vom Eis ablenkte. Fast wäre er bei einer harmlosen Schrittkombination der Länge nach gestürzt. Er beschloss für heute sein Training zu beenden. Es hatte keinen Sinn mehr, weiterzumachen. Toni zog sich um, verließ die Eishalle und stand nach einer halben Stunde ziemlich unschlüssig vor dem Eingang. Was sollte er tun?
Seine Hand fuhr wie von selbst in die Jackentasche zu seinem Handy. Er nahm es heraus, wählte Oles Nummer.
„Wo bist du?“, schrieb er in die SMS.
Die Antwort kam prompt. „Noch zuhause, in einer Stunde fahre ich.“
„Können wir uns nicht kurz sehen?“
Es dauerte. Unruhig trat Toni von einem Bein aufs andere.
„Gut, in einer viertel Stunde am Bahnhof!“


Erleichtert steckte er sein Handy weg, nahm seine Tasche und lief zur Bushaltestelle. „Sitze im Bus, ca. zwanzig Minuten!“, schrieb er wenig später zurück.
„Okay.“ Ole hatte noch einen lachenden Smiley neben seine Antwort gesetzt.
Schon von weitem sah Toni Ole an der Haltestelle warten. Sein Herz schlug Purzelbäume. Sie lagen sich kurz in den Armen.
„Lass uns einen Burger essen“, schlug Toni vor.
„Wie war dein Training?“, erkundigte sich Ole.
Tonis eben noch so glückliche Miene verdüsterte sich. „Ging so.
Hab irgendwie einen Durchhänger. Kannst du nicht hierbleiben und deinen Termin absagen?“
Ole stutzte und überlegte kurz. Er hatte viele offene Fragen. Toni würde auch ohne ihn klarkommen und mitnehmen konnte er ihn nicht. Das war ebenfalls eines seiner Probleme, denn irgendwann müsste Toni sein Geheimnis erfahren. Wie wird er reagieren? Wird es ihrer Freundschaft schaden, sie sogar beenden?
Ole schüttelte den Kopf.
„Na gut“, meinte Toni traurig. „Dann geh zu ihm, wenn ich dir so wenig bedeute.“ Die letzten Worte waren sehr leise. Jedoch, Ole hatte sie gehört und verstand nicht.
„Was meinst du?“ Unsicherheit lag in seiner Stimme.
„Och, nichts weiter. Aber wenn du einen anderen Freund hast, sag es, ist besser für uns.“
Ole sperrte erschrocken den Mund auf und starrte Toni an. „Bist du etwa eifersüchtig?“


Die Antwort musste warten, weil der Mann am Tresen ihnen zwei Cola und zwei Hamburger hinstellte. Toni bezahlte alles, nahm das Tablett und schob Ole zu einem freien Tisch.
„Nee, eigentlich nicht, aber ich mache mir Gedanken, was du wohl treibst“. Toni versuchte die Situation zu seinen Gunsten zu retten. Besser man spielte den Ball gleich zurück, dachte er.
Ole lächelte entspannt. „Ich kann dich beruhigen. Du bist der einzige Freund in meinem Leben. Aber ich muss etwas klären, damit unsere Freundschaft in Zukunft Bestand hat. Dazu treffe ich heute jemanden, der sich mit meinem besonderen Problem auskennt und mir einen Rat geben soll. Wir beide werden bald über uns sprechen müssen. Kannst du noch einen Tag warten?“


Ole sah Toni offen und ehrlich an. Verschämt blickte dieser nach unten. Er war sich des Fehlers bewusst. Wie Schuppen fiel die Wahrheit von seinen Augen. Eifersucht und wahre Liebe gehörten nicht zusammen. Wer Eifersucht zuließ, liebte nicht aufrichtig. Toni kämpfte kurzzeitig mit den Tränen, verzog die Mundwinkel. Sie saßen im Bahnhof, um sie herum liefen Menschen. Das war nicht der geeignete Ort um Gefühlen freien Lauf zu lassen. Toni atmete durch. Er hatte verstanden und gelernt. Liebe heißt Vertrauen. Wer wirklich liebt, weiß, dass der Partner nie das Vertrauen des anderen missbrauchen wird. Auch wenn eine Trennung unausweichlich ist, werden sie rechtzeitig darüber sprechen. Toni hob den Kopf, blickte Ole ebenso klar ins Gesicht.


„Entschuldige. Ich glaube, ich muss noch viel lernen. Ich liebe dich, Ole. Aber, was immer es ist, ich werde es aushalten. Lass uns jetzt essen und dann fährst du zu deinem Termin.“
Auch in Oles Augen begannen nach dieser Antwort Tränen zu schimmern. Er hielt sich gefasst zurück. „Morgen weiß ich mehr. Vielleicht brauche ich mich danach nicht weiter zu verstecken.“
Toni nickte, setzte sein Glas an den Mund und trank.
Es war in den vorangegangenen Minuten etwas mit ihnen geschehen, das fühlten sie deutlich. Sie hatten für ihre Liebe einen Teil ihrer Kindheit aufgegeben. Verständnisfähigkeit und Reife waren an die Stelle von kindlichem Egoismus getreten.
Sie hatten den Zauber bedingungsloser Liebe erfahren dürfen. Toni winkte Ole hinterher, als dessen Zug abfuhr. Ohne Groll und Angst im Bauch wartete er auf seinen Bus.


Am Abend surfte er im Internet. Es gab eine Selbsthilfegruppe in Hamburg. Er las sich die Berichte der Website durch. Ob das etwas für ihn war? Peter Petersen hieß der Leiter der Gruppe. Toni grinste. Norddeutscher Name und nicht sehr einfallsreich. Eine Jugendgruppe gab es anscheinend nicht. Vielleicht sollte er diesen Petersen einmal anrufen. Fragen kosteten bekanntlich nichts und vielleicht hatte der eine Idee. So wie Ole ein Problem mit sich herumschleppte, so musste sich auch Toni etwas ausdenken. Möglicherweise war der Zeitpunkt gekommen, um sich Hilfe zu holen. Irgendwann musste er es seinen Eltern sagen. Toni verstand plötzlich, dass es um sein eigenes Leben ging und er dafür selber die wichtigen Entscheidungen treffen sollte. Und wenn sich dadurch unliebsame Veränderungen einstellten, waren die ein Teil seines Lebens und er würde einen Weg finden, damit umzugehen. Unter Kontakt fand er die Mailadresse. Gedanken verwirrten ihn. Was sollte er schreiben? Einfach die Wahrheit, sagte ihm die Stimme in seinem Kopf.
„Hallo Peter, ich bin sechzehn Jahre alt und Frau zu Mann transsexuell. Auf der Eisbahn bin ich erfolgreich als Junge aufgetreten, habe auch einen Freund gefunden, der aber nichts davon weiß. Meine Eltern wissen auch nichts. Kannst du mir helfen?“
Enter.
Toni zog sich aus, duschte und als er im Bett lag, wusste er, er hatte das Richtige getan. Er stellte sich verschiedene Reaktionen seiner Eltern vor, wenn er sich outete. Sie waren ihm bisher sehr aufgeschlossen und tolerant erschienen. Sein Vater hatte erst neulich von zwei transsexuellen Frauen in seiner Vorlesung erzählt und sprach mit Achtung und Respekt von ihnen. Seine Mutter pflichtete ihrem Mann bei. Einzig Onkel Bernd wird wahrscheinlich wieder die Nase rümpfen. Aber dem kann man es nie recht machen. Das sagte auch Tonis Mutter. Hauptsache Ole hält zu mir, dachte Toni an diesem bedeutungsvollen Abend.


Am nächsten Nachmittag lief er mit einem mulmigen Gefühl zur Eishalle. Als hätte er es befürchtet, wartete er vergebens auf seinen Freund. Ole erschien nicht. Toni trainierte nur wenig, blickte immer wieder zum Eingang. Aber seine Hoffnung, Ole zu treffen, erfüllte sich nicht. Er zog sich die Schlittschuhe aus und nahm sein Handy.
„Was ist los? Warum kommst du nicht?“, schrieb er voller Angst.
„Ich brauche noch Zeit. Ich melde mich wieder bei dir.“
Toni starrte auf die wenigen Worte. Tränen schossen in seine Augen. Es ist vorbei, dachte er und alle Erkenntnisse des letzten Abends im Bahnhof waren vergessen. Liebe war nur ein Wort. Das Gesprächsangebot Peter Petersens war in seinem E-Mail- Postfach. Er schrieb zurück und verabredete sich für übernächsten Freitag um 17 Uhr vor dem Hamburger Lokal, in dem sich die Gruppe traf. Verzweifelt packte er seine Sachen. Der kurze Weg nach Hause kam ihm wie eine Ewigkeit vor.


Toni schlief erst spät am Abend erschöpft ein. Er konnte seine immer wiederkehrenden Weinkrämpfe gerade noch vor seiner Mutter verbergen. Aber sich selbst zu belügen war nicht möglich. Der vermeintliche Verlust Oles hatte ihn zutiefst erschüttert. Er fühlte sich unendlich hilflos.
Am nächsten Morgen verrieten ihn seine verweinten Augen. Seine Mutter hatte dienstfrei, strich ihm wortlos übers Haar.
„Wenn du reden willst, ich bin immer für dich da“, versicherte sie ihm und gab ihrem Mann ein Zeichen, er möge sich heraushalten.
Die Tochter litt an Liebeskummer und sie als Mutter hatte es sofort erkannt. Das war nun Frauensache. Toni bemerkte die Fehldeutung seiner Mutter und kurzzeitig munterte sie ihn dadurch wieder auf. Es amüsierte ihn.


****

Auch heute fehlte Ole in der Eishalle. Stattdessen kam die Trainerin der kleinen Eislaufmädchen, die er in der Halle gesehen hatte, auf ihn zu und fragte nach seiner eisläuferischen Vorgeschichte. Toni antwortete zögerlich. Er lief nicht mehr wettbewerbsmäßig. Sie fragte, ob er Lust hätte, einigen Kindern beim Lernen zu helfen. Sie wollte ihm die Aufgaben vorgeben. Er könnte ihr assistieren. Spontan sagte er zu. Das Vertrauen der älteren Frau in ihn und die erwartungsvollen Augen der drei Mädchen stärkten sein angeschlagenes Selbstbewusstsein.
Fröhlich berichtete er am Abend seiner Mutter davon.
„Ich freue mich für dich. Dann waren die teuren Trainerstunden vielleicht doch nicht umsonst“, meinte sie. „Und, Tanja, kein Mann ist es wert, dass man sich die Augen ausheult. Das Leben geht weiter. Der Richtige wird auch für dich schon kommen.“
Fast hätte Toni aufgelacht. Wieder hatte sie gleichzeitig Recht und Unrecht. Trotzdem, was für Mädchen galt, musste für Männer ebenso gelten. Warum nicht auch für schwule Transmänner?
„Ist schon okay, Mama. Ich soll nächste Woche Freitag zu einer Freundin nach Hamburg kommen. Wir treffen uns um fünf Uhr am Dom. Darf ich? Ich fahre spätestens mit dem neun Uhr Zug heim.“
„Natürlich, der Hamburger Dom ist zwar nicht so groß wie unser Oktoberfest, aber er soll sehr schön sein. Amüsiert euch gut.“
Toni atmete durch. Das war also geklärt. Er hatte Zeit genug für das Gespräch und den Dom gab es tatsächlich. Vielleicht konnte er ihn auf einen Sprung besuchen.

Schade, er dachte an Ole und schluckte. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie zusammen über den Dom hätten schlendern können. In der Nähe lag die Eisbahn von Planten und Blomen. Toni versuchte verzweifelt den Gedanken an den Freund aus seinem Kopf zu schütteln. Aber es wollte ihm nur kurzzeitig gelingen. Ole hatte sich noch nicht wieder gemeldet. Toni dachte bei sich, dass er ein Gespräch über das Ende ihrer Beziehung wohl nicht überleben wird. Die Zeit heilt alle Wunden. Ole war seine erste große Liebe gewesen und gleichzeitig die erste Enttäuschung geworden. Sein Name geisterte weiterhin wie ein kleines Teufelchen in Tonis Gehirn umher, aber der Schmerz in seiner Brust ließ nach. Die Woche verging. Für den Freitag musste er die Trainingsstunde mit den Kindern absagen. Er hatte die Kleinen inzwischen in sein Herz geschlossen und die Trainerin hielt große Stücke auf ihn. Pünktlich wartete er am vereinbarten Treffpunkt in Hamburg.


Peter Petersen war selbst Frau zu Mann transsexuell und wusste, mit welchen Problemen es die Betroffenen zu tun bekamen. Gerade für Jugendliche war es schwer, die Eltern einzuweihen. Unermüdlich führte er Gespräche und versuchte die Mauer aus Angst und unnötigen Vorurteilen in den Köpfen der Menschen zu durchbrechen. Anders als in anderen Gruppen, trafen sich bei ihm beide Geschlechter. Es gab Männer, die mit weiblichem Geschlecht geboren waren und Frauen, die sich mit einem Männerkörper herumschleppen mussten. Nicht alle Erwachsenen, die in die Gruppe kamen, wollten sich operieren lassen. Viele lebten am Tage ihr biologisches Geschlecht aus und zogen sich am Abend für die Gruppe um. Gerade das männliche Geschlecht zeigte sich sehr erfinderisch. Homosexuelle kamen zu den Treffen, damit sich der Partner als Frau ausleben konnte. Peter schätzte die Erfahrung und das Verständnis, welches viele seiner Mitglieder mitbrachten. Wer ganz am Anfang stand, brauchte besonders Hilfe. In der Regel kamen Erwachsene. Doch durch das Internet stießen häufig schon Jugendliche auf die Gruppe. Peter vereinbarte grundsätzlich zuerst private Treffen mit den Minderjährigen und setzte sich mit ihnen in ein nahegelegenes Café. Meistens wussten die Eltern nichts von den Gefühlen ihrer Kinder und somit entbehrten diese auch der Zustimmung ihrer Erziehungsberechtigten zu einem solchen Gespräch. Andererseits arbeitete Peter für die Stadt als Sozialarbeiter. Keine staatliche Stelle durfte einem Kind oder Jugendlichen Hilfe verwehren. Neugierig wartete der fünfzigjährige studierte Soziologe auf seinen Gast. Es war der zweite transsexuelle Junge innerhalb von drei Wochen, der sich bei ihm gemeldet hatte. 


Toni musterte schon von weitem den durchtrainierten dunkelblonden Mann, der lässig in Jeans und blauer Blousonjacke auf und ab ging. Peter streckte Toni die Hand aus, als dieser auf ihn zutrat. „Hallo, du bist Toni? Ich bin Peter. Lass uns da drüben ins Café gehen. Die Jugendlichen treffe ich anfangs an öffentlichen unverfänglichen Orten mit Publikum. Ich muss mir ein Bild von dir und deiner Lebenssituation machen.“ Toni erwiderte den kräftigen Händedruck. „Ja, ist o.k. Ich bin froh, dass ich endlich den Mut gefunden habe, Rat zu suchen. Im Internet kann man sich einiges anlesen und Informationen holen. Aber es ist besser mit jemandem zu reden, der alles kennt und selbst durchgemacht hat.“ Das Café bestach im Sommer durch seine herrliche Lage am Fleet. Im Winter war nur drinnen geöffnet. Trotzdem konnte sich das Ambiente sehen lassen. Peter ließ seinem jungen Gast den Vortritt und folgte ihm zu einem kleinen Tisch in der rechten Ecke mit Blick aufs Wasser. Die Bedienung kam. „Für mich ein Kännchen Kaffee und du?“, fragte er. „Eine Cola, bitte“, antwortete Toni. „Du weißt, dass ich Sozialarbeiter hier in Hamburg bin und selbst mein Geschlecht vor zwanzig Jahren gewechselt habe?“, fragte Peter. Er wollte Vertrauen herstellen und Toni das Gefühl geben, auf Verständnis und Kompetenz zu stoßen. Der fuhr mit der Hand durch sein Haar. Er hatte den Hinweis sofort verstanden. „Ja, ich habe mir alles im Internet durchgelesen. Am besten, ich erzähle gleich von mir.“ Peter nickte. „Schieß los.“


Toni begann stockend mit seinem Lebenslauf und berichtete über seine Eltern. Es folgten seine komischen Gefühle und der Wunsch im anderen Geschlecht leben zu wollen. Schon als ganz kleines Kind wollte er lieber ein Junge sein. Die Mutter hatte seine Wünsche als Spiel angesehen und ihm auch Jungenkleidung und Spielsachen für Jungs gekauft. Irgendwann ließ sie es. Toni erzählte von einem Streit seiner Eltern, in dem sich der Vater beschwerte und meinte, seine Frau sollte dem Treiben ein Ende bereiten. Tanja wäre ein Mädchen und muss auch so behandelt werden. „Verstehst du nun, was ich fühle?“, fragte Toni. Sein Gegenüber lächelte. „Natürlich, ich ahnte es von Anfang an. Es ging mir ähnlich und ich treffe oft Jugendliche wie dich. Allerdings leben die häufig in weit schlimmeren Konstellationen. Dein Problem bekommen wir in den Griff. Wenn du möchtest, spreche ich mit deinen Eltern. Mach dir keine zu großen Sorgen. Wir sollten uns aber bald treffen. Es ist wichtig, dass sich deine Eltern nicht hintergangen fühlen und du offen mit ihnen reden kannst. Sie können dich nur unterstützen, wenn sie wissen, was mit dir los ist. Und ich möchte, dass du andere Jugendliche aus der Selbsthilfegruppe kennenlernst. Ihr müsst Erfahrungen, Wissen und Gefühle austauschen. Es wird dir helfen, zu wissen, dass du nicht allein bist. Auch deine Eltern finden auf diese Weise Ansprechpartner.“


Toni hatte aufmerksam zugehört. Seine anfängliche Unruhe legte sich. Peter war ein Mensch, zu dem er sofort Vertrauen fassen konnte. Erleichtert trank er seine Cola. Dankbarkeit war in seinen Augen zu lesen, was Peter freute. Oft machten sich gerade die jungen Leute viel zu viele Gedanken über ihr Comingout. „Weißt du, Transsexualität wird inzwischen offen in der Bevölkerung diskutiert. Wirkliche Ablehnung erfahren nur noch wenige. Das sind meistens erwachsene Männer, die ihre weiblichen Empfindungen erst im fortgeschrittenen Alter ihren Ehefrauen und Kindern outen. Wenn die Partnerin nie etwas von den heimlichen Gefühlen des Mannes ahnt, reagiert sie manchmal aus Angst vor gesellschaftlichen Repressalien sehr heftig. Ich habe schon in vielen Fällen vermitteln können. Früher gab es etliche Ressentiments gegenüber transsexuellen Menschen. Aber die Gesellschaft ist in den letzten Jahren sehr viel offener geworden. Heute kommen schon Kinder und Jugendliche zu uns. Da ist es wichtig, so schnell wie möglich die Eltern mit ins Boot zu holen. Es gibt medizinische Möglichkeiten, Kindern zu helfen, ohne bereits eine endgültige medizinische Entscheidung der Geschlechtszugehörigkeit herbeizuführen.“ Toni hatte davon gelesen und erzählte es Peter. „Die Spritzen, die die Pubertät heraus zögern, kommen leider zu spät für mich. Mein Körper ist voll entwickelt. Ich habe mir für die Brust einen Hüftgürtel gekauft, um sie abzubinden. Deshalb sieht es bei mir vorne flach aus. Und in der Unterhose trage ich einen künstlichen Gliedersatz. Das Schlimmste ist die Regel. Sie ist sehr schmerzhaft. Ich wäre froh, wenn ich sie nicht mehr bekäme.“ Peter nickte verständnisvoll. Er sah auf die Uhr. „Das müsstest du mit einem Frauenarzt klären. Es gibt Medikamente dagegen. Später setzt die Blutung aufgrund der männlichen Hormone von selbst aus. Das Treffen beginnt gleich. Willst du mit rüber kommen? Du brauchst dich nicht vorstellen. Wir haben aber einen Ehrenkodex, der besagt, dass alles, was in der Gruppe besprochen wird, auch dort bleibt. Vor allem über die Mitglieder darf ohne deren Zustimmung nichts nach außen dringen. Es beißt also keiner. Über deine Eltern sprechen wir später. Ich hab da eine Idee“, meinte Peter. 


Toni überlegte. Eigentlich war er hergefahren, um andere Transsexuelle zu treffen und sich Informationen über sein Problem zu verschaffen. Das Gespräch mit Peter war hervorragend verlaufen. Also konnte er gleich mit ihm gehen. Er atmete aus. „Ja, das tue ich. Ich bin sehr gespannt auf die anderen.“ „Gut, trink aus. Es ist nämlich jemand Neues in deinem Alter da. Ich habe ihn vor zwei Wochen getroffen. Ihr werdet gut zueinander passen.“

Comingout


Peter und Toni betraten das Lokal auf der anderen Straßenseite. Peter wickelte seinen blau-weißen HSV Schal vom Hals und schob seinen jungen Gast zielstrebig zu einem langen Tisch in einer der zahlreichen Fensternischen. Als Toni nichtsahnend über die Köpfe der zwölf Anwesenden blickte, erstarrte er augenblicklich. 


In der gegenüberliegenden Fensterbank stand ein Kaktus. Ein mittelgroßer grüner Kaktus mit zur Seite ausladenden Armen und unzähligen kleinen Stacheln darauf. Er steckte in einem ebenfalls grünen Übertopf. Toni konnte seine Augen nicht von der relativ unscheinbaren Pflanze in ihrem hübschen Friesentopf abwenden, denn genau vor dem Kaktus saß jemand, den er nur zu gut kannte. Sollte er auf der Stelle kehrt machen, verschwinden? In seinem Kopf schwirrten Gedanken umher. Er durfte nicht hier sein. Wie sah das aus? Wie nachspionieren! Warum bin ich nicht als Maus auf die Welt gekommen? , fragte sich Toni. Doch es war zu spät. Der andere hatte ihn entdeckt. 


Was wollte Ole in einer Selbsthilfegruppe für Transsexuelle? Tonis Schrecken war groß. Und Ole? Der starrte zurück. Angst kroch an ihm hoch, schnürte ihm die Kehle zu. Peter bemerkte nichts von den Qualen der beiden jüngsten Besucher. Er begrüßte seine Freundin Janine wie üblich mit einem Kuss, zog die Jacke aus und setzte sich neben sie. Toni stand noch immer vor dem Tisch und starrte Ole an. Inzwischen waren seine Augen auf die des anderen getroffen. „Was ist los? Such dir einen freien Platz!“, forderte ihn Peter auf. „Wir haben wieder einen jungen Gast und ich bitte euch, ihm Zeit zu lassen. Was gibt es Neues, Clarissa? Hat sich die Krankenkasse endlich gemeldet?“ Peter glaubte, Toni wäre schüchtern und wollte ihn der Aufmerksamkeit der anderen entziehen. Die hatten verstanden und taten so, als wäre Toni gar nicht da. 


Der Platz neben Ole war frei. Die beiden ließen sich nicht aus den Augen. Fahrig ging Toni um den Tisch herum, starrte sprachlos den Freund an. Der starrte zurück. Toni setzte sich. Eine Ewigkeit verging. Während sich alle anderen Peter zu wandten und in angeregte Gespräche vertieften, verfolgte eine der jungen Frauen am Tisch die beiden Jungen, die nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten, mit ihren Augen. Die Situation schien vertrackt und grotesk zugleich. Ole erholte sich als erster.
„Spionierst du mir etwa nach?“, fragte er. Seine Stimme hörte sich verärgert an. Das konnte Toni nicht auf sich sitzen lassen. Er erwachte aus seiner Lethargie. „Nein, natürlich nicht. Aber was machst du hier? Das sind Transsexuelle!“ Die Worte klangen vorwurfsvoll und abwertend, was gar nicht beabsichtigt gewesen war. Die junge Frau, die bisher amüsiert das kleine Schauspiel an ihrer Seite beobachtet hatte, konnte nun nicht mehr an sich halten. „Was heißt denn hier Transsexuelle? Das klingt aus deinem Mund wie eine Diskriminierung. Mäßige dich mal, Bürschchen!“ Ihre Empörung wirkte nicht gespielt. „Äh, nein, so war das doch nicht gemeint. Ich bin ja selbst so. Aber, … ich verstehe nicht, was mein Freund hier macht“, stammelte Toni schuldbewusst. Und setzte nach: „Du bist doch noch mein Freund, oder?“ Ole, welcher verschämt nach unten geblickt hatte, hob den Kopf. „ Ja, ja, natürlich. Aber, was willst du! hier?“ Tonis Wangen nahmen derweil einen rötlichen Schimmer an. „Ich habe im Internet nach Selbsthilfegruppen geschaut und fand Peters Mailadresse. Es ist das erste Mal, dass ich hier bin.“ 


Peter Petersen sah interessiert über den Tisch, als er seinen Namen hörte. „Was ist mit euch beiden? Kennt ihr euch? “, fragte er mit ruhiger Stimme. Toni atmete hörbar aus. „Das kann man wohl sagen. Wir haben uns auf der Eisbahn vor ein paar Wochen kennen gelernt. Ich dachte, er wäre ein völlig normaler Junge. Und dann war es plötzlich aus!“ Jetzt war die Verlegenheit bei Ole. „Nein, es ist nicht aus. Im Gegenteil. Aber ich hatte Angst, dass du Schluss machst, wenn du die Wahrheit über mich erfährst. Bitte, Toni, glaube mir. Ich liebe dich doch!“ Die letzten Worte waren kaum hörbar, aber sie verfehlten ihr Ziel nicht.
Sie hatten die Aufmerksamkeit der anderen erregt. Alle blickten zu den beiden. Eva, deren kleiner Einspruch auf fruchtbaren Boden gefallen war, schmunzelte. „Das ist ja niedlich. Ihr sprecht wie ein altes Ehepaar. Ihr seid also zusammen?“ Es war weniger eine Frage, als eine Feststellung. Eva zählte eins zu eins zusammen. Und das taten die anderen auch. „So einen Fall hatten wir hier noch nicht“, ließ sich Peter vernehmen. Eine der Frauen ergriff das Wort. „Also, ich würde sagen, wir stellen uns einander erst einmal vor. Ich bin Roswitha, fünfunddreißig Jahre jung und fühle mich seit frühester Kindheit nicht als Junge. Inzwischen habe ich beim Amtsgericht meine Anträge auf Vornamen-und Personenstandänderung eingereicht, mir zwei Gutachter gesucht und bei jedem bereits Termine gehabt. Zeitgleich bin ich bei einer Gynäkologin in Behandlung und erhalte weibliche Hormone. Ich möchte so bald als möglich operiert werden und bin dabei, einen passenden Chirurgen zu finden.“ Nach und nach begannen die „Alteingesessenen“ von sich zu erzählen. Als der letzte fertig war, bedankte sich Peter bei seiner Gruppe. Nun war es an der Zeit für Toni und Ole, etwas zu sagen. Während der Vorträge hatten sie einander unter dem Tisch an die Hand genommen. Sie sahen sich verliebt an. Den beiden stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Toni begann, erzählte von seinen komischen Gefühlen während der frühen Kindheit, welche sich wie ein roter Faden durch sein Leben zogen. „Das Hauptproblem sind meine Eltern. Die wissen noch nichts. Ich will sie nicht verletzen. Sie haben sich ja ein Mädchen gewünscht.“ Roswitha hatte aufmerksam zugehört. „Ich denke, dein Problem bist du selbst. Deine Eltern sind nicht bildungsfern und müssten sich schon aus beruflichen Gründen tolerant verhalten. Und sie wollen garantiert, dass du glücklich bist. Du solltest es ihnen bald erzählen. Peter ist Sozialarbeiter und arbeitet mit dem Jugendamt zusammen. Er kann dir helfen.“ Sie blickte zu Ole. „Das wird bei dir ähnlich sein, oder?“ Ole nickte. Die Überleitung war geglückt. Er hatte Angst vor dem Outing gehabt, aber dank Roswithas freundlicher Art und Direktheit, konnte er frei und ungezwungen sprechen.


„Meine Eltern denken ziemlich altmodisch. Alles, was nicht der Norm entspricht lehnen sie ab. Und mein Problem gehört leider dazu. Mein Vater ist leitender Angestellter beim Bauamt. Meine Mutter ehemalige russische Tänzerin. Sie trainiert junge Mädchen an der Ballettschule. Wenn meine Eltern herausfinden, dass ich trans bin, zerstöre ich ihre heile Welt.“ Es war sehr ruhig am Tisch geworden. Peter brach die Stille. „Ole, auch für dich gilt, was Roswitha gerade anmerkte: Deine Eltern sind nicht bildungsfern und sie stehen mitten im Leben.“ Ole nickte verhalten. „Ich bin tatsächlich gerne bereit, mit euren Eltern zu sprechen. Aber ihr solltet vorher den Anfang gemacht und sie vorbereitet haben. Ihr seid, was ihr seid. In kurzer Zeit habt ihr euer Abitur und seid Volljährig. Ihr entscheidet selbst, was richtig für euch ist. Wenn eure Eltern euch nicht verlieren wollen, kommen sie gar nicht umhin zu erkennen, dass sie sich mit eurer Problematik auseinander setzen müssen. Niemand braucht sich wegen seiner Transsexualität zu schämen. Es ist wichtig, dass ihr regelmäßig in eine Selbsthilfegruppe geht. Dort könnt ihr euch informieren und erleben, was bei einem Geschlechtswechsel zu beachten ist. Dort könnt ihr euch ausprobieren und mit allen sprechen, die schon weiter sind. Das müssen nicht wir sein, aber es bietet sich natürlich entfernungstechnisch an.“ Janine, die seit einigen Jahren eng mit Peter befreundet war und ihn unterstützte meinte, Informationen und Kontakte zu transsexuellen Männern, die bereits durch waren wären für die beiden unerlässlich.


„Es ist nicht allein das Outing. Ihr müsst wissen, was ihr wollt und euer Leben planen. Für die gerichtliche Vornamen-und Personenstandänderung müssen Anträge ans Amtsgericht gestellt werden, dazu könnt ihr die beiden Gutachter selbst benennen. Das setzt natürlich voraus, dass ihr sie bereits kennen gelernt habt und mit ihnen zurechtkommt. Ein Psychotherapeut muss euch eure Diagnose bescheinigen, damit ihr zum Endokrinologen gehen könnt. Da sind Blutuntersuchungen notwendig und mit dem Attest dürft ihr euch Hormone vom Arzt geben lassen. Auch das ist eine Wissenschaft für sich. Solange ihr noch minderjährig seid, müssen eure Eltern ihr Einverständnis geben. Nun ja, und dann steht ihr vor der Frage, was wird wann und in welchen Schritten wo operiert. Eventuell gibt es hinsichtlich der für euch geeigneten Operationsmethode kleine Diskussionen und Probleme mit der jeweiligen Krankenversicherung. Ihr wollt ja sicher nach dem Abi studieren und nicht zu lange mit der OP warten. Also, es gibt einiges für euch zu tun. 


Im Augenblick gibt es noch ein anderes Problem. Das Bundesverfassungsgericht hat Teile des alten Transsexuellengesetzes von 1980 für verfassungswidrig erklärt. Das war 2011! Inzwischen haben wir 2023. Es sind Anhörungen im Bundestag über eine Neufassung des Gesetzes im Sinne einer Änderung des Melderechts geplant. Wir sitzen derzeit etwas zwischen den Stühlen und auch wenn der Verwaltungsakt der Vornamen- und Personenstandänderung endlich einfacher geregelt wird, bleibt die Frage nach dem Umgang mit den Krankenkassen, weil die für medizinische Maßnahmen zu zahlen haben. “


Den beiden war bei den vielen Informationen schwindelig geworden. Da kam einige Arbeit auf sie zu. Peter lachte und beruhigte. „Bleibt ganz cool. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. Immer der Reihe nach. Wobei es im Laufe der Zeit auch mehrere parallel laufende Schritte geben wird. Ihr wachst hinein und ich denke, wenn euch eure Eltern unterstützen, habt ihr bald alles hinter euch.“ Toni überlegte. „Was sollen wir als erstes tun, Peter?“ „Runter kommen und in aller Ruhe darüber nachdenken, wie ihr es euren Eltern erklären wollt. Ihr seid beide Siebzehn, oder du, Toni, bist du nicht sogar erst Sechzehn?“ „Ich werde Ende des Jahres im Dezember siebzehn Jahre alt.“ Peter nickte. „Dann solltet ihr ohne die Erlaubnis eurer Eltern nicht herkommen. Es ist unsere vorderste Aufgabe sie mit ins Boot zu holen. Danach rate ich als erstes einen Psychotherapeuten aufzusuchen.“ Ole und Toni blickten sich verliebt in die Augen. Ein junger Mann stand auf und ging zu ihnen. Eva lächelte und rückte einen Platz weiter. „Ich habe schon darauf gewartet, dass du dich der beiden endlich annimmst, Stefan“, sagte sie. Der Angesprochene setzte sich neben Toni.


„Hallo, ich bin Stefan und bekomme seit einem halben Jahr Hormone. Im Augenblick suche ich alle in Frage kommenden Chirurgen auf, denn ich möchte möglichst schnell operiert werden und meinen Schwanz erhalten. Wobei ich zuerst meine Brust operieren lassen muss, denn sie ist leider sehr groß. Da muss ein Facharzt ran. Einen Termin habe ich im März im Marienkrankenhaus. Das ging mit dem medizinischen Dienst recht unproblematisch. Allerdings will ich die große OP einzeitig machen lassen und der Arzt kommt aus dem Ausland. Er hat in einer Berliner Klinik Belegbetten und rechnet privat ab. Die OP ist ziemlich teuer. Ich habe noch einige Diskussionen mit meiner Krankenkasse vor mir. Aber seine Ergebnisse sind hervorragend, die Komplikationsrate gering und man ist schnell wieder arbeitsfähig. Ein halbes Jahr später werden aus den Schamlippen die Hoden gebaut und eine Pumpe eingesetzt, damit das beste Stück stehen kann. Ich bin gottlob nicht allein. Mark und Frank gehören ebenfalls zum Transmann- Kreis der Gruppe, aber sie sind heute nicht hier. Die sind beide unterschiedlich weit und ich rate euch, euch uns anzuschließen. Ihr braucht unsere Fehler aus Unwissenheit nicht wiederholen und wir werden euch auf eurem Weg helfen. Natürlich nur, wenn ihr wollt!“


Ole und Toni hatten mit großen Augen zugehört. Beide nickten fast zur selben Zeit. „Ja, gerne. Das ist super nett. Wir haben hinsichtlich OP und Hormone noch überhaupt keinen Plan. Aber Janine hat Recht. Wir wollen nach dem Abi studieren und uns nicht mehr mit unseren Geschlechtsproblemen auseinander setzen müssen“, erklärte Toni. Ihm fiel eine schwere Last von der Seele. Hier war er richtig. Die Freude über die Anteilnahme der anderen hellte seine Miene auf, beflügelte und bewegte ihn zutiefst. Ole legte wie selbstverständlich den Arm um ihn. Auch seine Gefühle katapultierten ihn geradewegs in den Himmel zu den Sternen hinauf. Einen Moment lang waren alle Sorgen um die Eltern und das Comingout vergessen. Die Freude und Dankbarkeit lösten bei Ole Entspannung und beruhigende Gefühle aus. Stefan lächelte verständnisvoll. Es ging nahezu allen so, die viele Jahre mit ihrem Problem alleingelassen leben mussten und nun von einer Sekunde zur nächsten Zuwendung und Hilfsbereitschaft erlebten. Im falschen Körper war man als Transident eigentlich nicht. Zum Körper gehören noch mehr Teile als nur das Geschlecht. Aber man war mit dem falschen biologischen oder somatischen Geschlecht geboren worden. Einige störte das nicht. Sie arrangierten sich, lebten mal als Mann und mal als Frau. Oder sie sahen sich als androgyn an, also irgendetwas in der Mitte zwischen Frau und Mann. Wiederum andere fanden ihren eigenen Lebensstil, brauchten oder wollten keine Operationen oder Hormone.


In den westlichen Ländern konnte jeder so sein und nahezu so leben, wie er wollte. In den oft prüde wirkenden angelsächsischen Staaten wurde es zeitweilig für Transgender, Schwule und Lesben schwieriger, je nachdem, wie konservativ sich die jeweilige Regierung anstellte. Probleme bekamen Homosexuelle in den muslimischen Ländern, denn oft stand dort darauf die Todesstrafe. Man erlaubte aber den Männern sich zur Frau operieren zu lassen. Für die Betroffenen kam das einer Katastrophe gleich, denn sie waren keine Frauen und deshalb auch nicht transsexuell. Obendrein verloren sie nach der OP ihre gesellschaftlichen Rechte als Mann. Für junge Muslime blieb im Grunde nur die Flucht in tolerantere Staaten wie Deutschland. Ähnlich erging es Betroffenen in Russland oder Polen. Auch dort erfuhren Homosexuelle und Transidenten Ablehnung und Hass, was gerade für christlich geprägte Länder unverständlich war. Hatte Christus nicht Nächstenliebe und die Gleichheit aller Menschen gepredigt? Viel schien aus der Bibel bei den Priestern Polens nicht hängen geblieben zu sein. Stefan betrachtete nicht nur das heuchlerische Verhalten und die falsche Auslegung der Bibel seitens katholischer und orthodoxer Priester als Ärgernis, sondern es betrübte ihn auch, dass es in den als demokratisch bezeichneten Staaten etliche Leute mit dem „Transgendern“ übertrieben. Sie sorgten oft für viel zu viel Unübersichtlichkeit, schürten mit ihren Auftritten Ängste in der Bevölkerung, was den wirklich unter ihrer Geschlechtsproblematik leidenden Transsexuellen mehr schadete als nutzte.


„Es ist also jetzt das Wichtigste, unsere Eltern zu informieren, was meinst du?“, unterbrach Toni die Gedanken Stefans. „Ja, das denke ich. Wenn eure Eltern Bescheid wissen, gibt euch Peter die Anschrift einer Psychologin. Die braucht eure Krankenkassenkarte und muss feststellen, ob ihr Trans seid. Es gibt da geistige Erkrankungen, die sie ausschließen soll. Wenn ihr es wollt und alles okay ist, schreibt sie euch ein Attest für die Krankenkasse, welches ihr dem Endokrinologen vorlegen könnt. Der wird Blut abnehmen und euch irgendwann in der Folge die ersten männlichen Hormone verabreichen. Ihr müsst entscheiden, wann ihr euch operieren lassen wollt. Wenn ihr Hormone erhaltet, müssen die Eierstöcke innerhalb einiger Jahre raus, sonst können sich Tumore bilden. Danach seid ihr auf Testo angewiesen. Eure Papiere müssen umgeschrieben werden. Dazu braucht ihr den Beschluss vom Amtsgericht. Das ist ein Kapitel für sich. Ihr müsst, im Moment jedenfalls noch, zwei Gutachten erbringen, die euch die Transsexualität bescheinigen. Das kostet alles Geld und ihr braucht die Hilfe eurer Eltern in jedem Fall dafür.“ 


„Sollen wir mit der Tür ins Haus fallen, sagen, hallo Mum, hallo Dad, ich bin Trans und muss operiert werden?“ Stefan lachte auf, als er Toni hörte. „Wenn deine alten Herrschaften so gestrickt sind und diese Art von dir kennen, ok. Aber ich rate zu mehr Einfühlungsvermögen. Eltern denken oft, sie haben bei der Erziehung etwas falsch gemacht oder ihre Gene sind schuld. Das ist Quatsch. Peter wird ihnen alles einfühlend erklären. Als Sozialarbeiter und studierter Soziologe wird er die richtigen Worte finden. Dein Vater ist ein Professor?“ Toni nickte. „Für Geschichte, er wird umdenken und sich von Cäsar und Kleopatra verabschieden müssen.“ Peter, der interessiert und schmunzelnd zugehört hatte, stand ebenfalls auf und kam auf die drei zu. „Ich gebe euch eine Broschüre mit. Die ist kurz gehalten und erklärt alles Wesentliche zum Thema. Gebt euren Eltern das Heft und bittet sie, es zu lesen. Danach möchtet ihr mit ihnen darüber sprechen. Es ist wichtig für die Schule, könnt ihr sagen. Damit habt ihr nicht einmal gelogen. Alles Weitere wird euch einfallen. Erzählt von der Gruppe und von mir. Ich bin gerne bereit mit ihnen zu reden und versuche ihnen Vorbehalte und Ängste zu nehmen.“ Ole und Toni sahen einander an. Die Idee war gut. Janine schob zwei grüne Heftchen über den Tisch. Junge oder Mädchen stand in weißer Schrift auf grünem Untergrund. Darunter: Für alle Eltern, die plötzlich umdenken müssen.


„Was kostet das?“, fragte Ole. „Ein freundliches Lächeln“, antwortete Janine. „Die Broschüren wurden von der Bundesregierung gedruckt und sollen Eltern helfen, die Problematik besser zu verstehen“, erklärte Peter. Toni sah auf seine Armbanduhr. Es war zehn Uhr durch. Auf den Dom würden sie es nicht mehr schaffen. Er schob den Arm mit der Uhr zu Ole. „Wir sollten los, unser Zug fährt in einer halben Stunde. Wann ist das nächste Treffen hier?“ Janine antwortete: „In drei Wochen, bis dahin solltet ihr mit euren Eltern gesprochen haben.“ „Ihr könnt mich jederzeit per Mail kontaktieren. Meine Handynummer ist auch auf meiner Homepage zu finden“, warf Peter ein. „Gut, dann sagen wir ganz herzlichen Dank und freuen uns aufs Wiedersehen.“ Die beiden standen auf und winkten den anderen noch einmal zu. „Tschüss, ihr Helden! “ Eva sah den beiden schmunzelnd, aber auch sorgenvoll nach. Sie hatten noch einiges vor sich, dass wussten alle am Tisch. Janine runzelte die Stirn. „Was hast du?“, fragte Peter. „Ich weiß nicht, ob es ratsam ist, wenn die beiden bei der Psychologin und vor allem bei den Gutachtern von ihrem Verhältnis sprechen. Es kann der Eindruck entstehen, sie wollten sich nicht als Lesben outen. Zumindest unser alter Freund Dr. Alfons Tamensky wird sich in diese Richtung ereifern.“ „Ja, sicher, aber ich hatte nicht vor, ihn den beiden als Gutachter vorzuschlagen. Alfons ist so ziemlich der Letzte, den ich empfehle“, bemerkte Stefan. Janine atmete hörbar aus. „Dann ist ja gut. Wir werden hören, auf wen Dr. Stefan Körbers Wahl fällt.“ Sie löste großes Gelächter aus.


Dr. Tamensky arbeitete für das Gesundheitsamt und kam aus Ostdeutschland, wo man zu DDR Zeiten rigider mit transsexuellen Patienten umgegangen war, als im Westen. Er war bei der Gruppe unbeliebt, denn er pflegte seine transsexuellen Klienten zu provozieren und stellte ihnen negative Gutachten in Aussicht, wenn sie sich seinen Ideen widersetzten. Die Begutachtung bei ihm zog sich über viele Jahre hinweg, weil er für seine eigenen Vorträge und Expertisen Forschungsergebnisse suchte. In der Zwischenzeit hatten die Stammtischbesucher in der Hansestadt Ausweichmöglichkeiten gefunden. Es gab freundlichere Ärzte im Klinikum und in der Psychiatrie, die sich mit der Thematik gut auskannten. Ole und Toni kamen durch die Gruppe in beste Hände.


Der Bahnhof befand sich in der Nähe. Hand in Hand überquerten die zwei den Zebrastreifen. Außenstehende hielten sie für ein schwules Jungenpaar. Niemand nahm Notiz. Nur ein älterer Mann, der mit roter Nase auf dem Boden saß und ziemlich abgerissen zu sein schien, sprach sie an. Toni hatte gerade seine Seltersflasche in einem Zug geleert. „Hey, Kumpel, tust du ein gutes Werk und überlässt mir das Pfand?“ Toni blickte nach unten zu dem Alten. Mitgefühl und Wärme durchfluteten sein Herz. „Klar!“ Er gab ihm nicht nur die Flasche, sondern zog sein Portemonnaie heraus und steckte ihm zwei Euro zu. Ole nahm ebenfalls einige Geldstücke in die Hand. Der Mann strahlte. „Alles Gute und Gottes Segen für euch!“ Sie nickten. Das konnten sie gut gebrauchen. „Treffen wir uns morgen in der Eisbahn?“, unterbrach Toni die Stille. Ole sah ihn an. „Natürlich, ich bin um halb elf Uhr da. Hab noch Hausaufgaben zu machen und ich glaube, ich lege meinen Eltern das Heft auf den Frühstückstisch. Sie stehen spät auf und können sich damit befassen, wenn ich weg bin.“ Toni stimmte zu. „Das könnte ich auch tun, ich schreib ihnen noch einen Zettel und verabrede mich für den Abend mit ihnen. Am besten, ich ermutige sie zu einem Glas Wein. Die beiden genießen abends oft eine Flasche Rotwein und kuscheln auf der Couch.“ Ole konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. „In dem Alter kuscheln die noch? Das habe ich bei meinen alten Herrschaften noch nie gesehen!“ „Doch“, antwortete Toni, während sie in den Zug einstiegen. „Die benehmen sich manchmal wie Teenager.“


In der Bahn schlug Ole die Broschüre auf. Toni tat es ihm neugierig gleich. Die beiden waren so in ihre Lektüre vertieft, dass sie fast den Ausstieg verpasst hätten. Ein älterer Junge stieß Toni an. „Eh, Tanja, nicht lesen, aufpassen! Wir sind da!“ Toni schreckte auf. Auch Ole schloss sein Heft. Als der Zug hielt stiegen sie aus. Ole lächelte verschmitzt. „Aha, Tanja. Eigentlich ein hübscher Name für ein Mädchen!“ Toni sah ihn sofort bitterböse von der Seite an. „Und wie heißt du?“, knurrte er. „Olga“, antwortete sein Freund leise. „Auch nett!“ Toni legte spöttisch grinsend seinen Arm um Oles Schulter. „Danke, aber Ole klingt und passt besser. Lass uns das andere schnell vergessen. Der Abend war toll und ich hoffe, wir finden in unseren Eltern rasch Helfer.“ „Bis morgen, Ole!“ „Bis morgen, Toni. Und viel Erfolg.“ Auch Toni brauchte nicht lange warten. Einen Moment später saß er im Bus und betrachtete sein Handy. Schreck lass nach! Es war fast halb zwölf Uhr. Hoffentlich schimpfen Vater und Mutter nicht, dachte er zerknirscht.


Ängstlich schloss er die Wohnungstür auf. Seine Eltern saßen im Wohnzimmer und tranken den letzten Rest aus der Weinflasche. Toni zog die Schuhe aus und begrüßte sie. „Hallo Mum, hallo Dad, entschuldigt, ich hab den 9 Uhr Zug verpasst.“ „Keine Ursache, mein Schatz. Wir haben uns so etwas schon gedacht. Wie war es auf dem Dom? Wo sind die Zuckerstangen? Papa und ich warten schon den ganzen Abend darauf!“ Toni lächelte. Daran hatte er natürlich nicht gedacht. „Ich hab leider keine dabei, denn ich war nicht mehr auf dem Dom. Ich muss mit euch reden.“ Klaus und Anneliese Obermöller sahen sich an. „Ja, immer, mein Kind. Das hatte ich dir doch vor einigen Tagen schon beim Frühstück gesagt. Tanja, wir sind deine Eltern. Gibt es etwas, das wir wissen müssen? Wir beißen nicht und schimpfen auch nicht. Komm, setz dich und dann raus mit der Sprache.“ Klaus Obermöller holte ein Glas und schenkte seiner Tochter Cola ein. Irgendetwas hatte das Mädel, das spürte er deutlich und erfuhr gerade vor einer Stunde im Gespräch mit seiner Frau Bestätigung für seine Annahme. Liebeskummer, Probleme mit den neuen Mitschülern, dem Umzug, die neue Umgebung? Spürte seine Tanja am Ende Heimweh? Die beiden rätselten bereits den ganzen Abend. Da lag etwas in der Luft mit ihrem Kind, dass sie nicht fassen konnten. Aber Tanja hatte den Weg von selbst zu ihnen gefunden. Darauf konnten und durften sie stolz sein. Es gab oft Kinder, die ihren Eltern während der Pubertät nicht mehr vertrauten. Bei ihrer Tochter schien das nicht der Fall zu sein.


Dankbar nahm Toni das Glas. Er hatte Durst. Ihm war jetzt alles egal. Der Abend war blendend gelaufen. Die Selbsthilfegruppe hatte ihm Mut gemacht und Zuversicht gegeben. Alles wird gut werden. Da war er sich sicher. Ole und dessen Liebe komplettierten sein Glück. Er legte die Broschüre auf den Wohnzimmertisch. Klaus Obermöller blickte neugierig auf den Titel und erstarrte augenblicklich. Auch Anneliese ahnte, was das Heftchen der Bundesregierung für Sexualaufklärung zu bedeuten hatte. Vor ihrem geistigen Auge lief Tanjas Kindheit ab. Ein Junge! Tanja war kein Mädchen, an ihr war auch kein Junge verloren gegangen. Sie war einer. Ihre Tochter war ein Sohn. Die examinierte Krankenschwester fing an zu weinen. Ihr Mann hatte sich gefangen und eigene Schlüsse gezogen. An der Uni Hamburg gab es transsexuelle Studentinnen. Als Dozent wusste er darüber Bescheid. Und nun hatte es ihn persönlich getroffen. Seine Tochter war keine Tochter. Er dachte an ihre Kinderzeit und wie froh er über die Geburt seines Mädchens gewesen war. Klaus spürte wie eine riesige Welle über seinem Kopf zusammenschlug und sein ganzes Leben einmal von oben nach unten und zurück durchschüttelte. Da kam einiges auf die Familie zu. Allerdings deute er die Tränen seiner Frau zunächst falsch. „Liebling, ich bitte dich. Du bist als Krankenschwester in einem medizinischen Beruf und überdies nicht von gestern. Ebenso wenig wie ich. Transsexualität ist weder ansteckend, noch etwas, für das man sich schämen muss. Es kommt in allen Gesellschaftsschichten vor und in Deutschland ist das nur halb so wild. Außerdem leben wir jetzt im weltoffenen Hamburg. Aber selbst in München hätten wir kaum Probleme gehabt. Tanja, erzähl, Kind.“ Anneliese nahm sich ein Taschentuch und wischte sich die Augen ab. „Es geht nicht um das, was du denkst. Mir tut es leid, weil ich blind gewesen bin. Ich hätte das doch gerade durch meinen Beruf bemerken müssen!“


Toni starrte seine Eltern an. Hatten die etwa bereits begriffen, um was es ging? Seine Wangen glühten. „Ich war in Hamburg, das stimmt. Aber ich hatte einen Termin mit einem Sozialarbeiter, der mich zum Treffen in eine Selbsthilfegruppe für Transsexuelle mitnahm.“ Toni begann langsam und leise zu erzählen. Seine Gefühle aus der Kindheit kamen zur Sprache. Seine Mutter nickte, immer wieder liefen Tränen über ihr Gesicht. Toni berichtete vom Umzug, von der Eisbahn und von Ole. Er schloss mit den Ereignissen vor wenigen Stunden in der Selbsthilfegruppe.
„Peter Petersen ist Sozialarbeiter und leitet die Gruppe. Die Leute sind unterschiedlich weit mit ihrer Angleichung. Es heißt Geschlechtsangleichung und nicht Umwandlung, weil Körper und Seele bei der Geburt nicht stimmten. Es gibt viele Möglichkeiten, Transidentität auszuleben. Er will gerne mit euch sprechen und euch etwaige Ängste nehmen. Ich brauche wohl noch eure Erlaubnis, wenn ich einen Psychologen aufsuchen will und auch für die Gruppentreffen brauche ich euer Einverständnis.“ Klaus breitete seine Arme aus. „Komm mal her, mein Mädchen. Ich liebe dich. Berührungsangst habe ich keine, in meinen Vorlesungen gibt es zwei transsexuelle Frauen. Ich wäre ein ganz schlechter Lehrer, wenn ich mit dieser Problematik nicht umgehen könnte.“ Anneliese schluchzte. „Und ich bin anscheinend eine bescheuerte Mutter. Ich hätte das als Krankenschwester erkennen müssen. Ach, Schatz, wie hast du gelitten.“ Toni konnte vor so viel Zuwendung nicht an sich halten. Er heulte plötzlich wie ein Schlosshund. In wenigen Sekunden brachen die vergangenen sechzehn Jahre im falschen Geschlecht aus ihm heraus, entluden sich. Zwang, Angst und Unsicherheit, die ihn während seiner gesamten Kindheit und Jugend gequält hatten. „Danke, ich hatte solche Angst davor, es euch zu sagen, weil ich euch nicht enttäuschen wollte“, erklärte er. Der Vater löste sich, stand auf und nahm eine Flasche Obstler aus dem Schrank. Er sah seine Frau an und schenkte gleich zwei Gläser ein. Anneliese konnte jetzt ebenfalls einen Schnaps auf den Schrecken gebrauchen, glaubte er und sollte recht behalten. Sie nahm das Glas und trank es in einem Zug leer, um sich danach fürchterlich zu schütteln. Klaus genoss seinen doppelten sichtlich. Das tat gut. Wie ging es jetzt weiter? Er stellte die Frage seiner Tochter.


„Ich weiß noch nicht. Ich muss erst mit Ole darüber reden. Aber in drei Wochen ist wieder Gruppentreffen und es wäre schön, wenn wenigstens einer von euch mitkäme. Vielleicht kann Peter uns vorher besuchen. Er weiß so viel. Ich muss zum Psychologen und zur Krankenkasse. Die Geburtsurkunde muss umgeschrieben werden, dazu sind Gutachten für das Amtsgericht nötig.“ Anneliese stutzte. „Wieso, was hat denn deine Geburtsurkunde damit zu tun?“ „Na, ich bin sechzehn Jahre alt, werde Siebzehn und brauche einen Personalausweis für Erwachsene. Darauf würde jetzt noch der Mädchenname stehen. Ohne Geburtsurkunde kann man das nicht ändern, ist eigentlich logisch“, klärte Toni seine Mutter auf. Die erschien immer noch begriffsstutzig. „Warum willst du deinen Namen ändern, Tanja ist doch hübsch? Papa und ich haben uns damals so viel Mühe damit gegeben, dir einen schönen Namen auszusuchen und du heißt Tanja Maria Sophie Charlotte, nach deinen beiden Omas. Die wären aber sehr enttäuscht, wenn sich daran etwas ändert.“ Klaus hatte wortlos zugehört und seine Blicke hingen gebannt an Toni. Er versuchte klar zu denken und das Bild in seinem Kopf einzuordnen. Die beiden Studentinnen in seiner Vorlesung kamen weiblich gekleidet in die Uni und sprachen beide mit einer dunkleren Stimme als es die anderen Frauen taten. Sie sahen herber aus und Klaus musste sich mit Beginn des neuen Semesters von diesen Äußerlichkeiten lösen. Sie waren Frauen, obwohl sie noch nicht operiert waren. Beide benutzten die Damentoilette und sie wurden mit Frau angesprochen. Charlene und Sandra hießen sie. Obermöller schüttelte den Kopf. Mit kühlem Sachverstand hatte er die Situation analysiert. Das war kein Mädchen mehr vor ihm. Da saß ein männlicher Jugendlicher, ein Junge, zu dem der Name Tanja nicht passte. Als ihn die Erkenntnis traf, kullerten dem gestandenen Mann, den nichts so leicht erschüttern konnte, ebenfalls Tränen über die Wangen.


Toni hatte seinen Vater noch nie weinen sehen. Doch, er erinnerte sich. Einmal, als Opa Georg starb, da weinte Papa auf dem Friedhof. Aber das war schon lange her. Er schlang erschrocken die Arme um seinen Vater. Toni fühlte sich schuldig. Oh je, was hatte er nur angerichtet? Es war Mitternacht vorbei und seine ganze Familie saß im Wohnzimmer und heulte. „Es ist gut, mein Junge“, sagte Klaus und schob die Arme seines Sohnes zur Seite. Mit einer Tochter schmuste der Vater, mit dem Sohn nicht. So einfach war das für ihn. Annelieses Augen vergrößerten sich stetig, während sie auf die Reaktion ihres Mannes achtete. Langsam wurde auch ihr die Tragweite des Augenblicks bewusst. Ihre kleine Tanja war soeben hier im Wohnzimmer auf der Couch vor ihren Augen gestorben. So schien es ihr. Ihr Mädchen lebte nicht mehr. Dort saß ein Junge. Ein fremder Junge, von dem sie bisher noch nie etwas gehört hatte. Wer war er? Wie hieß er? Aber er war trotzdem ihr Kind. Sie hatte ihn vor sechzehn Jahren geboren. Sechzehn Jahre, die auf einmal allesamt verschwunden waren. Ihre kleine Tanja lebte nur noch in der Erinnerung. Und sie konnte sich noch nicht einmal von ihr verabschieden! Anneliese wimmerte fassungslos.


Toni nahm nun seine Mutter in die Arme, küsste sie. „Es ist gut, Mama, ich bin bei dir, es ist alles in Ordnung.“ Er drehte sich zu Klaus. Die beiden sahen einander in die Augen. Etwas vollkommen Neues war im Begriff zu entstehen. Ich bin doch sein Mädchen, warum sieht er mich so komisch an? , dachte Toni. Mädchen? „Papa?“ „Da kommt einiges auf uns zu, Anneliese. Und auch für dich wird sich eine Menge ändern, mein Sohn. Stell dir das nicht so einfach vor. Wir müssen uns komplett neu orientieren. Du bekommst einen anderen Namen und ein völlig neues Leben!“ Toni blickte von einem Elternteil zum anderen. Er hatte sich Toni genannt, weil das an Tanja erinnerte, zumindest blieben damit seine Initialen erhalten. Toni hatte ihn all die Jahre über treu begleitet. Der Name war so etwas wie ein Freund für ihn geworden, aber er hatte ihn bisher nur mit Ole geteilt. Und in der Gruppe, mit Peter und den anderen. Das hier aber war anders. Hier saßen seine Eltern, die nun statt einer Tochter einen Sohn bekamen. Das muss entsetzlich für sie sein, schoss es Toni durch den Kopf. Und wie heiße ich denn nun wirklich? Darf ich mich Toni nennen, will ich mich so nennen? Es ist nichts Heimliches mehr. Der neue Name wird in der Geburtsurkunde stehen und ich werde als Junge leben. In Tonis Kopf ratterten die Gedanken.
Klaus genehmigte sich noch einen Schnaps und sah belustigt zu seinem künftigen Sohn. Anneliese wehrte ab, bevor er sie fragen konnte. Ein Glas von dem schrecklichen Zeug reichte ihr. „Das Leben verlangt einer Frau etwas anderes ab, als einem Mann. Daran ändert sich auch bei Transsexuellen nichts. So, wie ich die beiden Frauen in meiner Vorlesung als Frauen behandle, behandle ich die jungen Männer entsprechend anders. Wir werden das Schmusen einstellen. Dafür hast du jetzt deine Mutter. Wir werden uns an ein neues Wir-Gefühl gewöhnen müssen. Ein Vater schmust mit seinem Sohn nur, solange der ein Kleinkind ist. Später spielen sie Fußball oder Eishockey zusammen und es kommt der Tag, an dem der Vater mit seinem Sohn das erste Bier trinkt.“ Klaus wollte aufstehen und besann sich. „Geh mal in die Küche und hole zwei Flaschen Pils. Du hast jüngere Beine!“ Toni tat völlig verstört, was der Vater wollte. Ihm dämmerte es. Ob sich Ole eigentlich bewusst war, was sie als Männer erwartete? Als die Flaschen auf dem Tisch standen, öffnete Klaus die seine und reichte den Öffner an Toni weiter, schenkte sich ein. „Prost, mein Sohn! Das wird natürlich nicht jeden Tag passieren, du wirst offiziell weiter Cola trinken, zumindest bist du Achtzehn bist. Danach kann ich dir nichts mehr vorschreiben. Aber heute zur Feier der Nacht, werden wir unsere Beziehung neu definieren. Hast du dir einen passenden Vornamen ausgesucht oder haben deine alten Eltern ein Mitspracherecht?“ Toni hatte schon oft Bier getrunken. Es schmeckte ihm und wenn sie es zum Dom geschafft hätten, wäre dort mit Ole eines fällig gewesen.


Er erwiderte, noch etwas unsicher in seiner neuen Rolle: „Prost, Papa. Es ist nicht das erste Bier für mich, aber das erste mit dir. Und ich muss mich in der Tat daran gewöhnen, nicht mehr deine Tochter zu sein. Es ist ein Unterschied von etwas zu träumen und in Gedanken durchzuspielen, als es in der Realität zu erleben. Ich hatte mir den Namen Toni gegeben, weil die Initialen blieben. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt und Ole, sowie die Gruppe sprechen mich so an. Aber wenn es euch nicht gefällt, können wir darüber reden.“ Anneliese setzte sich auf. „Papa heißt auch Toni. Klaus, Georg, Alois, Toni Obermöller. Ich weiß das noch ganz genau, weil der Pfarrer alle Vornamen bei unserer Trauung in der Kirche vorlas. Also, ich finde Toni nett. Georg hieß dein Opa und Florian heißt dein anderer Opa. Toni, Georg, Florian Obermöller, das klingt gut. Dann haben wir jetzt auch einen Stammhalter. Allerdings, wie ist das überhaupt? Wenn du operiert bist, kannst du doch nicht richtig Vater werden? Aber man kann heute Eizellen einfrieren. Darüber müssen wir später mit dem Arzt sprechen. Ich möchte ein Enkelkind von dir haben! Ob du Vater oder Mutter bist, ist mir egal. Hauptsache gesund! Klaus, ich nehme doch noch einen Schnaps, aber nicht so viel, wie beim letzten Mal, bitte!“ Ihr Mann griff die Flasche. „Toni gefällt mir. Wir dürfen auch vier Vornamen wählen. Wenn du von Anfang an ein Junge gewesen wärst, hätte ich dich Martin genannt.“ „Schön, Toni, Georg, Florian, Martin Obermöller. Das passt zur Familie. Da hab ich doch glatt heute Nacht ein Kind geboren, allerdings ohne Geburtsschmerz. Das war lange nicht so anstrengend, wie beim ersten Mal. Prost, meine Herren!“, meinte Anneliese, die den Schnaps inzwischen spüren konnte.


Ihr frischgebackener Sohn wurde müde. Das ungewohnte Bier zeigte Wirkung. Er gähnte. Klaus goss seiner Frau ein weiteres Betthupferl ein, genehmigte sich selbst sogar einen doppelten Obstler und meinte lakonisch: „Es ist spät geworden. Morgen ist Samstag. Mama hat frei, ich habe frei und das Wochenende ist zum Pläne schmieden lang genug. Ab ins Bett, Familie Obermöller! Lass alles stehen Anneliese und komm. Aufräumen können wir morgen.“ Toni stand auf, drückte seinen Vater und gab der Mutter einen Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, ich hab euch beide ganz doll lieb. Danke für alles.“ Um halb zwei Uhr lag er im Bett und war wenig später tief und fest eingeschlafen.
Am anderen Morgen genoss die Familie das Wochenende, indem alle länger als sonst im Bett blieben. Toni schlug um halb acht Uhr die Augen auf und dachte an den vergangenen Abend. Freude und ein leichtes Unbehagen vermischten sich. Freude darüber, dass es die Eltern so gut aufgenommen hatten und auch Ole nun zu ihm gehörte. Unbehagen, weil ihm die vielen Informationen einfielen, die er in der Selbsthilfegruppe erfahren hatte. Toni war bisher selten krank gewesen. Und wenn, dann nur erkältet oder er musste sich von kleinen Verletzungen, die er sich beim Eislauf zugezogen hatte, kurieren. Der Hausarzt und ein Orthopäde waren die einzigen Ärzte, die er bislang kennen lernen musste. Psychotherapie? Er schüttelte sich. Was macht so jemand? Ich bin ein Junge, dachte er. Ich lasse mich nicht umpolen. Eine diffuse Angst hatte sich eingeschlichen. Gutachter und das Amtsgericht hörte sich auch nicht spaßig an. Er stand auf, ging ins Bad um sich zu duschen. Danach zog er sich an und trug bereits seine Trainingskleidung, als er auf einem Bein abwechselnd die Treppe hinunter hüpfte. Seine Mutter deckte den Frühstückstisch. „Papa ist zum Bäcker unterwegs. Gleich gibt es frische Brötchen, meine Süße.“ Toni küsste seine Mutter. Die besann sich. „Oh, ich muss wohl mein Süßer sagen. Ach, Tanja, Toni, ich werde sicher eine Zeitlang brauchen, um mich umzustellen. Bitte hab etwas Geduld mit deiner alten Mutter. Der Umzug und die neue Arbeitsstelle, die fremden Menschen und nun deine Sache! Dass muss ich erst einmal verkraften. Ich bin gespannt, was dein Onkel Bernd von sich gibt. Aber vielleicht erzählen wir es ihm noch gar nicht. Ich würde gerne mit dem Sozialarbeiter sprechen.“ 


Anneliese hatte sich inzwischen hingesetzt. Toni öffnete den Kühlschrank, stellte Aufschnitt und Käse auf den Tisch. Er sah auf die Uhr. Die Eier kochten bereits. „Nimm sie ruhig raus, Papa mag sie weich“, ließ sich die Mutter vernehmen. „Mir geht auch viel im Kopf herum, Mum, mache dir keine Sorgen. Wir schaffen das!“ Anneliese dachte bei diesem Satz an die berühmten Worte der Kanzlerin und begann zu lachen. Die Tür wurde aufgestoßen und Klaus kam prustend herein. „Ich muss dringend wieder Sport treiben“, ächzte er. „So weit ist es gar nicht zum Bäcker. Aber ich bin einfach zu faul geworden. Guten Morgen, Mäuschen.“ Klaus wollte Toni einen Kuss auf die Wange geben, wie üblich. Er hielt inne. „Ne, da sitzt, wenn ich das richtig betrachte, eher ein Mäuserich. Ich nehme den Kuss zurück. Hier sind die Brötchen. Wir können mal zusammen joggen. Also, guten Morgen, mein Sohn!“ Toni packte die Tüte aus und verteilte die Brötchen. „Alles, okay, Dad. Mach dir keinen Kopf. Es ist auch für mich ungewohnt. Ich treffe nachher Ole, bin gespannt, was er sagt. Er musste es seinen Eltern ebenfalls beichten.“ „Was machen die?“, fragte Anneliese routinemäßig. Klaus schmierte sich Butter auf seine Körnerbrötchen und spitzte interessiert die Ohren.


„Sein Vater ist beim Bauamt und seine Mutter ist Tänzerin. Sie kommt aus Russland und trainiert die Kinder an der Hamburger Ballettschule“, erzählte Toni. „Mehr weiß ich auch nicht.“ Anneliese schenkte ihrem Mann Kaffee ein. „Vielleicht sind es nette Leute und wir lernen einander kennen. Die wird es sicher genauso überrumpeln wie uns. Geteiltes Leid ist halbes Leid, meinte Oma immer.“ Toni nickte. Es war sein erstes Frühstück in der neuen Rolle als Junge, wurde ihm grad bewusst. Er war neugierig, wie es Ole anstellen wollte, die Eltern aufzuklären. „In Russland steht man Homosexualität nicht positiv gegenüber und ich weiß nicht, wie das bei Transsexualität ist. Hoffentlich können sie damit umgehen. Du darfst Ole gerne mit nach Hause bringen, Tan…Toni“, meinte der Vater und schlug genüsslich sein Ei auf. „Das tue ich. Wir treffen uns um halb elf Uhr in der Eishalle“, antwortete dieser.
Die Gesprächsthemen wechselten. Die Familie hörte Nachrichten im Radio, während die Zeit verging. Um halb zehn Uhr war der Morgenkaffee bei Obermöllers beendet. Toni half seiner Mutter wie immer dabei, den Tisch abzuräumen. Danach ging er nach oben in sein Zimmer und legte sich einen Moment aufs Bett. Die Augen fielen ihm zu. Seine Mutter stand im Zimmer, als er erwachte. „Es ist gleich halb elf Uhr? Wann wolltest du auf dem Eis sein?“ „Oje, ich habe verpennt. Danke, Mum.“ Toni sprang auf und nahm seine Schlittschuhe. Er joggte die zehn Minuten Fußweg zur Eishalle und machte sich auf diese Weise warm. Gottseidank, Ole war noch nicht da und er somit noch nicht zu spät gekommen. Die kleinen Mädchen aus seiner Trainingsgruppe begrüßten ihn lachend. Toni dachte an nichts mehr. Kaum, dass er seine Schlittschuhe angezogen hatte, begann er sich mit langgestreckten Beinen zu dehnen, legte die Füße auf die hohe Bande und schob die Arme weit nach vorne. Er sprang danach aufs Eis, lief sich wie die anderen ein. Sie hatten Glück. So früh war die Eisbahn selbst am Samstag noch nicht voll besucht. Toni trieb die Kinder an, zeigte ihnen, wie sie sich einlaufen sollten.


Ihre Trainerin hieß Cornelia und unterrichtete Deutsch am Gymnasium. Sie kam immer etwas später und überließ den Trainingsbeginn gerne Toni, auf den sie große Stücke hielt. Er besaß Disziplin und Ausdauer, Mut und Durchhaltevermögen. Alles Tugenden, die ein Eisläufer brauchte, um erfolgreich zu sein. Die drei Mädchen waren noch jung und sollten sich auf die Wettbewerbe gut vorbereiten. Toni vertiefte sich in seine Arbeit. Die Zeit verging. Dass sein Freund Ole noch nicht eingetroffen war, bemerkte er in der folgenden Stunde nicht. Cornelia stand in der Zwischenzeit ebenfalls auf dem Eis und lenkte das Training zielgerichtet. Auch Toni gehörte nun zu ihrer Gruppe und sie ließ ihn immer wieder den Rittberger und den Salchow springen. Cornelia korrigierte. Toni fühlte sich in seine Kinderzeit zurückversetzt. Er kannte nichts anderes, als dem Trainer zu gehorchen und seine Übungen ständig zu wiederholen, bis jede seiner Bewegungen wie im Schlaf funktionierte. Den doppelten Axel sprang er sicher und Cornelia hatte ihn mit dem Handy gefilmt um den Kindern die wichtigsten Grundlagen dazu zu zeigen. Sie erkannte schnell Tonis großes Talent. Er war für den Wettkampf nun fast schon zu alt geworden und als Einzelläufer wird er die für das internationale Parkett notwendigen vierfachen Sprünge nicht mehr schaffen. Und doch sollte er den Rittberger und den Salchow noch dreifach trainieren. Als Übungspartner für die kleinen Mädchen war er für den Paarlauf ideal. Sie wollte ihren Schützlingen einige wichtige Paarlauf Figuren beibringen und eines ihrer älteren Mädchen aus Hamburg dazu holen. Julia schien mit ihren dreizehn Jahren eine hervorragende Partnerin für Toni zu sein. Sie nahm ihn nach dem Training zur Seite und erzählte, was sie vorhatte.


„Das ist eine große Chance für dich, Toni. Im Paarlauf musst du nur ein-oder zweimal dreifach springen. Die Wurfsprünge und Hebungen lernst du mit Julia. Sie ist genauso fleißig und eifrig wie du. Ihr werdet euch gut ergänzen. Ich möchte, dass du in den Hamburger Verein eintrittst, damit ich euch zu Wettbewerben anmelden kann. Wenn ihr die erforderlichen Sicherheiten und Qualifikationen habt, geht es mit den Deutschen Meisterschaften weiter. Was sagst du?“ Uff. Toni kämpfte mit seiner Kondition. Die kleinen Mädchen waren leicht. Er konnte sie problemlos heben. Aber eine Dreizehnjährige? „Wie schwer ist sie? Sie darf weder Gummibärchen noch Schokolade essen, das krieg alles ich. Ich brauche mehr Kraft und Kondition!“, meinte er und senkte verlegen den Kopf. Cornelia atmete zufrieden aus. „Für dich gilt Laufen, Leichtathletik und Muckibude, weder Schokolade noch sonst irgendwelche Naschis. Julias Gewicht überwache ich“, erklärte die resolute achtundvierzigjährige Eislauftrainerin. Toni war nicht abgeneigt. Er liebte das Eis so sehr und die Vorstellung wieder Wettbewerbe bestreiten zu können, erfreute und beflügelte ihn. Aber da gab es ein gewaltiges Problem, das seine Rückkehr in den Leistungssport erschwerte, wenn nicht sogar verhinderte.
„Conni, ich ziehe mich um und dann gehen wir rüber ins Eiscafé. Ich muss etwas sehr wichtiges mit dir besprechen.“ Toni musste Farbe bekennen. Ole war immer noch nicht da. Vielleicht hatte der gerade ein Gespräch mit seinen Eltern, dachte Toni. Er wird mich anrufen. Conni ist jetzt wichtiger. Ich muss mich outen. Kann ich eigentlich ohne OP als Mann laufen? Er war neugierig, wie seine Trainerin die transsexuelle Problematik aufnahm. Als sie die Eishalle verließen, kam Ole angerannt. Die beiden Jungen lagen sich kurz in den Armen. „Sorry, aber ich hatte ein ziemlich heftiges Meeting mit meinen Eltern!“ Toni hob die Hand und wischte dem Freund erleichtert über den Haarschopf. „Das hatte ich bereits gestern Nacht und das erste Bier mit meinem Dad getrunken. Ich muss mit Cornelia reden. Kommst du ohne mich klar?“ Ole grinste. „Gerade noch. Werde mir nicht untreu!“

Eine zweite Karriere


Cornelia Enders verdiente sich ihre Brötchen als Deutsch und Sportlehrerin am Gymnasium. Eiskunstlauf betrieb sie von Kindesbeinen an und hatte es zu beachtlichen Leistungen, wie die mehrfache Teilnahme an den deutschen Meisterschaften und einem achten Platz bei den Europameisterschaften gebracht. Nach und nach erwarb sie alle wichtigen Trainerlizenzen. Sie betrachtete lächelnd die beiden Jungs. Toni zeichneten weiche Züge im Gesicht aus und auch Oles Erscheinung erinnerte mehr an einen Knaben, als an einen siebzehnjährigen Jugendlichen. Sie dachte sich nichts Besonderes dabei, sah nach links und rechts, um mit ihrem Schützling die Straße gefahrlos überqueren zu können. Gegenüber der Eishalle hatte vor längerer Zeit ein Eiscafé eröffnet, welches sich bei Sportlern und Besuchern großer Beliebtheit erfreute. Cornelia kannte die derzeitigen Kunstläufer der Meisterklasse. Ihre Trainingseinsätze führten sie oft nach Oberstdorf und nach Dortmund in die Leistungszentren. Überdies war eine gute Freundin Russin und inzwischen in Moskau als Trainerin tätig. Pubertätsprobleme der jugendlichen Läufer gehörten zu ihrem täglichen Brot. Jungen brauchten oftmals durch den Sport länger, um sich körperlich zu entwickeln. Bei den Mädchen war das um ein Vielfaches mehr zu beobachten, denn Leistungssport konnte sich auf die Pubertät auswirken. Regelblutung und Brustwachstum verzögerten sich. Die Mädchen beherrschten recht schnell alle Sprünge und brachten im frühen jugendlichen Alter im technischen Bereich hervorragende Leistungen. Setzte dann die Entwicklung ein, kam es nicht selten zu einem Einbruch, weil Wachstum und weibliche Rundungen Körperschwerpunkt und Kräfteverhältnisse auf den Kopf stellten. Als Folge wurden die einst gut beherrschten Sprünge unsicher.
Nicht wenige hoffnungsvolle Mädchen fühlten sich den Anforderungen im internationalen Sport nicht gewachsen und wollten wieder aufhören. Jungen blieben etwas weiblicher in ihren Bewegungen. Es kam ja nicht nur auf Sprünge an, sondern dazu auf den künstlerischen Eindruck. Tanzen sowie Ballett gehörten zur Ausbildung eines Kunstläufers dazu. Die Pubertät brachte die Männer durch das Wachstum zwar durcheinander, konnte aber als positiven Effekt mit dem Muskelaufbau punkten. Sprünge wurden von den Jungs naturgemäß höher und leichter ausgeführt. Der dreifache Axel gehörte bei den Herren seit langem zum Standard und viele Jungen beherrschten vierfache Sprünge. Trotzdem gab es in Europa nur wenige gute Kunstläufer, was teilweise an fehlenden Ausbildungskapazitäten lag, andererseits aber durch „gute“ Freunde begünstigt wurde. Jungs litten unter Mobbing durch Klassenkameraden, die, wenn sie Eishockey spielten, Kunstläufer oft und gerne neckten. Das geschah in Hockeyhochburgen erbarmungslos und trotz guter Trainingsbedingungen blieb der Kunstlauf dort eine Mädchendomäne. Die Beziehung zwischen Toni und Ole war unübersehbar. Cornelia vermutete eine homosexuelle Veranlagung.
Sie lächelte in sich hinein. Das war bei diesem Sport nichts Ungewöhnliches und sogar russische Läufer konnten sich tänzerisch ausleben, wenn sie ihre gleichgeschlechtlichen Freundschaften geheim hielten. Sie bestellte Kaffee, als sich die zwei an einem abseits gelegenen Tisch zusammensetzten. Toni hatte sich auf eine heiße Schokolade gefreut und konnte zwei zusätzlichen Eiskugeln nicht widerstehen. Leise begann er zu erzählen und sah seine Trainerin dabei an. Die Überraschung stand Conny buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Toni und Ole waren also transsexuell. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie lehnte sich sprachlos im Stuhl zurück. Die Verkäuferin hätte mit ihrem Tablett voller Leckereien keinen günstigeren Zeitpunkt wählen können. Der Kaffee kam gerade richtig. Gab es vergleichbare Fälle im Sport? Ja, beim Stabhochsprung. Der junge Mann hatte ein Buch über sein Leben verfasst. Aber er war als Mann nicht wieder in den Leistungssport zurückgekehrt. Cornelias Gehirn begann fieberhaft zu arbeiten. „Also, als ich dich mit Ole sah, hatte ich etwas Schwules im Sinn. Das ist im Grunde kein Problem und kommt in allen Staaten in unserem Sport vor. Es gibt schwule Einzelläufer und einer der kanadischen Paarläufer outete sich vor einiger Zeit. Er wurde nicht nur zweimal Weltmeister, sondern auch Olympiasieger mit dem Team 2018.“ Toni nickte mit dem Kopf. Er kannte die Geschichte und wusste auch von einem Transsexuellen beim Stabhochsprung. „Ich weiß, aber ich wechsle mein Geschlecht und will als Mann weiter laufen. Das ist etwas anderes.“ Cornelia dachte nach. Eine weibliche Sportlerin trat in diesem Fall in den Männerkader über. Ein Mann braucht männliche Hormone, der Dopingvorwurf konnte natürlich keinen Bestand haben. „Umgekehrt wäre es problematischer. Es gibt in Deutschland weibliche Sportler, die ihr Geschlecht anpassten. Allerdings wurden die in der DDR mit Testosteron behandelt und konnten als Frauen nicht mehr weiter leben. Das sind tragische Fälle und bei chinesischen Schwimmerinnen gab es massive Dopingvorwürfe. Bei dir ist das nicht so. Du bist psychisch ein Mann und dein Körper wird aus gesundheitlichen Gründen vermännlicht. Wir verheimlichen nichts. Ich regle das mit dem Verband. Es wird ohnehin noch dauern, bis du mit Julia National starten kannst. Auf Hausturnieren ist das egal. Du trittst ja in männlicher Rolle auf und nicht als Frau. Ich werde mich sofort schlau machen. Das ziehen wir durch. Du hast ein so großes Potenzial und Talent. Ich will dich mit Julia zusammenbringen. Auf gutes Gelingen, Toni!“
Cornelia hob die Tasse und prostete ihrem Schüler zu. Sie war guter Dinge. „Auf guten Sport, Conny!“ Mit Kakao stieß Toni mit seiner Trainerin an. „Ich muss zuerst zum Psychologen und mir ein Attest für die Hormonbehandlung holen. Danach brauche ich zwei Gutachter für den Antrag auf Vornamens-und Personenstandänderung beim Amtsgericht. Erst, wenn die Gutachten fertig sind, bekomme ich einen Beschluss vom Gericht und darf damit meine Geburtsurkunde ändern lassen und einen Erwachsenenausweis bestellen. Vielleicht schaffen wir alles in einem Jahr und ich darf mir auch bald die Brust operieren lassen. Ich hab gottlob nicht so viel. Im Dezember bin ich siebzehn Jahre alt. Wenn alles klappt, habe ich im nächsten Jahr mit Achtzehn alles zusammen. Die Altersgrenze für den Paarlauf bei den Junioren liegt für Jungs bei zwanzig Jahre, oder?“ Cornelia nickte. „Ihr müsst die drei Paarlauftechnikklassen 3-1 absolvieren, aber das ist für euch von den Leistungsanforderungen kein Problem. Wahrscheinlich braucht ihr nur 2 und 1. Die Regeln haben sich geändert, ich check das noch. Du warst also in Kürklasse 3 beim Nachwuchs?“ Toni nickte. „Ich hatte alles bestanden, bis KK3 und hab dann mit 12 Jahren beim Nachwuchs aufgehört.“ „Ich bringe euch die Paarlaufelemente bei, für die Junioren müsst ihr in die Paarlaufklasse 2 und danach, wenn du über 20 bist, geht’s in die Klasse 1. Wir wollen nicht zu weit denken. Die Teilnahme an den Deutsche Meisterschaften wäre großartig. Julia ist eine gute Läuferin und besitzt für ihr Alter immensen Ehrgeiz. Sie wird dich antreiben. In der Technikklasse 2 werden der Twist, der Wurf und der Solosprung doppelt verlangt. Die Hebung, Paarlaufpirouette und Todesspirale sind für euch leicht zu schaffen. Wenn du eine Bescheinigung hast, dass deine Geschlechtsangleichung zum Mann beantragt ist, kann ich euch vielleicht schon vor dem rechtskräftigen Bescheid überall anmelden. Ich habe gute Beziehungen zur DEU und zu den Verantwortlichen der ISU. Du startest als Mann, umgekehrt wären die Bedenken größer. Ich werde meinen Freund Richard bei der ISU anrufen. Er kennt sich aus, verfügt über Einfluss. Im schlimmsten Fall müssen wir vor den EUGH ziehen, aber ich denke, dass wird nicht notwendig sein. Heute Abend sehe ich Julia in Hamburg und werde mit ihr eure Trainingseinheiten besprechen. Es kommen zusätzliche Gymnastik und Trockenübungen auf euch zu. Ihr müsst Hebungen und Griffe erst off-ice sicher beherrschen. Julia will natürlich nicht ständig aufs Eis klatschen. Du musst sie korrekt halten.“
Sie hat Recht, dachte Toni und seine Gedanken wanderten weit zurück in die Vergangenheit als er noch in München lebte. Er durfte als Kind den Paarläufern und Eistänzern zusehen. Vieles, was er erinnerte, grenzte an Zirkusakrobatik. „Ich spreche mit meinen Eltern und hole mir die Anmeldung zum Krafttraining drüben im Sportstudio. Es ist nur ein Katzensprung zu uns nach Hause. Vielleicht macht mein Vater mit. Dann kann ich mit ihm abends dort trainieren und eine Familienkarte wird billiger. Peter soll uns sobald als möglich besuchen, damit wir den richtigen Weg einschlagen. Ich denke, in ein paar Wochen weiß ich mehr.“ Cornelia lächelte freudig. Es lief gut und die vermeintlichen Hürden werden sie nehmen. Julia und Toni waren ein hervorragendes Paar. Die zwei passten nicht nur von der Körpergröße zueinander, sondern auch von der inneren Einstellung. Julia liebte den Paarlauf. Cornelia hatte ihr versprochen, einen passenden Partner für sie zu suchen. Das war nicht einfach. Trainingsmöglichkeiten, Eislaufnachwuchs, all das gab es in den anderen Bundesländern im Süden und Westen in mehr Fülle, als in der Hansestadt. Mit Toni hatte sie Glück gehabt. Sie nahm ihr Handy. „Schau mich mal an, ich mache ein Foto von dir, damit sich deine Partnerin seelisch auf dich einstellen kann. Ihr werdet ein hübsches Paar werden. Ich fahre gleich nach Hause. Wir sehen uns morgen früh um zehn Uhr. Wenn’s klappt, bringe ich Julia mit.“ Toni lächelte verlegen. Das Fotografieren war ihm unangenehm, aber er mochte nichts sagen. Wie wird Julia auf ihn reagieren? Wird sie ihn mögen? Was ist, wenn sie seine Transsexualität ablehnt? Tonis Hände wurden feucht, ihm war mulmig zu Mute. Was war los? Er wollte doch gar nichts von ihr und schon gar keine Freundin. Er hatte Ole. Auweh, Tonis Gefühle schlugen Purzelbaum. Er schalt sich. Eine geheimnisvolle Unruhe nahm von ihm Besitz. Sie hielt ihn hartnäckig gefangen, so sehr er sich auch bemühte, seine Gefühle zu lockern. Cornelia rief die Kellnerin herbei und bezahlte. „Ich lad dich ein“, meinte sie frohgelaunt. „Danke“, entgegnete ihr junger Schüler, gewinnbringend lächelnd. Die beiden verließen das Eiscafé. Cornelia fuhr nach Hause. Toni betrat das Fitnessstudio gleich neben der Eishalle. Der junge Mann an der Rezeption drückte ihm einen Prospekt in die Hand. Familienkarten kosteten tatsächlich viel weniger und sogar seine Mutter konnte sich mit Rückengymnastik und Aerobic beteiligen. Es gab eine Sauna und ein kleines Schwimmbad. Alles im Preis inbegriffen. Toni dankte. Zufrieden machte er sich auf den Weg zurück in die Eishalle. Ole war ihm abrupt wieder eingefallen. Er musste ihn unbedingt sehen und ihm von den Neuigkeiten erzählen.
Wie erwartet tobte sich der Freund inzwischen auf der Eisbahn aus, als Toni eintraf. Mit einem großen Satz war Toni die drei Stufen zur Halle hinunter gesprungen, um Ausschau zu halten. Oles Hobby war nicht der Kunstlauf, sondern Eishockey. Dementsprechend trug er auch andere Schlittschuhe als Toni. Eishockeykufen waren robuster und schärfer geschliffen als die der Kunstläufer. Beim Hockey kam es darauf an, möglichst schnell vor dem gegnerischen Tor zu sein, um den Puck darin zu versenken und als Torschütze siegreich aus dem Match zu gehen. Kunstläufer sollten elegant aussehen, graziöse Pirouetten drehen und natürlich springen können. Ole trainierte hingegen Schnelligkeit und Ausdauer. Manchmal wurde das Ganze zu wild, vor allem, wie just in dem Augenblick als Toni ihn erblickte. Ole lieferte sich ein Rennen mit zwei jüngeren Jungen, was dem sehr geduldigen leicht adipösen Eismeister nicht besonders gefiel. Die Halle war gut besucht. Neben kleinen Kindern versuchten sich auch ältere Menschen und Anfänger auf der glatten Fläche. Die meisten waren äußerst vorsichtig und darauf bedacht nicht hinzufallen. Rowdys waren nicht willkommen. Toni grinste, als er bemerkte, wie sich die Hallenaufsicht die drei jungen Herren zur Brust nahm. Etwas zerknirscht begaben die sich im Anschluss an die Standpauke wieder auf die Eisfläche. Toni ging um die Eisbahn herum und erwartete den Freund in der Ecke. „Na, Männer, gab es ‘ne Strafrunde?“, frotzelte er, als sich die Gruppe ihm näherte. „Ach wo, der wollte uns nur etwas erklären“, wehrte einer der zwei Dreikäsehochs keck ab. Toni schätzte die beiden auf zwölf Jahre. „Trainiert weiter, aber passt etwas mehr auf“, gab Ole von sich. „Ich bin jetzt ihr zusätzlicher Privattrainer, die spielen am Wochenende gegen den HSV.“ Er lachte. „Was haben deine Eltern gesagt?“ Toni schüttelte den Kopf. „Komm vom Eis, wir trinken eine Cola am Kiosk, dann erzähl ich es dir. Ich bin auch auf deinen Bericht gespannt.“
Ole nickte und fuhr zum Ausgang, während er sich ständig von vorn auf rückwärts und umgekehrt drehte. Er beherrschte seinen Laufstil sicher. Aber das war auch kein Wunder, hatte er doch mit drei Jahren bereits bei den Kleinstschülern angefangen. Damals war es egal, welches Geschlecht man war. Ole spielte sich im Verein durch alle Klassen und fiel bei einer Punktrunde einem Landestrainer auf. Als dieser hörte, dass Ole ein Mädchen sei, wehrte er ab. Natürlich konnte Ole bis zum vollendeten sechzehnten Lebensjahr bei den Jungen weiter spielen, aber danach musste er in eine Damenmannschaft wechseln. Das wollte Ole auf gar keinen Fall. Er weinte sich heimlich in die Kissen, aber eines Morgens war die Entscheidung für ihn gefallen. Der Verein war Vergangenheit, Ole nahm an den Spielen nicht mehr teil und lief nur noch zum Spaß. Einen Teil seines Schicksals kannte Toni bereits, aber nicht alles. Ole beschloss, dem Freund in der nächsten Zeit sein komplettes Leid zu klagen. Nach dem gestrigen gemeinsamen Treffen in der Selbsthilfegruppe brauchten sie nicht mehr voreinander Versteck zu spielen.
Ole nahm die Schlittschuhschoner, die ihm Toni freundschaftlich entgegen streckte und legte seinen Arm um dessen Schulter. Schoner schützen die scharfen Schlittschuhkufen, so dass man unbeschadet außerhalb der Eisbahn darauf gehen kann. „Zwei Cola, bitte“, rief Toni der Verkäuferin im Kiosk zu. Er wandte sich um. Ole stand inzwischen an einem der drei Tische, stützte sich mit beiden Händen darauf. „Willst du auch etwas essen?“, fragte Toni. „Eine Currywurst mit Pommes“, kam zurück und Ole nickte, als die nette Frau Meier, die im Kiosk verkaufte, von ihm wissen wollte, ob er auch Mayo benötigte. Die beiden Flaschen Cola standen schnell auf dem Tisch. Toni hatte alles bezahlt. „Du bist nächstes Mal dran, das Essen ist in Arbeit und nun los, erzähl, ich platze gleich“, meinte er. Seine Augen leuchteten. Haltung und Worte verrieten wirklich Neugierde und Aufregung. Toni war gespannt wie ein Flitzebogen, wie Oles Eltern die Botschaft aufgenommen hatten. Sein Kumpel ließ sich derweil Zeit. Er setzte umständlich die Flasche an den Mund, atmete tief ein und aus und lächelte vielsagend. „Wenn du nicht gleich redest, werde ich zum Mörder“, zischte Toni und trat vor Ungeduld von einem Bein aufs andere, während seine Finger begannen, auf dem Tisch wahre Trommelsalven aufzuführen. Ole kostete den bedeutungsvollen Moment, in dem er im Mittelpunkt stand, sichtlich aus. „Japp“, prustete er. „Als ich gestern nach Hause kam, saßen meine alten Herrschaften noch vor dem Fernseher. Ich sagte ihnen, dass ich sie sprechen wollte. Es brauchte aber nicht mehr gleich zu sein, sondern hat bis morgen Zeit. Es wäre schön, wenn sie sich das Heftchen durchlesen würden.“ „Und?“, fragte Toni mit großen Augen. „Sie sagten erst gar nix und ich bekam Schiss, weil ich so frech mit der Tür ins Haus gefallen war. Aber dann meinte meine Mutter, ich solle zu ihr kommen und sie nahm mich ganz fest in die Arme, wie sie es nur früher als ich noch klein war, gemacht hatte. Vater sagte, sie hatten sich so etwas bereits gedacht. Entweder ich war eine männliche Lesbe oder Trans. Nun hatten sie wenigstens Klarheit. Ich hab von der Gruppe und von Peter erzählt und von dir natürlich auch. Sie wollen dich kennenlernen und am besten auch deine Eltern. Vater meinte, unsere Liebe sei nur der Anfang, das kann sich später noch ändern, wenn wir mit allem durch sind. Wahrscheinlich werden wir dann auf Mädchen stehen.“ Toni hörte mit halb offenen Mund zu. Die letzten Worte lösten Verunsicherung aus, denn er erinnerte sich an das komische Gefühl, das er nicht einordnen konnte, nachdem ihn Cornelia fotografiert hatte um das Bild Julia zu zeigen. „Schon möglich, ich hatte so ein merkwürdiges Empfinden vorhin“. Er erzählte von Conny und der Aussicht wieder Wettkämpfe bestreiten zu können.
Ole schluckte. „Super, ich freu mich für dich. Die Julia schau ich mir gleich morgen an, wenn Conny sie herbringt.“ Er wollte fröhlich klingen und freute sich wirklich und ehrlich für Toni, doch etwas in seiner Stimme verriet Traurigkeit. Toni besaß eine bemerkenswerte Empathie für sein Alter und bemerkte es. Was hatte Ole? Er zögerte nicht und fragte nach. Die Trauer um den Verlust seiner Mannschaft, mit der er sich bis weit nach oben in die Tabelle gekämpft hatte und die Frustration nicht mehr Eishockey spielen zu können, sprudelte aus Ole heraus. In der Zwischenzeit wurden sie kurz unterbrochen, als Frau Meier Currywurst und Pommes für fertig erklärte. Der resoluten Rentnerin entging auf der Eisbahn nichts. Sie kannte ihre Pappenheimer und hatte mit Zufriedenheit bemerkt, wie sich Ole, der von klein auf bei ihr einkaufte, mit dem neuen Jungen, der einen bayerischen Dialekt sprach, angefreundet hatte. Freundschaften waren wichtig, wusste Frau Meier. Toni hörte Ole fassungslos zu und ihm stiegen beinahe die Tränen in die Augen. Auch Ole hatte also seinen Lieblingssport aufgeben müssen! Sie waren sich so ähnlich. „Wenn du operiert bist und deinen neuen Ausweis hast, kannst du doch wieder in einer Mannschaft spielen. Wir bekommen Hormone und müssen in die Muckibude. Wenn wir hart trainieren, werden wir genauso kräftig und stark wie die anderen Jungs“, beeilte sich Toni zu sagen und hoffte, den Freund damit aufmuntern zu können. Die Rechnung ging auf.
Ein hoffnungsvolles Lächeln huschte über Oles Gesicht. „Jetzt du“, meinte er. Toni besann sich. Nein, Ole hatte ihn schmoren lassen, jetzt wollte er den Spies umdrehen. Genüsslich tauchte er eine Fritte in die Currysoße, führte sie an den Mund und begann an dem Kartoffelstück zu lecken. Das war für Ole zu viel des Guten. Er hielt dem Kumpel die Faust unter die Nase. „Diese Faust, dein Friedhof!“, meinte er ernst und sah Toni scharf an. Aber der ließ sich nicht stören. Erst, als er sich auch noch ein Stück Wurst in den Mund schieben wollte, hielt er kurz inne. Oles Hand hatte nach der Gabel gegriffen und war kurz davor, ihm die Currywurst zu klauen. Schnell biss Toni zu. Er begann zu erzählen, nachdem er das Essen heruntergeschluckt hatte. Ole stützte sich auf den Arm und hielt die Hand vor seinen Kopf. „Oh, was waren wir blöd! Wir hätten schon viel früher mit unseren Eltern sprechen sollen.“ Toni dachte dasselbe. Er wollte gleich eine Mail an Peter schreiben. „Du, ich frage meine Eltern, ob wir Peter einladen wollen und deine alten Herrschaften dazu bitten. Er braucht nicht alles zweimal erklären und wir können gemeinsam überlegen, was wir machen. Da ist wohl zunächst die Psychologin dran, bei der wir uns Termine holen müssen.“ Während sein Freund sprach, bemerkte Ole als erster, dass das Essen inzwischen kalt wurde. Er nickte und schaufelte die lauwarmen Pommes in sich hinein. Toni tat es ihm gleich und konnte, als er fertig war, einen Rülpser nicht unterdrücken. „ÖÖps.“ Am Nachbartisch stand eine ältere Frau im weißen Pullover und trank Kaffee. Sie zog die Nase hoch. „Ferkel“, kam es wie aus der Pistole geschossen aus ihrem Mund. Toni freute sich, als ob das Wort das höchstmögliche Lob der Welt darstellte. Ole grinste. Das ungebührliche Verhalten steckte allem Anschein nach an.
Zwei jüngere Burschen rülpsten laut auf, was die Frau sichtlich ärgerte. Sie nahm ihren Kaffee und suchte sich einen anderen Tisch. „Aber, aber, schon Martin Luther meinte trefflich: „Warum rülpset und furzet ihr nicht, hat es euch nicht geschmecket?“, ergänzte Ole altklug und zog damit die neugierigen Augen der beiden elfjährigen Jungs auf sich. Sie wollten weitermachen, wurden aber von Frau Meier jäh gestoppt. „So, meine Herren, benehmt euch, sonst fliegt ihr raus. Und das gilt für die älteren Semester auch!“ Ihr Tonfall duldete kein Aufbegehren. Toni hatte sich in seine Mails gewählt und schrieb eifrig an Peter. Er bat ihn, ihm freie Termine mitzuteilen, damit sie ein Treffen mit seinen Eltern und Oles Familie organisieren konnten. „Geschafft, Peter wird sich melden“, verkündete er zufrieden. „Gut, ich zieh mich um und mach mich auf den Heimweg“, meinte Ole. „Kannst ja schreiben, wenn du Nachricht von Peter hast. Ich bereite meine alten Herrschaften vor.“
Der Tag neigte sich dem Ende zu. Etwas zerknirscht empfing Tonis Mutter wenig später ihren Sohn an der Tür. Sie hatte es nicht lassen können und ihrem Bruder Bernd in München alles erzählt. Dessen Reaktion ließ nicht auf sich warten. Ob sie verrückt wären, so etwas Perverses zuzulassen? Das Mädchen braucht einen anständigen Freund, der ihm beibringt, was es ist. Bernd war außer sich. Klaus hatte das Gespräch mitbekommen und sich eingebracht. Er beschimpfte den Schwager als intoleranten, widerlichen Nazi und verbot ihm den Umgang mit Anneliese, wenn er sich nicht auf der Stelle mäßigte. Beide Männer stritten noch eine Weile, bis Klaus entnervt den Hörer auflegte. Toni kam, als sich seine Eltern über die schrecklichen Ansichten des Onkels ausließen. „Du rufst da bitte nicht wieder an. Der soll bleiben, wo der Pfeffer wächst. Mit so einem Menschen will ich nichts zu tun haben. Es ist dein Bruder, Anneliese, aber du musst selbst zugeben, dass er nicht zu uns und in unser Gesellschaftsbild passt.“
Anneliese war blass geworden, nahm den Wasserkocher in die Hand und füllte ihn. Sie musste sich erst einmal einen Beruhigungstee aufbrühen. Als sie die Tassen auf den Küchentisch gestellt hatte, setzte sie sich niedergeschlagen auf ihren Stuhl. Sie seufzte tief. „Ja, du hast wohl Recht. Ich hab mir nichts dabei gedacht. Aber, es ist vielleicht gut so. Damit sind die Fronten geklärt und ich stimme dir zu. Vielleicht ist es wirklich besser, diesen Kontakt abzubrechen. Ich weiß nicht, was mit Bernd los ist, Petra ist auch ratlos. Sie weiß manchmal nicht, ob sie bei ihm bleiben soll. Er ist ein lausiger Ehemann, schreit ständig herum und verpestet die Atmosphäre mit seinen rechten Ansichten. Sie haben kaum noch echte Freunde.“ Toni legte liebevoll den Arm um seine Mutter und setzte sich zu den Eltern. „Danke, dass ihr zu mir haltet. München und Onkel Bernd sind weit weg. Dad, hier ist ein Prospekt vom Sportstudio für deine Kondition. Ich muss meine Kraft auch trainieren. Eine Familienkarte wird günstiger. Mum kann ihre Rückengymnastik weiterführen. Vielleicht trifft sie andere Frauen und findet Freundinnen. Cornelia will mich im Paarlauf trainieren. Ich bekomme eine dreizehnjährige Partnerin, die ich bei den Wurfsprüngen und Hebungen halten muss. Sie sagt, wenn meine Geschlechtsangleichung läuft und ich bereits eine Bescheinigung vom Arzt darüber habe, kann sie das Problem mit dem Verband regeln. Ich muss in den Verein in Hamburg eintreten und sie wird sonst alle Kosten privat bezahlen und niedrig halten. Geld will sie von euch nicht. Vielleicht werden wir von der Union gefördert, wenn wir gut sind und Erfolge aufweisen können.“
Die Eltern beruhigten sich. Anneliese goss ihrem Mann und sich selbst Wasser in die Tassen und legte in jede Tasse einen Teebeutel ihres Antistresstees. Toni holte sich eine Cola aus der Speisekammer und erzählte. „Ole hat ebenfalls mit seinen Eltern gesprochen und wir dachten, wir treffen uns hier zusammen mit Peter. Er kann euch alles erklären und wir schmieden Pläne.“ Klaus fand die Idee sofort großartig. Das hörte sich sehr gut an. Die Elternpaare sollten sich wirklich schnellstens kennenlernen. Anneliese und Klaus waren sich bereits einig darüber geworden, ihren Sohn in drei Wochen zum nächsten Gruppentreffen zu begleiten. Schnell war ein Termin ausgemacht, zu dem man Oles Eltern einladen wollte. Toni rief den Freund gleich an. Der stellte sein Handy laut. „Du, wir sitzen grad in der Küche. Meine Eltern sind einverstanden, sie freuen sich. Vielleicht klappt es mit Peter ebenfalls.“ „Er hat sich noch nicht gemeldet, aber das ist nicht ungewöhnlich. Er hat mir erzählt, dass er abends oft als Streetworker auf dem Kiez unterwegs ist. Also, am Dienstagabend um 19 Uhr bei uns. Ich muss morgen um 10 Uhr aufs Eis. Halb zehn?“ Toni war guter Dinge und ging davon aus, dass sich Ole Julia nicht entgehen lassen würde. „Alles klar, schlaf gut. Wehe du fängst etwas mit Julia an!“, lachte Ole. Er dachte an die Worte seines Vaters. Gedanken an Mädchen gehörten sich für ihn nicht. Er war schließlich nicht lesbisch. Aber als Junge? Geheimnisvolle Gefühle wühlten Ole auf.
***
Toni sah Ole schon von weitem vor der Eishalle warten. Es war erst kurz nach neun Uhr, aber seine Aufregung Julia zu treffen beflügelte ihn und er hatte das Haus früher verlassen. Die Halle hatte bereits geöffnet. Die beiden schlugen die Hände aneinander und machten sich schweigend für das Training fertig. Toni betrat das Eis und vertiefte sich in seine Übungen. Er bemerkte das junge Mädchen, das ihn aufmerksam am Rand der Eishalle beobachtete, zunächst nicht. Julia fuhr mit ihrer rechten Hand sinnlich über ihre dunklen langen Haare, während sie jede Bewegung Tonis aufmerksam verfolgte. Ihr Mund öffnete sich und ihre Zunge benetzte die mit rotem Lipgloss geschminkten Lippen. „Komm, wärm dich auf, Liebes. Du darfst gleich zu ihm aufs Eis. Gefällt er dir?“, fragte Cornelia schmunzelnd. „Mal sehen, du sagtest, er ist noch kein richtiger Junge? Aber er sieht aus wie einer. Das ist schon ein Pluspunkt.“ Julia zog ihren warmen Anorak aus und schlüpfte in eine rote Sportanzugjacke. Zarte Finger, deren saubere glatte Nägel mit rosa glitzerndem Nagellack überzogen im fahlen Licht der Eishalle funkelten, schickten sich an, den ebenfalls rosa farbigen Eislaufkoffer zu öffnen. Julia griff zielstrebig nach einer Haarklemme. Geschickt legte sie ihr Haar zusammen und befestigte es mit einem zusätzlichen Band am Hinterkopf. Sie begann mit beiden Beinen zu hüpfen und lief danach die Treppe zu den Tribünenplätzen rauf und runter. Nach fünf Minuten ließ sie ihre Arme kreisen, setzte sich in die Hocke und begann danach Dreiersprünge und Sprünge mit einer Umdrehung auf dem Vorplatz zum Kiosk zu üben. Toni, der sie noch immer nicht gesehen hatte, versuchte sich an einem doppelten Toeloop, welcher zu seiner Freude hervorragend glückte. Ein doppelter Flip und ein doppelter Lutz bescherten ihm ein enormes Plus an Selbstwertgefühl. Euphorisch setzte er zum Axel an und… fand sich mit dem Hintern auf dem Boden der Tatsachen, also auf dem kalten Eis, wieder. Da fehlte eine halbe Umdrehung und seine Arme hatten viel zu früh aufgemacht. Er sah sich peinlich berührt um und sah Conny, die eine außergewöhnlich starke Persönlichkeit besaß. Ihre Erscheinung war nicht zu übersehen. Neben ihr lief ein junges Mädchen. Deren Schönheit raubte Toni spontan den Atem. Das musste Julia sein! Hoffentlich hat sie mein Missgeschick eben nicht gesehen, dachte er, stand auf und lief zu Conny an den Rand der Eisbahn.
„Alles Gut, du weißt selbst, was du falsch gemacht hast. Den Axel darfst du gleich noch einmal üben. Aber erst begrüßt du deine Partnerin. Julia, das ist Toni. Toni, deine Julia!“ Cornelia schaute stolz auf ihr frisch gebackenes Paarlauf Team. Vielleicht werden die zwei in ein bis zwei Jahren als Geheimtipp auf der Liste der deutschen Traumpaare stehen. Sie schalt sich. Vor den Erfolg hatte der liebe Gott die Arbeit gesetzt. Sie sollten sich einlaufen und danach üben, sich während der Schrittfolgen an die Hände zu fassen. Nicht jeder Eisläufer konnte etwas mit einem Partner auf dem Eis anfangen. Am Nachmittag wollte Conny mit den beiden in die Schulsporthalle nebenan gehen und ihnen die ersten einfachen Hebungen zeigen. Julia spürte Tonis Verlegenheit. „Das war gar nicht schlecht. Ich fall auch oft beim Axel. Du darfst nicht zu früh aufmachen. Bei den anderen Sprüngen kann man mogeln, beim Axel ist das tödlich.“ Sie lächelte gewinnend und löste bei Toni genau das Gegenteil von dem aus, was sie mit ihrer lockeren Aussage eigentlich bewirken wollte. Er sollte sich entspannen. Toni bekam jedoch keinen vernünftigen Ton zustande, meinte nur: „Okay“ und schwieg. Cornelia übernahm das Training und auch das Wort. Er brauchte sich nicht mehr anzustrengen und atmete erleichtert aus. Julia war ein bezauberndes Mädchen und schon sehr fraulich anzusehen. Sie wirkte erwachsener als er. Fasziniert und irritiert reichte er ihr die Hand, als sie ihre Schlittschuhe angezogen hatte und half ihr aufs Eis. Conny registrierte die Situation mit Wohlwollen. Toni war als Mädchen sozialisiert worden und würde Julia immer mit Achtung und Respekt begegnen. Rüdes Verhalten musste sie von ihm nicht erwarten. Jetzt kam es darauf an, wie schnell er seine Rolle als Mann lernte. Sie sagte nichts und nickte den beiden zu. Julia begann sich einzulaufen und kurze Zeit später reichte sie Toni die rechte Hand. Das gemeinsame Rückwärtsübersetzen und die Schrittfolgen als Paar ließen Connys Herz Purzelbäume schlagen. Da hatten sich zwei gefunden, die zusammengehörten. Neben ihr stand Ole und starrte Julia an. Alle inneren Verbote lösten sich auf. Ole fühlte sich als Mann und betrachtete seinen besten Freund augenblicklich als Konkurrenten in der Gunst um das schönste Mädchen der Welt, wie ihm schien. „Vergiss es und beweg dich, damit du nicht kalt wirst“, meinte Conny und lächelte.
„Ich hab noch mehr Mädels in meiner Hamburger Gruppe. Für dich werden wir auch etwas Passendes finden. Die zwei dort werden eines Tages für ihr Land starten.“
Sie ließ Ole stehen und klatschte in die Hände. Die beiden Eisläufer verstanden, liefen zu ihrer Trainerin an die Bande. Um dreizehn Uhr endete die erste gemeinsame Trainingseinheit. Am Nachmittag sollten sie sich in der Sporthalle der nahegelegenen Schule treffen. Cornelia hatte sich Schlüssel und Erlaubnis vom Schulleiter geholt, damit sie in der Turnhalle off-ice Training durchführen konnte. Ihr Traumpaar wird dort nicht alleine sein. Fünf andere Mädchen aus ihrer Gruppe sollten gemeinsam Eisgymnastik betreiben. Ole und Toni blickten Julia und ihrer Trainerin hinterher, als diese ins Auto stiegen. „Krasse Braut“, meinte Ole anerkennend. „Hey, bist du eifersüchtig?“, neckte ihn Toni. Sein Handy summte. Peter hatte ihm eine SMS gesandt. „Die ist von Peter. Mit Dienstagabend geht alles klar. Er freut sich für uns.“ Oles Blick zeigte Verträumtheit. Seine Augen verklärten sich. „Das ist gut. „Conny sagte, Julia ist tabu für mich. Aber sie wird mir etwas Nettes aus ihrer Gruppe besorgen. Ich werde heute Nachmittag zur Turnhalle kommen. Ein wenig Abwechslung kann nicht schaden.“ „Dann wollen wir das Beste für dich hoffen!“ Toni zwinkerte. „Ich glaube, die sind alle noch unter zehn Jahre und das willst du doch sicher nicht, oder?“ „Ha, ha, ha. Bis nachher. Und sei dir bei Julia nicht so sicher. Eislaufpartnerin kann sie ja sein, aber vielleicht liebt sie mich, anstatt dich.“ Sie drückten einander. „Bis später“, meinte Toni. Sein Herz machte Freudensprünge, während er nach Hause lief.
Kurz vor vier Uhr stand er vor dem Eingang zur Schulsporthalle. Fünf kleine Mädchen in Turnanzügen warteten bereits. Ole kam mit seinem Fahrrad und bemerkte die Bescherung schon von weitem. Die waren wirklich noch zu jung für ihn. Aber er wollte die Flinte nicht gleich ins Korn werfen und umarmte den Freund zur Begrüßung. „Seid ihr alle bei Conny?“, begann er ein Gespräch mit den Kleinen. „Ja, sie kommt gleich mit Julia und Amelie. Die sind schon groß. Julia hat jetzt einen Partner, sie soll Paarlaufen üben“, erzählten die Kinder. Aha. Ole atmete aus. Es gab noch Hoffnung für ihn und die hieß womöglich Amelie. Seine Überraschung konnte nicht größer sein, als Connys Auto auf dem Parkplatz anhielt. Julia stieg aus, nahm grazil ihre Sporttasche aus dem Kofferraum und ging lächelnd auf Toni zu. Sie trug einen zu engen pinkfarbenen Pullover unter ihrem weißen Anorak, den sie wohlweislich offen ließ, damit sich ihre kleinen festen Brüste deutlich darunter abzeichnen konnten. Ein zweites Mädchen stieg aus dem Wagen. Sie schüttelte ihre hellblonden glatten Haare aus, legte den Kopf zur Seite und tat so, als ob die beiden Jungen an der Tür gar nicht vorhanden waren. Amelie war mit ihren vierzehn Jahren nicht weniger kokett als ihre Freundin Julia. Und sie konnte ihr beileibe äußerlich das Wasser reichen. Sie wollte sich Ole ansehen. Cornelia hatte ihr von Tonis Freund berichtet und starke Zweifel an der angeblich endgültigen schwulen Ausrichtung der beiden Jungen geäußert. Sie meinte, es müsse nur das richtige Mädel kommen, dann würden die zwei Herren sicherlich aufhören, sich ausschließlich füreinander zu interessieren. Amelie wollte allzu gern mitspielen. Die Jungen aus der Schule gefielen ihr nicht besonders. Die meisten waren Möchtegern Machos. Amelie liebte hingegen Romantik und Gefühle. Liebesromane standen derzeit hoch im Kurs bei ihr. Selbstbewusst sah sie auf, strich ihre Haare aus dem Gesicht und begann amüsiert mit Ole zu flirten. Der erhielt einen derben Schubs von seinem Freund. Er verstand den Wink sofort. Eilte auf Amelie zu, nahm ihr charmant lächelnd aber ungeschickt die Sporttasche aus der Hand. Julia nutzte den Augenblick für sich aus und hing ihre Tasche ebenfalls über Oles Schulter. Frau sollte freiwillige Diener nicht von sich weisen. Sie hakte sich mit einem fröhlichen „Hallo“ bei Toni unter, betrat ohne Ole eines Blickes zu würdigen die Sporthalle. Cornelia lachte in sich hinein. Sie kannte ihre Mädchen. Ole besaß nur noch Augen für Amelie, die ihre Chance ergriff. Handynummern und Mailadressen wurden nach dem Training ausgetauscht und als Toni den Vorschlag machte, noch einen Moment im Café zusammenzusitzen war das Eis endgültig gebrochen. Cornelia erlaubte ihnen den Besuch unter der Bedingung, dass die Jungen die Mädchen um spätestens 19 Uhr zur Bushaltestelle bringen und die Mädchen ihre Eltern benachrichtigen, wann sie zu Hause sein werden. Toni und Ole fühlten sich wie Ritter aus längst vergangener Zeit. Natürlich konnte sich Conny auf sie verlassen, versprachen sie. Ein paar Minuten später wurde die gerade erst begonnene homosexuelle Beziehung zwischen Toni und Ole auf wundersame Weise ausgesetzt. Beide fieberten dem Dienstagabend entgegen. Sie wollten so schnell wie möglich ihre männliche körperliche Entwicklung vorantreiben.

Pläne
Anneliese Obermöller trat einen Schritt hinter den Küchentisch, strich ihren Rock glatt und besah sich zufrieden den frisch gebackenen Käsekuchen, den sie gerade mit Schlagsahne verziert hatte. Sie nahm die Tortenplatte in beide Hände und brachte das süße Backwerk ins Wohnzimmer, wo sie es in die Mitte des Esstisches stellte. Liebevoll war dort für sieben Personen gedeckt worden. Das Blümchenmuster des Kaffeeservices stimmte farblich mit den rosafarbenen Servietten überein. Sie hörte aus der Küche den Kaffee blubbern, der durch die Maschine lief. Die Zeiger der Wohnzimmeruhr standen auf sieben Uhr abends. Sie warf einen kurzen Blick darauf. Ding Dong, im selben Moment, wie auf Bestellung, läutete es. Ihr Besuch erschien pünktlich auf die Minute. Toni eilte zur Tür. Er öffnete noch bevor seine Mutter auf den Flur laufen konnte. Ole gab ihm fünf. „Kommt rein“, meinte Toni und bat Oles Mutter galant wie ein Gentleman um ihre Jacke. Klaus stieg die Treppe vom Keller herauf. Die beiden Jungs waren abgemeldet.
„Guten Abend, ich freu mich euch kennenzulernen. Ich bin Klaus und das hier ist mein treues Eheweib Anneliese. Ich weiß nicht, was ich ohne sie täte!“ Er lachte seinen nahezu gleichaltrigen Besuch an. „Dann sagen wir gleich du, oder? Und meine bessere Hälfte hier ist Tamara. Ich hab sie seinerzeit direkt aus Russland einfliegen lassen. Ich bin der Rolf, Nachname Baumann und ich arbeite beim Bauamt.“ Klaus schmunzelte, die beiden waren ihm auf Anhieb sympathisch und die Stimmung konnte nicht lockerer sein. Die Paare gaben einander die Hand. „Das hat uns Toni schon erzählt. Aber legt erst mal ab und kommt rein. Es gibt Kaffee und Kuchen. Anneliese hat auch Tee gekocht.“ Klaus wies mit der Hand den Weg ins Wohnzimmer. „Oh, nett habt ihr es. Ist das euer eigenes Haus oder gemietet?“, fragte Tamara, die sich aufmerksam umschaute. „Das ist unser Eigenheim. Aber gebraucht erworben. Wir wohnen erst seit einem guten halben Jahr hier. Wir kommen aus München und haben unser Haus verkauft“, plauderte Klaus. „Es stand nicht einmal zwei Tage in der Zeitung. Der Wohnungsmarkt dort unten ist katastrophal. Für uns natürlich gut, wir haben mehr bekommen, als wir dafür bezahlt haben.“ Ole und Toni atmeten laut aus. Die Elternpaare interessierten sich für alles, nur nicht für ihre Kinder. Das konnte ja heiter werden. Schweigend setzten sie sich an den Tisch und warteten, bis alle Platz nahmen. Anneliese holte die Kaffeekanne aus der Küche und begann einzuschenken. Toni und Ole tranken Tee, nahmen jeder ein Stück Apfelkuchen mit Sahne in Empfang. Tamara fiel ein, warum sie eigentlich bei den Obermöllers waren. „Ich glaube, wir vergessen gerade die Hauptpersonen, um die es geht. Du bist also Toni. Olga hat uns schon viel von dir erzählt.“ „Mama!“ Oles Augen funkelten. War das peinlich! Sie hatte ihn mit dem weiblichen Vornamen angesprochen. Auch Rolf sah seine Frau vorwurfsvoll an. „Ach, bitte, das ist alles so neu für mich. Ich habe siebzehn Jahre lang eine Tochter gehabt und nun steht plötzlich ein Junge in der Tür. Das kann eine alte Mutter nicht so schnell lernen“, verteidigte sich die Ballettlehrerin. Anneliese pflichtete ihr sofort bei. „Ich hab erst vor ein paar Tagen mein kleines Mädchen begraben. Es ist wie der Tod, nur ohne das Sterben und ohne Friedhof. Wir behalten unsere Kinder ja, aber sie sind plötzlich jemand ganz anderes. Ihr Jungen müsst Geduld mit uns haben.“
Rolf nickte verständnisvoll. „Wir haben uns auf Oleg geeinigt, Ole ist dann Spitzname, der ganz gut zu Norddeutschland passt. Er hat gottseidank einen deutschen Pass. Russische junge Männer müssen, auch wenn sie im Ausland leben und zwei Staatsbürgerschaften haben, in Russland Wehrdienst leisten. Ich weiß, du machst dir nichts daraus, Junior. Aber glaube mir, dass ist nicht so einfach. Ihr werdet trotz Hormonbehandlung und Operation immer im Hintertreffen zu normal geborenen Männern sein.“ „Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht“, erklärte Klaus. „Hier gibt es keine Wehrpflicht mehr. Sprichst du denn Russisch, Ole?“ Der antwortete in perfektem Russisch und entschuldigte sich zweisprachig bei seiner Mutter. „Das bleibt nicht aus. Als Mutter spricht man mit seinem Kind automatisch in der eigenen Muttersprache und ich habe ihm die Schrift gleich mit beigebracht. Ich denke, es ist nie von Nachtteil Sprachen zu können und Englisch lernen sie ja in der Schule sowieso. Oleg!“ Tamara küsste ihren Sohn auf die Wange. Dessen Augen verdrehten sich. „Ich glaube, es wäre ihm lieber, Sie wären Amelie“, frotzelte Toni. Augenblicklich waren die neuen Freundinnen Thema Nummer eins. Rolf lachte laut auf. „Ich wusste es. Wenn das richtige Mädchen da ist und die zwei sich ihrer weiblichen Hülle entledigen, werden die männlichen Gefühle wach. Und sogar ohne Hormone!“ „Wann kommt denn Herr Petersen? Wir haben schon mit dem Kaffee angefangen. Das ist eigentlich unhöflich!“, bemerkte Anneliese erschrocken. An Peter hatte niemand mehr gedacht. „Ja, der ist tatsächlich überfällig“, meinte Ole und warf einen fragenden Blick auf seinen Freund. „Ich klär das mal.“ Toni nahm sein Handy. Er hatte die SMS noch gar nicht abgeschickt, als es erneut an der Tür klingelte. „Wenn man vom…spricht!“, lachend sprang er auf, um zu öffnen. „Einen schönen guten Abend, ich stand eine halbe Stunde vor dem Elbtunnel im Stau. Es tut mir leid“, entschuldigte sich der verspätete Besuch. Klaus und Anneliese hatten sich von ihren Plätzen erhoben. „Machen Sie sich keine Gedanken, Herr Petersen, kommen sie bitte herein. Wir haben uns so etwas schon gedacht. Die Baustellen in Hamburg sind fürchterlich. Ich hab mich mehr als einmal dort verfahren“, wehrte Klaus ab und gab Peter die Hand. Anneliese bat um seine Jacke. „Es gibt Kuchen. Trinken Sie Kaffee oder Tee?“, fragte sie. „Kaffee, danke.“ Im Wohnzimmer begann ein Begrüßungs- und Erzählmarathon. Alle sprachen durcheinander. Peter genoss seinen Apfelkuchen, schob gleich noch ein Stück herrlichen Käsekuchen hinterher. Alles selbst gebacken, wie ihm versichert wurde. Jeder aß, es wurde ruhiger in der guten Stube der Obermöllers. Als die Kuchengabeln wieder auf den Tellern lagen, breitete sich Gemütlichkeit aus. Und wieder war es Tamara, die das Wort ergriff.
„Herr Petersen, wir hatten bereits bemerkt, dass unser Oleg Probleme mit seinem Geschlecht hat, als er noch sehr klein war. Er kümmerte sich nicht um seine Puppen, sondern tobte ständig mit den Jungen beim Eishockeyspielen herum. Auch wollte er nur Hosen tragen und bettelte darum, ich möge ihm die Haare kurzschneiden lassen. Wir dachten uns aber nicht viel dabei. Jetzt sind mein Mann und ich völlig verunsichert und wir fragen uns, was wir falsch gemacht haben.“ Sie sah Peter ernst an. Der war auf diese Frage vorbereitet. Immer wieder musste er Eltern beruhigen, die sich an der transsexuellen Prägung ihrer Kinder die Schuld gaben. Er lächelte. „Gar nichts haben Sie verkehrt gemacht. Die meisten Transidenten werden so geboren. Wie Transsexualität entsteht, welche Faktoren dabei eine Rolle spielen ist unerforscht und ich denke, es wird auch nie richtig geklärt werden. Sehen Sie, die Schöpfung hat so viele verschiedene Lebensformen hervorgebracht, dass wir gar nicht ergründen können, woher die unzähligen Lebensentwürfe der Menschen stammen. Wir sollten das einfach so hinnehmen. Wer die Strafgesetze dieses Landes beachtet, kann und darf im Grunde alles tun, was er möchte. Seien Sie bitte unbesorgt.“ Er nahm einen Schluck Kaffee und sprach weiter. „Ja, prima. Dann sind wir mittendrin. Ich beantworte gerne erst mal Ihre Fragen, wenn Sie mögen. Oder ich fange kurz an und erzähle Ihnen etwas zum Thema.“ „Bitte, erzählen Sie, oft erledigt sich dabei schon einiges“, forderte ihn Klaus auf. Rolf und Anneliese nickten eifrig.
„Nun, denn. Ich kann es nicht oft genug sagen. Transsexualität ist weder ansteckend noch gefährlich für andere und nichts, wofür man sich schämen muss. Das alte Gesetz von 1980 wurde vom Verfassungsgericht in Teilen für überholt angesehen und soll nun von der Bundesregierung nachgebessert werden. Was ist Transsexualität? Im Grunde das Gefühl mit dem falschen Geschlecht geboren zu sein. Je nachdem, ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen äußerlichem und gefühltem Geschlecht ein Leidensdruck für die Betroffenen. Für diejenigen, die einen Anpassungswunsch haben, gibt es das Gesetz. Wer sich mit seinem Empfinden arrangieren kann, lebt so, wie er/sie es möchte. Erst, wenn jemand sein angeborenes Geschlecht wechseln will, brauchen wir eine gesetzliche Grundlage, die Vornamen-und Personenstandänderung regelt und hilft, medizinische Behandlungsschritte einzuleiten. Zunächst ist die Vorstellung bei einem Arzt mit Zusatzausbildung Psychotherapie oder bei einem Psychologen nötig. Keine Angst, es tut weder weh, noch soll man auf sein Geburtsgeschlecht zurückgeführt werden. Das geht bei genuiner Transsexualität auch gar nicht, weil das tiefe Gefühl dem somatischen Gegengeschlecht anzugehören einfach da ist. Transsexualität ist mit Psychotherapie nicht behandelbar. Es gibt Psychosen und andere geistige Erkrankungen, die mit dem Wunsch nach Geschlechtswechsel einhergehen können und das muss ein Psychologe gegenüber echter Transsexualität abgrenzen. Daneben gilt es während des Angleichungsweges viele Hürden zu nehmen und eine fachkundige Begleitung wird von den meisten als hilfreich empfunden. Ich kenne eine nette Ärztin mit Zusatzausbildung Psychotherapie, die in Hamburg ansässig ist und sich insbesondere mit Kindern und Jugendlichen befasst. Sie hat früher die Gutachten für das Gericht geschrieben. Ich war damals bei ihr und habe ihre Art und Behandlung als sehr angenehm und fördernd empfunden.
Leider schafft es unsere Bundesregierung nicht, neue Regelungen in Kraft zu setzen, so dass im Augenblick die Rechtssicherheit auf der Strecke bleibt. Ein neuer Gesetzentwurf, der das Melderecht vereinfachen soll, wird noch diskutiert. Das beinhaltet aber nur Ausweise und Geburtsurkunde. Die medizinische Behandlung wird nach wie vor ärztliche Atteste und Gutachten benötigen, was auch richtig ist, denn bereits Hormonbehandlungen sind oft irreversibel. Natürlich steht jedem frei, von wem er /sie sich die transsexuelle Prägung bescheinigen lassen will. Frau Dr. Krause ist bei den meisten aus der Gruppe beliebt. Das heißt nicht, dass sie alles tut, was der Patient will. Sie hinterfragt direkt und stößt dabei gerne mal diskret ins Wespennest. Ihr Statement ist für die weiteren Behandlungsschritte leider unerlässlich. Sie muss wie bereits gesagt geistige Erkrankungen ausschließen. Für den folgenden medizinischen Weg steht sie danach zur Verfügung und begleitet ihre Patienten durch die Angleichung, sofern die es wünschen. Es schließt sich bei uns Männern die Hormonbehandlung mit Testosteron an, die lebenslang weiter geführt werden muss, wenn die Eierstöcke entfernt wurden. Das sollte ein bis zwei Jahre später geschehen, weil es andernfalls zur Tumorbildung kommen kann.
Wer also seiner Männlichkeit mit Hormonen nachhelfen möchte, sollte sich über operative Maßnahmen informieren. Jeder muss sich selbst ein Bild machen, in Frage kommende Chirurgen aufsuchen und eigene Entscheidungen hinsichtlich seiner Angleichung treffen. Viele lassen sich erst die Brust entfernen und danach die Eierstöcke und die Gebärmutter herausnehmen. Die Scheide wird verschlossen. Einen Penoidaufbau bieten inzwischen mehrere Ärzte in Deutschland an. Man kann im Stehen pinkeln und nachdem eine Erektionshilfe eingesetzt wurde, auch üblichen Geschlechtsverkehr haben. Einige Transidenten lassen alles nacheinander in kleinen Einzelschritten operieren oder sie unterziehen sich einem größeren Eingriff, an den sich nach einer halbjährlichen Erholungsphase der Hodenaufbau und die Erektionshilfe anschließen. Dabei ist die jeweilige Krankenversicherung von Bedeutung, denn der große Eingriff, der in der Nähe von Berlin vorgenommen wird, kostet sehr viel und die Rechnungen sind nicht so transparent, wie es sich die gesetzlichen Krankenkassen wünschen. Andererseits kosten die einzelnen Operationen ebenfalls und in der Summe muss man auch die Komplikationsraten bedenken, die in Berlin äußerst niedrig sind. Arbeitgeber möchten natürlich, dass der Arbeitnehmer nicht so lange ausfällt. Die Frage nach dem richtigen Operateur kann einem keiner abnehmen. Das hat etwas mit Vertrauen zu tun. Deshalb geben wir in der Gruppe möglichst viele Adressen heraus und bitten unsere Besucher sich umfänglich zu informieren. Ich habe bei finanziellen Problemen mit einigen Kassen gesprochen. Meistens lassen sich Kompromisse finden und wer meine Hilfe möchte, darf zu mir kommen.
Zu den Gutachten ist zu sagen, dass diese hauptsächlich für das Gericht notwendig sind. Die Geburtsurkunde muss geändert werden und der Amtsrichter schreibt seinen Beschluss erst, wenn zwei unabhängig voneinander tätige Gutachter die transsexuelle Prägung festgestellt haben. Auch hier gibt es Unterschiede in Arbeitsweise und Gestaltung der Sitzungen und Gutachten. Ihr solltet jeweils eine Probesitzung machen, um zu sehen, ob euch der Arzt oder die Ärztin sympathisch ist. Wenn er/sie einwilligt, könnt ihr ihn dem Gericht im Antrag benennen. Das erleichtert dem Richter die Arbeit und ihr seid vor Überraschungen sicher. Wenn die Gutachten beim Gericht liegen, geht es relativ schnell. Den Beschluss über die Vornamen- und Personenstandänderung erhaltet ihr zugeschickt, zusammen mit einer Kopie der Gutachten. Die Kosten müsst ihr selbst tragen, es können mehr als tausend Euro dabei herauskommen. Mit dem Beschluss wird die Geburtsurkunde geändert und danach können Ausweise neu erstellt und Zeugnisse umgeschrieben werden. Dieses Procedere könnte sich bald ändern, wenn die Regierungsmehrheit im Parlament das Aus für das alte TSG und ein neues Meldegesetz beschließt. Wir müssen jetzt abwarten.
Zu einem wichtigen Punkt: Wenn ihr euch zum Geschlechtswechsel entschließt, müsst ihr euch outen. Das fällt manchen Leuten schwer, weil sie fürchten, Freunde oder Lebenspartner zu verlieren. Bei euch ist in dieser Hinsicht ja alles ziemlich paletti, denn eure Eltern unterstützen euch. Ihr müsst allerdings in eurer Schule Bescheid sagen. Die Gutachter schreiben dafür auf Wunsch sogenannte Alltagstestbescheinigungen aus, so dass ihr den Schuldirektor und eure Lehrer informieren könnt. Probleme treten manchmal beim Sport auf. Es muss die Frage des Umziehens und Duschens geklärt werden. Zeugnisse sind auf den neuen Namen umzuschreiben, wenn der Gerichtsbeschluss eingegangen ist. Es gibt aber auch die Möglichkeit, sie bereits vorher auf den neuen Namen auszustellen. Das ist rechtlich kein Problem. Wenn die Schulleitung Bedenken hat, könnt ihr euch bei mir melden. Ich spreche dort gerne vor. Wie gesagt, es ist seitens der Bundesregierung einiges auf den Weg gebracht worden und ich hoffe, dass die Änderungen spätestens im nächsten Sommer durch sind. Teure Gutachten für einen Verwaltungsakt sind wirklich unnötig. Für medizinische Behandlungen muss auf jeden Fall eine Indikation von Seiten eines Arztes gestellt werden. Daran wird und darf sich nichts ändern. Es ist natürlich wichtig, dass keine voreiligen irreversiblen Maßnahmen ergriffen werden. Man muss sich schon sehr sicher sein, was man will und sich die Konsequenzen bewusst machen.
Ein Problem könnte Mobbing in der Schule sein. Es kommt darauf an, wie selbstbewusst und selbstverständlich ihr auftretet. Häufig ist das Outing nicht nur ein Befreiungsschlag für die eigene Seele, sondern wird zum Aha-Erlebnis für Schulkameraden und Freunde, die immer schon wussten, dass irgendetwas mit Freund/Freundin nicht stimmen konnte. Es gibt aber leider auch Leute, die sich schlecht verhalten. Ich habe bereits Kontakte zu mehreren Hamburger Schulen aufgebaut und dort referiert. Da müssen dann die Lehrer erklärend und fördernd eingreifen. Wenn etwas Außergewöhnliches auftritt, bitte meldet euch unbedingt bei mir. Das hat mit Petzen nichts zu tun, das gehört in den Bereich Aufklärung.
Ja, das war es erst mal grob. Wer hat Fragen?“ Anneliese nahm die Kaffeekanne in die Hand. „Wer möchte noch?“ Rolf beeilte sich und hielt ihr seine Tasse entgegen. Auch seine Frau nickte. „Gerne, alles ist vorzüglich, Anneliese. Ich möchte etwas fragen, Herr Petersen, aber ich trau mich irgendwie nicht.“ „Es gibt keine dummen Fragen, bitte, dafür bin ich hergekommen.“ „Also, wenn Oleg operiert ist, kann er keine Babys mehr bekommen und als Mann wird er ja sicher keine zeugen können. Ich möchte so gerne Enkelkinder und ich glaube, ihr beide wollt doch auch irgendwann einmal Kinder haben?“ Peter lächelte. Der Abend war nach seinem Geschmack. Er brauchte keine Überzeugungskraft aufzuwenden und diese beiden Familien strahlten etwas ganz Besonderes aus. Die Eltern standen voll hinter ihren Kindern. Klaus lehnte sich im Sessel zurück. „Kann man nicht Eizellen einfrieren?“ Peter lächelte noch immer. „Ja, das ist heute in Absprache mit fast allen Operateuren möglich. Und es ist in Deutschland nicht verboten. Sollten die beiden eines Tages mit Frauen liiert sein, könnten diese sich die befruchteten Eizellen einsetzen lassen. Sie wären zwar in jedem Fall nach geltendem Recht die Mütter, obwohl die Eizellen nicht von ihnen stammen, aber das ist in einer derartigen Konstellation natürlich kein Problem. Die Jungs müssten sich einen Samenspender suchen, wären offiziell Väter. Nur eine Leihmutterschaft ist in Deutschland noch verboten. Das kommt in Frage, wenn sich die zwei entschließen, als schwules Paar zu leben. Es gibt die Möglichkeit der Einlagerung von Eizellen im Nachbarland Holland und dort ist man auch hinsichtlich nicht kommerzieller Leihmutterschaft weiter. Das Problem sollte mit dem Endokrinologen besprochen werden. Ich rate euch dazu. Es gibt Berichte, wonach Transmänner noch nach der Testosterongabe schwanger wurden. Dazu müssen kurzzeitig wieder weibliche Hormone eingenommen werden und weil niemand weiß, wie sich Testosteron im mütterlichen Körper auf einen weiblichen Fötus auswirkt, sollte man die Finger davon lassen. Also, Kinderwunsch entweder vor der Hormonbehandlung erfüllen, oder Eizellen einfrieren lassen.“ Ole sah Toni an. „Peter, was sollen wir mit der Schule machen? Können unsere Eltern mit dem Direktor sprechen, oder dem Klassenlehrer?“
„Ich würde euch jetzt raten, noch gar nichts zu sagen. Besorgt euch erst Termine bei Frau Dr. Krause. Wenn sie von euch überzeugt ist, bittet ihr sie um ein kurzes Schreiben zur Vorlage in der Schule. Zeitgleich trefft ihr eure Gutachter und bittet auch dort um eine Alltagstestbescheinigung. Ihr könnt jetzt bereits anfangen eure Lebensläufe zu fertigen. Vor allem eure transsexuellen Wünsche und Gefühle solltet ihr aufschreiben. Erzählt, seit wann ihr den Wunsch hegt, als Jungen zu leben. Frau Dr. Krause wird euch stärken und wir in der Gruppe natürlich auch. Am besten wäre es, wenn eure Eltern sich um einen Termin beim jeweiligen Schulleiter bemühen und ihm Kopien der Alltagstestbescheinigungen vorlegen. Ich habe mit einem Hamburger Gymnasialdirektor einmal für ein vierzehnjähriges Mädchen eine Strategie erarbeitet, die hervorragend in der Klasse angekommen war. Der Biologielehrer sprach das Thema im Unterricht an und fragte die Schüler, wie sie mit einem Kameraden umgehen würden, wenn sich dieser als Trans outete. Im Laufe der Stunde ging einer der Jungen raus und kam nach fünfzehn Minuten als Mädchen wieder in die Klasse. Sie sagte nur: „Ich bin Aileen und ich bin Trans. Es wäre nett, wenn ihr mich in Zukunft als Mädchen betrachtet. Jetzt könnt ihr zeigen, wie cool ihr seid!“ Das Ganze war ein voller Erfolg. Das Thema wurde im Biounterricht in allen anderen Klassen ebenfalls kurz durchgenommen und Aileen gehörte sofort zu den Mädchen, die mit Argusaugen darauf achteten, dass sie nicht mehr auf die Jungstoilette ging. Sie zog sich bei den Mädchen zum Sport um und als sie die ersten Hormone mit siebzehn Jahren bekam, duschte sie auch mit ihnen. Sie war schon sehr früh in Behandlung, so dass mittels einer Spritze die ursprüngliche Pubertät unterdrückt wurde und sie eine hohe Stimme behielt. Ich hab sie vor einiger Zeit getroffen und fast nicht wieder erkannt. Sie studiert Medizin und setzt sich für Transsexuelle im Internetblog ein.“ Klaus hörte aufmerksam zu.
„Ich bin Geschichtsdozent an der Uni Hamburg. In meinen Vorlesungen gibt es zwei transsexuelle Frauen. Wir sprachen vor ein paar Tagen über Toni. Eine erzählte, sie kommt öfter in Ihre Gruppe. Sie heißt Sandra Winkler.“ Peter musste lachen. „Oh, die Welt ist klein und Hamburg ein Dorf. Aber das ist gut, dann haben Sie eine Ansprechpartnerin, obgleich sich der Weg der Angleichung bei den Frauen natürlich anders gestaltet. Wenn Toni und Ole regelmäßig in die Gruppe kommen, werden sie Sandra sicher kennen lernen. Sie durchläuft grad das Gutachterverfahren und bemüht sich um Operationsmöglichkeiten.“ Rolf war nachdenklich geworden. Er hatte anfangs Bedenken gehabt, als er von Oles Problem erfuhr. Gesetze und das tatsächliche Leben waren zweierlei. Es gab nach wie vor Mobbing und Ablehnung gegenüber Homosexuellen und Transsexuelle bildeten keine Ausnahme. Er kämpfte mit der Angst, Ole könnte Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen und mit der Gesellschaft bekommen. Seine Frau war aus Russland ausgewandert, weil ihre Familie wegen der homosexuellen Veranlagung ihres Bruders dort geächtet wurde. Sein Schwager Igor verbrachte sogar einige Jahre in einem Arbeitslager. Als Tamara, die im Moskauer Ballett auftrat, ein Engagement in Hamburg erhielt, nahm sie es erleichtert an. Er hatte seine Frau durch einen Freund dort kennen-und lieben gelernt. Igor lebte nach wie vor in Moskau, denn die Eltern waren krank und benötigten Hilfe. Sie sprachen oft darüber, wie frei und ungezwungen das Leben in Deutschland sei. Igor überlegte bereits eines Tages Russland wegen dessen homophober Gesellschaft zu verlassen und nach Deutschland zu kommen. Während Peter einen Schluck aus seiner Kaffeetasse nahm, begann Rolf von seinem Schwager und den Problemen in Russland zu erzählen. Es wurde sehr ruhig im Wohnzimmer. Anneliese nahm spontan Tamaras Hand, die dies zuließ und ihre neue Freundin dankbar ansah. Jeder war überwältigt von Mitgefühl. Peter setzte seine Tasse ab. „Ich habe einige Kontakte zu russischen Transsexuellen. In Polen sieht die Situation nicht besser aus. Es ist schade, dass es in Ländern, die eigentlich aufgeschlossen und modern am Weltgeschehen teilhaben wollen, solche menschenfeindlichen und antiquierten Vorurteile gibt. Mit der orthodoxen Kirche ist das allein nicht zu erklären. Es kommt auch auf die Staatsführung an. Man kann nur hoffen, dass der natürliche Lebenslauf bald Abhilfe schafft und andere, jüngere und fortschrittlich denkende Leute an die Regierung kommen. Ich gebe euch die Anschrift von Frau Dr. Krause und den beiden möglichen Gutachtern. Einer ist sogar von hier, so dass ihr ihn fuß läufig erreichen könnt. Die andere ist eine Professorin aus Hamburg, die in der Psychiatrie in Eppendorf arbeitet. Beide sind versiert und den Amtsrichtern bekannt. Wir haben bislang gute Erfahrungen mit Ihnen gemacht. Es ist wichtig, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen Gutachter und Patient entsteht. Das kann nur wachsen, wenn man konstruktiv und ehrlich miteinander umgeht. Ihr solltet euch die Termine getrennt holen und auch allein dort hingehen. Erst wenn es gewünscht wird, können eure Eltern dazukommen. Ihr seid ja keine kleinen Kinder mehr. Es geht um euer Leben, für das ihr selbst verantwortlich seid. Es kann natürlich auch sein, dass sie die Begutachtungen im Hinblick auf das neue Gesetz bereits ablehnen. Ich bin gespannt, was Frau Dr. Krause dazu sagt. Nächste Woche Freitag findet das nächste Gruppentreffen bei uns statt. Vielleicht wisst ihr bis dahin schon mehr und eure Eltern begleiten euch. Wir wollen und dürfen nichts überstürzen. Deshalb ist die Stellungnahme von Frau Dr. Krause wichtig. Sie hat einen Blick für ihre Patienten und hinterfragt euch. Das tun die Gutachter übrigens ebenfalls. Doch es bleibt im Rahmen. Intelligenztests und entwürdigende Fragen nach sexuellen Vorlieben entfallen dort. Die arbeiten äußerst pragmatisch. Die Begutachtung dauert die notwendige Zeit, aber auch nicht unverhältnismäßig länger.“ Peter nahm zwei Zettel aus seiner Aktenmappe, die er an Toni und Ole gab. Beide bedankten sich. Als Anneliese Peter noch einen weiteren Kaffee einschenken wollte, wehrte er freundlich ab. „Wenn im Augenblick keine wichtigen Fragen mehr anstehen, würde ich mich gerne verabschieden wollen. Ich hab noch eine weitere Verabredung und muss morgen früh wieder zur Arbeit.“ „Ich glaube, das war eine ganze Menge Neues, das wir verarbeiten müssen. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. Herr Petersen, wir bedanken uns ganz herzlich für Ihren Besuch. Wir werden auf jeden Fall zur nächsten Gruppensitzung mit Toni mitkommen und freuen uns schon darauf.“ Klaus erhob sich. „Bitte bleibt, noch“, sagte er zu Rolf und Tamara gewandt. Auch die Baumanns verabschiedeten sich von Peter, bekräftigten ihre Vorfreude auf den Besuch in der Gruppe zusammen mit Ole am Freitag in einer Woche. Anneliese und Klaus brachten ihren Besuch zur Tür. Dies war erst der Anfang. Das ahnten alle. Sie würden noch viele Gespräche miteinander führen. Aber der Weg für ihre Kinder in ein neues Leben lag vor ihnen. Wie er verläuft und was er bringen wird, ob er sich als richtig oder falsch herausstellt, das wird die Zukunft zeigen. Als Peter das Haus der Familie Obermöller verlassen hatte, ließ er sechs Menschen mit gemischten Gefühlen am Kaffeetisch zurück.
Toni und Ole beschlossen am nächsten Tag bei der Psychotherapeutin anzurufen. Sie wurden von ihren Eltern darin bestärkt. Anneliese schenkte nach und schickte einen Teller mit Keksen herum. Es war halb zehn Uhr durch. Rolf sah auf die Wanduhr, atmete tief aus. „Ja, das war sehr interessant. Wir sind ein ganzes Stück weiter und ihr zwei“, er blickte lächelnd zu Toni und Ole, „geht eure Schritte in eurem eigenen Tempo. Wir werden euch begleiten und ich freu mich auf die Bekanntschaften in der Gruppe. Es ist spät. Ole, morgen ist Unterricht. Anneliese, Klaus, wir bedanken uns herzlich für die Einladung. Es hätte nicht besser laufen können.“ „Ja, und ich melde mich demnächst mit der Gegeneinladung, damit ihr auch unser bescheidenes Heim kennenlernen könnt“, erklärte Tamara, während sie aufstand. Irgendwann tummelten sich alle Baumanns angezogen in der Tür. „Bis die Tage, man sieht sich morgen Nachmittag in der Eishalle“, meinte Ole. Toni grinste. „Schöne Träume von Amelie.“ Er löste damit bei Ole ein neckisches Schmunzeln aus. „Julia wird dir schon Benehmen beibringen, sie hat die Hosen an.“
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Tonis Gedanken am Mittwochvormittag verließen die Deutschstunde. Dabei handelte es sich nicht um den von ihm so geschätzten und geliebten Lenz-Roman aus der Zeit des zweiten Weltkriegs. Toni saß im Deutsch Leistungskurs. Seine kleinen grauen Gehirnzellen befassten sich mit dem ersten Gespräch bei Frau Dr. Krause, das so schnell wie möglich stattfinden sollte. Angestrengt überlegte er sich einen Text, mit dem er seine Lebensbeschreibung beginnen konnte. Tonis Gehirn konzentrierte sich auf die ersten Worte des Aufsatzes, mit dem er die Psychologin beeindrucken wollte, um ihr detailliert Einblicke in sein tief empfundenes männliches Innenleben, in seine Seele, zu geben. Goethe kam darin nicht vor. Anders in der Welt des Marius Springer. Der fünfundfünfzigjährige Oberstudiendirektor war Deutsch- und Lateinlehrer mit Leib und Seele. Seit zehn Jahren leitete der Goethe Fan das Goethe Gymnasium vor den Toren Hamburgs. Iphigenie auf Tauris gehörte zu seiner Lieblingslektüre. Verzückt stand er am Fenster im Unterrichtsraum der 11b, ließ seinen Blick hin und wieder über den verwaisten Schulhof und die mächtige Kastanie in der Mitte schweifen, betrachtete missbilligend das Chaos zweirädriger Fortbewegungsmittel an den beiden Fahrradständern, welches seine Schüler an jedem Vormittag hinterließen, bevor sie in ihren Klassenräumen verschwanden. Es musste dringend ein dritter her, um dort halbwegs etwas wie Ordnung herstellen zu können! Die Klasse las aus dem Roman des Namensgebers seiner Lehranstalt und Marius freute sich wie ein kleines Kind, mit welcher Hingabe der Deutschleistungskurs das Schicksal der jungen Priesterin Iphigenie verfolgte. Dass das Interesse hauptsächlich bei ihm selbst lag, bemerkte er nicht, oder er wollte es nicht bemerken. Die klassische Tragödie! Goethe schuf Meisterwerke. Er besiegte stets das Böse, das Gute überlebte. Iphigenie konnte ihren Gönner König Thoas nicht betrügen, liebte gleichzeitig ihren Bruder Orest und steckte in einer Zwickmühle. Sie hatte Heimweh, fühlte sich der Göttin, der sie diente und die ihr einst das Leben rettete, verpflichtet. Orest wollte sie nachhause zurückbringen, jedoch Thoas sie nicht gehen lassen. Iphigenie entschloss sich zur Ehrlichkeit. Orest und sein Freund Pylades wollten die Statue der Göttin rauben und mit Iphigenie fliehen. Sie erzählte alles dem König, in der Hoffnung, er würde sich dadurch gnädig stimmen lassen. Marius Springer hob seinen Kopf, der bereits eine ausgeprägte Halbglatze aufwies. Das weiße Haar am Kranz seines Hinterhauptes schimmerte im Sonnenlicht, es schien, als umgab ihn in ungefähr zwei bis drei Zentimeter Höhe eine Corona. Toni bekam nichts davon mit. Seine Banknachbarin Eva starrte ihren Direktor an, suchte Blickkontakt zu Heike, die ihr gegenüber saß. Erstaunt und mit großen Augen erkannte die den vermeintlichen Heiligenschein über dem Kopf des Direx ebenfalls, der nicht ahnte, welche Ehre ihm durch das einzigartige Lichtschauspiel zuteilwurde. Er deutete die Blicke der beiden Mädchen falsch, führte sie auf die Anteilnahme am Los und Schicksal der Protagonistin zurück und wunderte sich, warum Toni ausgesprochen abwesend auf sein Textbuch schaute. Marius wollte es genau wissen. Er musste es einfach wissen. War seine Lieblingsschülerin so tief in das Drama vor ihr eingetaucht, dass sie ihre Umgebung nicht mehr wahr nahm? „Worin besteht der Unterschied zwischen einer Personenbeschreibung und einer Charakterisierung? Und was bedeutet das für unsere“, ja er sagte „unsere“ „Iphigenie?“ Tanja, was meinen Sie?“ Fast liebevoll ruhte sein Blick auf Toni, als erwarte Marius eine Antwort, die den Gedanken Johann Wolfgangs in nichts nachstand und dessen Dichtkunst ins magische, göttliche erheben würde. Eine erneute Eins Plus für mündliche Leistungen waren Toni sicher. Sofern er Bedeutung und Größe des Augenblicks erkannte und im Sinne Marius‘ reagierte. „Tanja?“ Die Stimme wurde eindringlicher. Nachbarin Eva ahnte, dass ihre Stunde gekommen war. Unter dem Tisch schob sie ihre Hand in Richtung Tonis rechten Oberschenkel und krallte ihre spitzen messerscharfen rot lackierten Fingernägel in eben diesen. Toni schrie auf. Starrte Eva an, bemerkte dunkel, was sie ihm mitteilen wollte und erblickte… die Corona auf dem Haupte des Direktors. „Ääh, Sie …Sie haben da was? Oder…was ist los?“ „Was habe ich? Tanja, es geht um das Schicksal Iphigenies! Goethe, sein Werk, wir befinden uns auf den Schwingen höchster deutscher Dichtkunst!“ Marius fühlte sich zutiefst verletzt. Er schluckte. Was war mit Tanja los? War sie etwa krank? So teilnahmslos kannte er sie nicht. Die Verantwortung als Lehrkörper kehrte langsam in ihn zurück. „Tanja, kommen Sie bitte nach der Stunde zu mir!“ Er bewegte sich in Richtung des Lehrertisches, die Corona verschwand. „Wer kann die Frage beantworten?“ Die Schüler beeilten sich angestrengt in ihre Lektüre zu sehen. Die Klingel wurde für alle zur Erlösung. Marius schritt zur Tafel, die es trotz modernster Technik noch gab, nahm ein ordinäres Stück Kreide und wiederholte seine Frage schriftlich, mit dem Vermerk: Hausaufgabe. Toni saß etwas zerknittert auf seinem Stuhl. Auch das noch! Deutsch war eines seiner Lieblingsfächer und er hatte eigentlich nichts gegen Goethe. Nur nicht heute. Er wollte seine Lebensbeschreibung anfangen, denn am Nachmittag sollte das Telefonat mit der Psychologin stattfinden. Toni hoffte auf einen raschen Termin. Im Internet stand, dass es Kriseninterventionen gab, die einen schnellen zeitnahen Termin ermöglichten. Er packte seine Sachen ein und machte sich auf den Weg ins Direktorat. Die Schüler durften ohne den Umweg über die Sekretärin an die Tür klopfen, wenn sie etwas vom Direx wollten oder von diesem zu einer Audienz geladen waren. „Herein“. „Sie wollten mich sprechen, Herr Dr. Springer?“ „Nehmen Sie Platz, Tanja. Ich mach mir Sorgen um Sie. Sie sind mit Abstand eine meiner besten Schülerinnen und ich schätze Ihren Vater sehr! Doch bevor ich ihn anrufe, möchte ich mit Ihnen selbst sprechen. Haben Sie Probleme, kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ Marius meinte es ernst. Toni atmete ein. Vielleicht sollte er die Gunst der Stunde nutzen? Selbst wenn ihm die Alltagstestbescheinigung noch fehlte, aber es war möglicherweise an der Zeit, den Direx einzuweihen. Was konnte ihm passieren? Peter hatte gesagt, Trans ist weder ansteckend noch gefährlich und nichts, wofür man sich schämen musste. Angriff! „In der Tat, Herr Direktor. Es gibt da etwas. Ich bin Frau zu Mann Transsexuell. Meine Eltern wissen Bescheid und wollen mir beim anstehenden Geschlechtswechsel helfen. Ich bekomme Sitzungen bei einer Psychologin und muss Gutachtertermine wahrnehmen, damit ich bei Gericht meinen Vornamen- und meinen Personenstand ändern kann. Ich brauche neue Papiere. Mit spätestens achtzehn Jahren darf ich männliche Hormone einnehmen und mich operieren lassen. Ich heiße zuhause nicht mehr Tanja, sondern Toni. Wir hatten gestern Besuch von einem Sozialarbeiter, der eine Selbsthilfegruppe in Hamburg leitet und mich begleiten wird. Ja, ich war heute unaufmerksam im Unterricht, weil ich für die Psychologin eine Lebensbeschreibung fertigen will. Eigentlich mag ich Goethe sehr und ich finde Iphigenies Ehrlichkeit toll, aber das wissen Sie ja. Entschuldigung, ich werde mich bemühen, besser aufzupassen.“ Boar! Toni staunte über sich. Alles kam klar und reibungslos aus ihm heraus. Besser konnte er sich nicht erklären. Marius Springer saß sprachlos im Sessel. Sein Gehirn arbeitete. Vor ein paar Jahren gab es einen ähnlichen Fall an einer Hamburger Schule. Da wurde aus einem Jungen ein Mädchen. Oder war der Junge von Anfang an ein Mädchen gewesen und sah nur wie ein Junge aus? Marius erholte sich. „Tanja, das konnte ich nicht wissen. Aber ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um Ihnen zu helfen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihre Eltern anrufe? Wir sollten uns absprechen. Ich weiß wenig über das Problem, vor allem, weiß ich nicht, wie so etwas in den Schulen gehandhabt wird. Es gab vor ein paar Jahren in einer Hamburger Schule einen Jungen, der zum Mädchen wurde. Ich werde den Direktor dort fragen, was zu tun ist. Bitte, vergessen Sie nicht Ihre Ausbildung und den Lernstoff. Sie sind sehr begabt und haben das Zeug zu einem guten Studium.“ Marius war bei den letzten Worten aufgestanden und auf Toni zugegangen, der sich sichtlich erleichtert von seinem Stuhl erhob. Es läutete zur nächsten Stunde. Er musste sich beeilen. Der Biologiesaal lag im anderen Gebäudekomplex. „Danke, Herr Direktor, ich hab jetzt Bio! Ich werde mich weiterhin in der Schule anstrengen. Vielleicht können Sie sich ja an Toni gewöhnen. Ich muss es auch den Mitschülern und Lehrern erzählen.“ „Das mache ich, Toni. Aber ich werde erst mit Ihrem Vater telefonieren. Wir kennen uns aus einer seiner Vortragsreihen gut. Seien Sie unbesorgt und jetzt laufen Sie, damit Sie nicht zu spät kommen.“ Uff! Toni nahm die Beine in die Hand und schaffte es gerade noch vor Frau Dr. Heineken in den Bioraum. Es ging viel in seinem Kopf herum. So sehr er sich auch bemühte, ganz bei der Sache blieb er nicht. Im Biokurs waren andere Mitschüler dabei, als im Deutschunterricht. Nur Heike gehörte noch dazu und hatte Toni einen Platz neben sich frei gehalten. Nach der Stunde hielt sie ihn am Ärmel fest. „Hey, was ist mit dir? Du bist sonst wesentlich besser drauf? Hast du Probleme, kann ich dir helfen? Ich hab schon mit Eva gesprochen. Wir sind für dich da. Ich weiß, wie es ist, wenn man mit den Eltern umziehen muss. Ich hab das auch ein paarmal erlebt. Mein alter Herr ist bei der Bundeswehr. Da ist ein Nomadenleben vorprogrammiert.“ Jetzt schien alles auf den armen Toni einzustürzen. Das erste Comingout beim Direktor und es sah so aus, als ob das nächste bei den Mädchen folgen sollte. „Ja, du kannst Eva dazu holen. Wir treffen uns unterm Fahrradständer nach der letzten Stunde, okay?“ Heike nickte. „Kein Problem, Eva und ich können dicht halten. Das ist nicht bei allen der Fall!“

Toni wechselt die Seite
Es ebbt, hieß das Thema, welches das künstlerische Talent der Schüler fordern sollte. Zwei Stunden Kunstunterricht waren relativ schnell vergangen. Toni, der erst ein einziges Mal ein Wochenende an der Küste verbracht und angestrengt versucht hatte, sich an die Besonderheiten des Wattenmeeres zu erinnern, schaute nicht ganz unzufrieden auf sein Werk. Wobei, viel war für den Betrachter auf dem Din A3 Blatt Papier nicht zu erkennen. Es brauchte einiges an Phantasie, um aus den ineinander gelaufenen Farbklecksen etwas wie Wattboden heraus zusehen. Verstohlen blickte er zur Seite und betrachtete Marios Zeichnung. Der bemerkte den neugierigen Blick seines Nachbarn. Eine hervorragende Möglichkeit um sich zu profilieren tat sich auf. „Was sagst du? Dort gräbt gerade ein Wattwurm und das Weiße ist eine Muschel. Ich bin doch ein genialer Künstler, oder Tanja?“ Mario erwartete tatsächlich ein anerkennendes Wort. Toni grinste. „Ich würde sagen, der Wurm ist eine Scholle und das Weiße, na, Muschel? Ich weiß nicht recht. Aber Picassos Bilder sind ja auch erst nach seinem Tod richtig teuer geworden!“ „Wie findest du hingegen meinen Monet?“ Mario atmete tief aus. Das war gemein, er hatte sich solche Mühe gegeben. „Du solltest nicht daran denken, als Maler deine Brötchen zu verdienen. Du würdest elendig verhungern.“ Die Revanche kam auf dem Fuß. Toni fühlte sich allerdings nicht beleidigt. Mit einem lächelnden ‚Danke für die Blumen‘ nahm er sein Bild und legte es zum Trocknen in die Fensterbank. Heike und Eva fielen ihm abrupt ein. Er musste Farbe bekennen. Lustig, nach dem Zeichenunterricht, an Farbe zu denken. Einen Plan hatte er noch nicht. Kunstlehrer Remmers entließ seine Klasse mit freundlichen Worten, nachdem das Pausenzeichen gleichzeitig auch das Ende des Unterrichts eingeläutet hatte. Der Boden im oberen Stockwerk des altehrwürdigen Goethe Gymnasiums knarrte, als die zwölf Jugendlichen den Zeichensaal verließen. Tonis Ziel war allerdings nicht die Treppe, die in drei Etagen nach unten führte, sondern erst einmal die Toilette. Er musste sich die Hände waschen. Im Zeichensaal gab es nur ein einziges Waschbecken, welches natürlich nach dem Tuschen von allen Schülern gleichzeitig belagert wurde. Gewohnheitsmäßig stieß Toni die Mädchentoilette auf. Eigentlich gehöre ich hier gar nicht hin, fiel ihm ein. Er versuchte die aufkommende Unruhe zu übersehen, indem er sich konzentriert an der Seife zu schaffen machte. Warmes Wasser war Fehlanzeige, aber er bekam das meiste von seinen Händen ab. Wasserfarbe ließ sich problemlos entfernen. Mit beiden Händen fuhr er sich durchs Haar. Die nassen Finger formten kleine Strähnchen aufrecht über den Mittelscheitel. Es war gar nicht so leicht gewesen, die Friseurin davon zu überzeugen, ihm einen Jungenhaarschnitt zu verpassen. Aber sie hatte gute Arbeit geleistet. Wären die Haare länger gewesen und er hätte Gel gehabt, könnte er sich nun mit einem Irokesenschnitt zeigen. So war es immerhin ein kleiner Irokese geworden. Kleinvieh macht auch Mist, dachte er und schloss die Klotür hinter sich. Ruhe lag über dem Schulgebäude. Das beschwingte Gefühl alles richtig zu machen, gab Toni Zuversicht. Die Stufen knarrten, als er die hohe Treppe hinabstieg. Das Gebäude war bereits im neunzehnten Jahrhundert gebaut worden und diente Generationen von Schülern als Lehranstalt. Anfangs als reine Jungenschule. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden ebenfalls nur Jungen dort unterrichtet, bis eine Kultusministerkonferenz in den frühen 60er Jahren ein gemischtes Gymnasium für Mädchen und Jungen daraus machte. Er verzog routinemäßig das Gesicht, als er auf der unteren Stufe ankam und den Musikraum passierte. Meistens übte dort das Orchester und es drangen ständig furchtbare Töne ins Treppenhaus. Heute schien sich niemand mit Mozart und Bach zu beschäftigen. Auch die nächste Treppe knarrte gehörig, während Toni versuchte die Füße so vorsichtig wie möglich auf zusetzen um geräuschlos die Schule zu verlassen. Nach der letzten Etage hatte er es geschafft. Er war an der Hoftür angekommen, spähte mit einem Seitenblick auf den Kakaoautomaten in der Ecke. Für fünfzig Cent gab es dort kalten und warmen Kakao, Tee und warme Brühe. Toni liebte den Geschmack des billigen Brühwürfels, der eine Hühnersuppe suggerieren sollte. Er nahm sich ein Geldstück aus der Hosentasche und wartete geduldig darauf, dass das Getränk in den Becher lief.
Mit dem Becher in der Hand, stieß sein Arm die Tür auf, er atmete die frische Luft ein und setzte sich auf die nebenstehende Bank. Appetitlicher Weise hatte der Hausmeister diese gleich neben den Müllcontainer platziert, was der Bank den passenden Beinamen eingebracht hatte. Man traf sich vorne am Müll. Nun, die Verabredung heute mit Heike und Eva fand auf der anderen Seite der Schule statt. Die dort auf ihn wartenden Mädchen konnten ihn nicht sehen und das gab ihm einen Moment der Einkehr und des Sammelns. Der Genuss der Brühe blieb auf der Strecke. Wie würden die Mädchen seine Transsexualität aufnehmen? Würden sie ihn auslachen, vielleicht mobben? Toni war sich nicht sicher. Er kannte beide Schulkameradinnen noch nicht lange genug, obgleich sie in der Vergangenheit stets einen guten Eindruck auf ihn gemacht hatten. Sie gehörten wie er zu den besseren Schülern und hielten sich während der Pausen von den oftmals derben Bemerkungen und Handlungen der anderen zurück. Heike und Eva waren wie Toni mehr am Schulstoff interessiert und strebten gute Noten an. Wohlan, Toni gab sich einen Ruck, warf den leeren Becher in den Papierkorb. Lässig hob er seinen grauen Schulrucksack über die Schulter und überquerte langsam den Schulhof. Nach exakt 75 Metern endete die Laufstrecke an Stufen, die zum Nachbargebäude führten. Die Sportlehrer hatten alles genau ausgemessen. Generationen von Schülern sprangen nach dem Wettlauf die Stufen hoch, um sich auszulaufen. Toni passierte die Gymnastikhalle. Die war ihm nie ganz geheuer, denn er gehörte zu den Mädchen, und die Gymnastikhalle mit dem kleinen Klavier, auf dem er sich zum Ärger der Sportlehrerin stets am Flohwalzer versuchte, war deren Domäne. Nur selten ließen die Jungen ihre Schulkameradinnen in die Turnhalle. Meistens beließ es Frau Clausen bei Reifen oder Keulen. Auch blaue platte Gymnastikbälle, welche sich wohl danach sehnten, mal wieder aufgepumpt zu werden, gehörten zu ihren Sportgeräten. Manchmal, wenn die Jungs draußen auf dem Sportplatz Fußball spielten, durften sie in die große Turnhalle. Frau Clausen war Volleyballfan und hatte ihre Mädels mit den Kniffen der Sportart früh vertraut gemacht. Selbst Toni konnte dem Spiel etwas abgewinnen, es war eine Mischung aus Technik und kämpferischem Einsatz. Das Gebäude der ehemaligen Realschule, die schon lange dem Gymnasium angeschlossen worden war, lag vor ihm. Die Realschüler bekamen vor etlichen Jahren einen piekfeinen Neubau am anderen Ende der Stadt. Die neuen Fahrradständer befanden sich rechts. Toni blickte in die Richtung, aus der Stimmen schallten. „Da bist du ja!“, rief Heike aus. Neben Eva stand auch Mario. Toni mochte den dunkelhaarigen sechzehnjährigen Jungen eigentlich ganz gern. Auch er glänzte mehr durch gute Leistungen und Zurückhaltung als durch aufschneiderisches Benehmen. In diesem Moment war sich Toni nicht sicher, ob Marios Gegenwart eine so gute Idee sein würde. Aber er konnte es nicht ändern. „Lasst uns runter in die Teestube gehen und eine Cola trinken. Dort quatscht es sich gemütlicher!“, meinte Eva. Toni nickte. Die Teestube war ihre Schülerkneipe geworden und befand sich unterhalb des Museumsberges in der City in einer kleinen Seitengasse. Die Jugendlichen der Oberstufe aller drei Gymnasien trafen sich dort gern nach dem Unterricht oder in Freistunden. Der Besitzer hatte die Preise für Cola und die Spezialität des Hauses, Tee, moderat gehalten, so dass der Aufenthalt für die Schüler erschwinglich blieb. Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Es war kühl an diesem Novembertag, aber trocken. Der alte Friedhof lag friedlich vor ihnen und im Gegensatz zum Frühjahr piepsten und tschilpten im Winter keine Vögel mehr aus den alten Baumwipfeln. Mario konnte es nicht lassen und zog Toni mit seinem Prachtwerk aus der Zeichenstunde auf. Heike und Eva pflichteten ihm bei und ergossen ihr Fachwissen über Monet und die anderen impressionistischen Maler. Es ebbt würde sicher auf der Auktion einen hohen Preis erzielen, frotzelten sie. Toni sagte nichts. Ihn beschäftigte sein Comingout mehr. Danach würde er wissen, wie es die Klasse aufnahm. Die drei konnten seine Geschichte gut verkaufen. Sie waren alle auf ihre besondere Weise beliebt bei den anderen Mitschülern, die sich nicht so Leistungsstark präsentieren konnten. Eva wurde überdies zur Klassenstufensprecherin gewählt und ihr Wort hatte Gewicht. Wenn er diese drei auf seine Seite bringen würde, wäre das bereits die halbe Miete. Ständig Querelen und Mobbing ausgesetzt zu sein, darauf hatte Toni keine Lust. Seine Ruhe fiel auf.
Die Mädchen sahen sich an, sagten aber nichts mehr. Mario spazierte zufrieden neben ihnen. Er war in Eva verknallt, ließ es sich jedoch nicht anmerken und wagte nicht, ihr Avancen zu machen. Toni wäre ein guter Kumpel für ihn, dachte er, wenn es den kleinen Schönheitsfehler nicht gäbe. Toni war leider ein Mädchen. Trotzdem, vielleicht konnte er mal mit ihr über seine Gefühle Eva gegenüber reden. Die Truppe suchte sich einen gemütlichen Platz am hinteren Ende der Teestube. Die Bänke und Stühle hatte der Eigentümer dunkelrot anmalen lassen, blaue Auflagen zierten die Sitzgelegenheiten. Alles war schlicht und einfach gehalten und wies trotzdem einen gewissen Pfiff auf. Viel los war noch nicht im Lokal. Die Kellnerin nahm ihre Bestellungen auf. Wie gebannt hingen drei Augenpaare an Tonis Lippen. Nun, es musste irgendwann ohnehin sein. Peter hatte ihm zwar geraten, erst die Gespräche mit der Psychologin abzuwarten, doch Toni war sich seiner transsexuellen Problematik bewusst und hegte keinen Zweifel daran, dass die Ärztin zum selben Ergebnis kommen würde. „Wisst ihr, was Transsexualität ist?“, fragte er in die Runde. Heike nickte. „Das sind Leute, die mit ihrem Geschlecht nicht klarkommen. Tanja!“ Sie hielt sich die Hand nach dem kleinen Aufschrei vor den Mund. „Du wirkst auf mich nicht wie ein Mädchen. Wir haben schon öfter über dich gesprochen, Eva, sag auch was!“ Die blickte mit großen Augen auf ihre Schulfreundin. „Das stimmt. Du kommst wirklich wie ein Junge ‘rüber. Willst du dich operieren lassen?“ Toni lächelte. Man sah ihm die Erleichterung an. Jetzt war es endlich ‘raus. „Ich habe Kontakt zu einer Hamburger Selbsthilfegruppe aufgenommen und will heute Nachmittag bei einer Psychologin anrufen. Mein Freund von der Bonhoeffer-Gesamtschule hat dasselbe Problem, wir gehen den Weg gemeinsam. Im Augenblick müssen wir uns in der Schule outen. Eigentlich sollte ich die Stellungnahme der Ärztin abwarten. Sie gibt uns eine Bescheinigung für den Alltagstest. Neben der Psychotherapie müssen zwei unabhängig voneinander arbeitende Gutachter die Transsexualität bestätigen, damit wir unsere Papiere ändern können. Die Geburtsurkunde muss umgeschrieben werden und das Abizeugnis wird dann auch auf den neuen Namen lauten. Danach oder auch nebenher beginnt die Hormonbehandlung mit Testosteron und es folgt die OP. Es ist alles etwas kompliziert, aber ich bin froh, dass es jetzt anfängt. Ich habe einiges im Sport vor und das geht erst, wenn ich die Geschlechtsanpassung hinter mir habe. Hoffentlich können alle in der Schule damit umgehen. Ich möchte mich nicht auch noch gegen Mobbing wehren müssen!“ Die Gruppe war während Tonis Bericht verstummt. Eine ältere Bedienung kam an den Tisch und stellte Getränke ab. Mario runzelte etwas die Stirn. „Was hast du?“, fragte Eva. „Wir sind junge modern aufgeklärte Menschen. Transidentität ist nichts Unnormales. Und bei den Jungs fällt der Wechsel viel weniger auf. Tanja ist kein Mädchen.“ Mario schüttelte abwehrend den Kopf und bewegte in derselben Weise seine rechte Hand. „Das meine ich nicht. Unter den Schülern wird es nur wenige Probleme geben. Das ist allein schon dem Kurswahlsystem geschuldet. Wir haben keine normalen Klassenverbände. Wie heißt du denn jetzt?“ „Toni“, antwortete dieser. „Okay, Toni. Für mich ist das auch kein Problem, ich muss mich nur an den neuen Namen gewöhnen. Du hast viel vor dir. Und alles läuft neben der Schule her. Wie nimmt es der Direx auf? Was passiert mit dem Sportunterricht? Ich denke, dass weniger die Schüler mobben, als der Lehrkörper. Von denen kommen nicht alle damit zurecht.“ Heike trank einen Schluck Tee. Sie begann zu kichern. „Ja, du hast Recht. Ich denke grad an das Gesicht von Madame. Und Frau Henningsen wird dich bestimmt nicht mit männlichem Vornamen ansprechen. Dazu ist sie zu alt.“ Alle lachten. Madame hieß eigentlich Marie Courvet und gab Französisch. Toni hatte Unterricht bei ihr und wollte Französisch im Abitur schreiben. Sie wurde von den Schülern wegen ihrer Schrulligkeit nur Madame genannt. „Ich bin ganz gut in allen Fächern. Sie kann mir keine schlechtere Note geben, wenn es nicht gerechtfertigt ist. Und es sind noch knapp drei Schuljahre, das kann ich wohl verschmerzen.“ „Wann bekommst du Hormone? Deine Stimme wird sich doch dann verändern?“, fragte Eva und ergänzte nicht ganz ohne Schadenfreude: „Stellt euch nur vor, sie spricht Toni mit Tanja an und der antwortet mit tiefem Bass. Das wirkt doch lächerlich. Außerdem ist Marius der Direx und was er anordnet, wird gemacht!“ Toni schmunzelte und trank seine Cola. „Ich habe vorhin mit ihm gesprochen. Er hat es ganz weltmännisch aufgenommen und will mit meinem Vater telefonieren. Er hält viel von ihm, glaub ich. Meine Eltern und auch Oles, haben sich großartig benommen. Sie unterstützen uns. Wir hatten den Leiter der Selbsthilfegruppe zu uns zum Kaffee eingeladen, damit er die Elternpaare beruhigen konnte. Aber das war gar nicht nötig. Die ahnten sowieso, dass irgendetwas mit uns nicht stimmt. Ich hoffe nur, Cornelia, meine Trainerin, kommt mit positiven Nachrichten von der Deutschen Eislaufunion. Ich soll Paarlauf trainieren. Julia geht in die UIII. Ich hab sie heute in der Pause gesehen. Wir träumen schon von der Teilnahme an den Deutschen Meisterschaften. Aber ob das etwas wird, hängt natürlich von unserem Talent und unserem Lernfortschritt ab. Wir müssen ganz viele Paarlaufelemente üben.“ Mario sah auf sein Handy. „Leute, ich muss los. Wann trainiert ihr? Ich komme mal in die Eishalle. War lange nicht mehr Schlittschuhlaufen.“ „Das kannst du gerne, wir trainieren jeden Tag um drei Uhr am Nachmittag. Oh je, ich muss auch los “, rief Toni erschrocken aus. Heike und Eva packten ihre Sachen und nahmen ihre Geldbörsen heraus. Heike hielt inne. „Du, hör mal. Wenn Marius bereits Bescheid weiß, können wir es doch auch über unsere App verbreiten. Das spart die einzelnen Aushänge. Und Frau Dr. Heineken könnte das Thema in Bio behandeln. Da gehört es auf jeden Fall hin. Vielleicht machen wir uns wegen Madame viel zu viele Gedanken. Eva hat Recht. Was der Direx sagt ist Gesetz. Darf ich etwas schreiben, Toni? Ich schicke es dir und dann kannst du es in den Verteiler geben.“ Das war genau nach Tonis Geschmack. Er musste noch bei Frau Dr. Krause anrufen, Hausaufgaben hatte er auf und um drei Uhr sollte er in der Eishalle sein. Es wurde knapp mit der Zeit. „Das kannst du gerne. Ich spreche nachher mit Ole. Vielleicht können wir den Text auch für ihn verwenden. Ich danke euch jedenfalls für eure Hilfe. Lasst mich bezahlen.“ Er wandte sich an die Bedienung am Tresen. „Das geht alles auf mich.“ Mario bedankte sich und klopfte Toni auf die Schulter. „Bis nachher, ich komme zur Eisbahn.“ Toni gab der Bedienung einen 10 Euro Schein. „Das stimmt so“, meinte er und schob die beiden Mädchen aus der Tür. Eva und er mussten zur Bushaltestelle. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig. Als Toni die Wohnungstür aufschloss, legte er zufrieden seinen Schulrucksack in der Diele ab. Die Eltern waren noch nicht zuhause. Er nahm sich sein Essen aus dem Kühlschrank und schob den Teller in die Mikrowelle. Es war besser gelaufen als er gedacht hatte. Heike war bereits eine kleine Schriftstellerin. Sie schrieb Geschichten auf einem Internet Forum und konnte hervorragend mit Sprache und Text umgehen. Sie wird bestimmt etwas Nettes zu Wege bringen. Da war er sich sicher. Nachdem er gegessen und das Geschirr in den Spüler gestellt hatte, holte er sein Handy. Bei Frau Dr. Krause schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Sie nahm nur in den letzten zehn Minuten vor der vollen Stunde selbst ab. Als Therapeutin saß sie die übrige Zeit mit ihren Patienten zusammen. Toni meldete sich und sprach seinen vorgefertigten Text, in dem er um einen Termin bat, auf das Band. Er bezog sich dabei auch auf Peter. Das hatte ihm dieser ausdrücklich geraten. Er schaute auf die Uhr. In einer Stunde begann das Training. Rasch beeilte er sich, die Deutschhausaufgabe einer Inspektion zu unterziehen. Er wurde schnell fündig und schrieb konzentriert seine Gedanken auf. Als er sich fürs Training umgezogen hatte, summte sein Handy. Der Termin war bereits da. Nächste Woche Montag um 17 Uhr sollte er bei Frau Dr. Krause sein. Damit hatte er das ganze Wochenende Zeit, an seiner Lebensbeschreibung zu arbeiten. Das müsste reichen. Um zehn Minuten vor drei Uhr verließ er zufrieden das Haus.
Seine drei kleinen Schützlinge standen kichernd am Eingang und warteten auf den Einlass, als er die Eishalle betrat. „Julia und Amelie sind verliebt in euch!“, riefen sie aus und gackerten weiter. „Ruhe, die Damen, warm machen und Schlittschuhe an. Damit ihr fit seid, wenn die Chefin kommt!“ Er versuchte seine Stimme etwas ernster klingen zu lassen. Aber die lustige und heitere Atmosphäre im Kassenraum der Eishalle steckte auch ihn an. Natürlich merkten die Mädchen, dass er nicht ernsthaft böse war. Sie wechselten plappernd das Thema. Als der Uhrzeiger auf drei Uhr stand, öffnete die Kassenaufsicht ihr kleines Fenster. Die meisten Kinder und Jugendlichen zeigten nur kurz Jahreskarten vor. Einige Mütter hielten die Nachhut auf, weil sie bezahlen mussten. Toni schob seine Mädchen an der Kasse vorbei und lächelte die Kassiererin an. Wenn Conni kam, mussten sie alle warm und eingelaufen auf dem Eis stehen. Toni ermahnte die Kinder zur Eile. Vor allem profitierten sie von dem sauberen Eis. Es galt, je schneller man fertig war, umso besser war die Qualität. Heute hielt sich das Publikum in Grenzen. Mario fiel ihm ein. Er wird sicher noch an seinen Hausaufgaben sitzen, dachte er. Ole hatte sich ebenfalls noch nicht sehen lassen. Auch er wollte bei der Psychologin wegen eines Termins anrufen. Annalena und Sylvia sprangen aufs Eis. Die sechsjährige Anita jammerte. Sie konnte ihre Schlittschuhe nicht zubinden. „Ruhe, komm, ich helfe dir“, meinte Toni und schnürte ihr sorgfältig die weißen Stiefelchen. Die Mädchen trugen bunte Kürkleider. Anitas lange Haare waren mit einer grünen Schleife zusammengehalten. Sie sah süß aus und erinnerte Toni an die eigene Kinderzeit. Es war lange her und kam ihm wie eine kleine Ewigkeit vor. Als Cornelia mit Julia und Amelie erschien, hatte Toni seine Truppe fest in der Hand. Julia legte ihm von hinten ihre Hände vor die Augen. Die Mädchen kicherten, als sie sie fortnahm und ihm einen Kuss auf die Wange hauchte. Cornelia klatschte in die Hände. Amelie schaute sich suchend um. „Er ist noch nicht da, aber er wird sicher bald kommen“, meinte Toni tröstend. „Das hoffe ich für ihn.“ Amelie zog eine Schnute, was Toni zum Schmunzeln brachte. Typisch Frau, dachte er. Die zwei haben uns bereits gewaltig im Griff. Er nahm Julias Hand und begann sich zusammen mit ihr in Paarlaufhaltung einzulaufen. Es war auch für ihn ein ungewohntes Gefühl, sich mit einer Partnerin auf dem Eis zu bewegen. Ihre Hände mussten sich immer wieder finden, er durfte sie nie richtig loslassen und musste alle Schritte und Drehungen synchron mit ihr ausführen. Zwischenzeitlich nahm er die Hände an ihre Hüften und hob sie ein kleines Stück weiter. Später, wenn sie die Übungen in der Turnhalle off-ice beherrschten, würde er sie hochheben und mit ihr weiterlaufen, währenddessen sie über seinem Kopf turnte. Es würden die Todesspirale folgen und natürlich die Wurfsprünge. Doch soweit waren sie noch lange nicht. Nach zwei Stunden auf dem Eis folgten täglich zwei weitere in der Turnhalle. Die kleinen Mädchen sahen mit großen Augen bewundernd zu, wie Conni den beiden Großen zeigte, wie man artistische Turnübungen zu zweit ausführte. Conni beschäftigte sich danach mit den kleinen Mädchen, blickte aber aus dem Augenwinkel immer wieder zu ihrem Paar. Ihr entging nichts. Die zwei stellten sich nicht dumm an und der Ehrgeiz hatte sie gepackt. Trotzdem, Conni musste streng sein. Von nichts kam nichts und wenn sie vorne in der Liga mitspielen wollten, gab es nur Entbehrung, Training und nochmals Training. Die zwei Stunden vergingen schnell. Die Eisbahn war nicht voll besucht. Conni ließ Steppsequenzen und Solopirouetten üben. Der zweifache Achsel als Einzelsprung klappte bei den beiden schon synchron und auch der zweifache Flip bereitete keine Schwierigkeiten. Conni war deshalb dazu übergegangen, den Flip dreifach ins Kurzprogramm aufzunehmen. Für ihre Schützlinge begann damit ein ständiger schmerzhafter Kontakt mit dem Eisboden. Auch bei den dreifachen Sprüngen hieß die Devise Zähne zusammen beißen und üben. Eine Viertelstunde Pause ließ sie ihren Kids, bevor sie in der Turnhalle ohne Schlittschuhe weiter trainieren durften. Toni prustete, als er Julia auf dem Eis über seine Schulter hob. Sie wog nicht viel, aber ihm fehlten schlicht die Muskeln. Die Techniken und Handgriffe lernte er. Julia kümmerte sich nicht um seine Kraftdefizite, sondern begann ihre ersten artistisch anmutenden Übungen mit stoischer Gelassenheit auszuführen. Er wusste, was ihm blühte, wenn er sie losließ und sie beim Abgang durch seine Schuld nicht richtig landete.
„So, Mädchen, ihr dürft euch anziehen, wir sehen uns gleich.“ Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen und liefen sich noch einige Minuten aus. Amelie beeilte sich auf dem Weg in den Umkleideraum, nickte dabei erleichtert Ole zu, der gar nicht mehr in die Eishalle kam, sondern sich sofort umdrehte und zur Turnhalle hinüberging. Nachdem Conny diese aufgeschlossen hatte, suchte er sich auf einem der Seitpferde einen Platz, um sich das weitere Training der „Profis“ anzuschauen. In der Halle lagen diverse Matten. Die Grundhaltung für die Todesspirale stand auf dem Programm und danach folgte der erste Wurfsprung, der Salchow. Es kam für Toni darauf an, die Partnerin an der Hüfte zu packen und in die richtige Drehung zu bekommen, damit sie mit genügend Schwung ein bis zweimal in der Luft herumdrehen und danach sicher landen konnte. Für Julia begann damit ein Albtraum. Sie fiel weich in die Matten, aber sie fiel. Auf dem Eis hätte sie sich mit Sicherheit ernsthaft verletzen können. Conni zeigte sich unerbittlich. Das Desaster war vorprogrammiert und völlig normal. Die meisten Kinder begannen als Einzelläufer und mussten mühsam lernen, dass es im Paarlauf auf gemeinsames Auftreten ankam. Als sie endlich das Ende des täglichen Trainings ankündigte, applaudierten die Fans auf dem Seitpferd. Die kleinen Mädchen, die bereits aufhören durften, klatschten in die Hände. „Super, Julia. Du schaffst es bald“, rief Annalena aus. „Conni, ich möchte nachher auch einen so tollen Partner wie Toni haben“, meinte sie und verdrehte verliebt die Augen. Julia, die schmerzerfüllt ihr Hinterteil rieb lachte in die Richtung der Kleinen. „Wag es nicht, mir Konkurrenz zu machen. Such dir selber einen Partner“, witzelte sie. „Danke für die Blumen, Leute. Toni, ich mach dir keine Vorwürfe, aber du solltest zuhause die Griffe so lange üben, bis du mich sicher in den Händen hast. Was macht deine Muckibude?“ Toni wusste selbst, wer an Julias blauen Flecken schuld war und es tat ihm leid. Er gab sich die größte Mühe umzusetzen, was Conni ihm zeigte. Jedoch, zwischen Theorie und Praxis lagen Welten. „Wir haben die erste Woche schon durch. Aber ohne Hormone, wird es bei mir länger dauern, bis ich Muskulatur aufbaue. Ich arbeite dran.“ „Es war alles gut, ihr zwei. Rom ist auch nicht an einem Tag errichtet worden. Ich hab mit einer Mitarbeiterin der Eislaufunion gesprochen. Die hatten einen solchen Fall noch nie. Aber wenn du eine Bescheinigung bekommst, dass du ein Mann bist, kannst du in der Rolle laufen. Dein Sportausweis wird mit einem Vermerk versehen und wenn du deinen Personalausweis hast, trägt sie den neuen Namen ein. Sie regte aber an, alle relevanten Wettkämpfe erst anzumelden, wenn du rechtlich männlich bist und die Hormonbehandlung bereits Erfolg zeigt. Als Transsexueller darfst du nicht schlechter gestellt sein, als deine männlichen Kollegen. Die Hormone zählen in diesem Fall nicht als Doping. Es muss aber bekannt sein und sollte dann rechtlich noch einmal von einem der DEU Juristen überprüft werden.“ Die Auskunft genügte Conni vorerst. An Wettbewerbe war noch lange nicht zu denken und als erstes standen die Klassenlaufprüfungen in den Paarlauftechnikklassen 3 und 2 an. Daran werden sie die ganze Saison arbeiten. „Wir sehen uns morgen. Ich habe für die Weihnachtsferien die Halle in Hamburg für den Verein gebucht. Hast du den Aufnahmeantrag ausgefüllt, Toni?“, fragte Cornelia. Ja, hatte er. Er zog einen zerknitterten Zettel aus seiner Sporttasche. „Hier, den Vereinsbeitrag und Aufnahmebeitrag überweisen meine Eltern Anfang Dezember. Wie kommen wir hin?“ Conny überlegte. „Das Training wird vormittags sein und um 9 Uhr beginnen. Ihr könnt euch eine Schülerfahrkarte für den Zug besorgen. Wenn ihr um 7 Uhr hier vom Bahnhof losfahrt, schafft ihr es mühelos rechtzeitig. Es sind zwei Eiszeiten vorgesehen, von 9-11 Uhr und von 12-14 Uhr. Wir wollen bis dahin soweit sein, dass ihr die Todesspirale und die Hebungen anfangen könnt. Die Wurfsprünge müssen wir langsam angehen lassen und erst einmal einfach üben. Gut, dann wünsch ich euch einen schönen Abend. Bis morgen.“ Conny nahm ihre Sachen und schob die Truppe aus der Turnhalle. Die Mädchen konnten sich von ihren Freunden nicht lösen,hingen ihnen an den Lippen. Sie wurde ärgerlich. „So, jetzt ist Schluss. Einsteigen, meine Damen, sonst lauft ihr zu Fuß!“ Zwei stolze Jungen winkten ihnen nach.
„Schon witzig. Erst dachte ich, du wärst meine große Liebe und nun hab ich eine Freundin. Das Leben ist merkwürdig. Ich habe am Dienstagabend einen Termin bei Frau Krause“, meinte Ole. Sie saßen eine Weile auf der Bank vor der Turnhalle. „Ich bin schon Montag um siebzehn Uhr dran. Hast du deine Lebensbeschreibung fertig?“, fragte Toni. Ole schüttelte den Kopf. „Ich beginne morgen früh. Wir schreiben Deutsch und Englisch nächste Woche, das erfordert Organisation.“ Toni überlegte einen Moment. „Du, ich war heute mit zwei Mädchen aus meinem Deutschkurs und einem anderen Jungen in der Teestube und habe mich geoutet. Sie meinten, es wäre alles okay und Heike will etwas dazu schreiben, was sie in der Schüler-App verschicken kann. Das wäre doch auch eine Möglichkeit für dich, oder? Mario ist der Ansicht, dass es mit den Leuten keine Probleme geben wird. Allenfalls ein oder zwei unserer Lehrer könnten Schwierigkeiten machen. Aber der Direx ist der Chef und wenn er auf meiner Seite ist, müssen auch die spuren.“ Toni erzählte von seinem Gespräch mit Marius Springer. „Hui, da bist du weiter als ich. Aber die Idee ist nicht schlecht. Meine Mutter könnte mit der Direktorin reden. Die beiden kennen sich vom Sport. Und für die App kann ich selbst etwas schreiben. Wir haben feste Klassenverbände, anders als bei euch. Ich muss vorsichtig sein, damit ich nicht die Büchse der Pandora öffne.“ „Dann sprich mit deiner Mutter. Vielleicht kann eure Biolehrerin helfen. Peter hat gesagt, die Schule muss uns schützen“, antwortete Toni erfreut. Er wollte nach Hause.
Als er um neun Uhr abends frisch geduscht an seinem Schreibtisch saß und über den Text seiner Lebensbeschreibung nachdachte, summte sein Handy. Heike hatte ihm ihre Vorstellungen für sein Comingout in der Schule gemailt. Gespannt öffnete er die angefügte Datei und schmunzelte. Heike war wirklich gut. Sie schrieb nicht umsonst für die Schülerzeitung. Kurz und schmerzlos wies sie auf Tonis bevorstehenden Geschlechtswechsel hin, bat um Unterstützung und ließ durchblicken, dass auf ihrer Schule kein Raum für unangemessene Kritik, Mobbing oder abfällige Bemerkungen sei. Ein umfangreicher Bericht mit Foto würde in der nächsten Ausgabe der Schülerzeitung erscheinen. Toni schickte den Text an Ole weiter. Zehn Minuten später erhielt er dessen Rückmeldung. Ole hatte einiges anders formuliert, so dass es zur Gesamtschule und zu Oles Bedürfnissen passte. Um halb zehn sandte Toni beide Vorlagen an Heike zurück. Sie wollte noch etwas am Layout gestalten und meinte, am Freitagabend sollte man es veröffentlichen. So hätten alle über das Wochenende Zeit, sich mit der Situation vertraut zu machen. Mit sehr gutem Gefühl und höchst zufrieden löschte Toni an diesem Abend das Licht. Daran, dass sie vorgeprescht waren und weder ihre Eltern noch die Lehrer eingeweiht hatten, dachte er nicht. Negative Auswirkungen oder ablehnende Reaktionen der Mitschüler? Nicht eingeplant. Vorsichtiges Agieren kam ihm nicht in den Sinn und sein leichtsinniges Verhalten sollte sich bald rächen. Heike hielt Wort. Am Freitagabend ging das Comingout der beiden Mitschüler in ihren Schüler Apps der jeweiligen Schule online.
Am frühen Samstagmorgen erhielt Toni Zuspruch und Glückwünsche von Julia. Bei ihr lief das Handy heiß. Ihre Freundinnen schrieben durchweg positive Rückmeldungen. Bei Toni quoll der elektronische Briefkasten über. Die Jungs seiner Schule frotzelten, er müsse nun beim Sport und insbesondere beim Fußball seine Männlichkeit beweisen. Aber man wolle ihm den Einstieg ins Mannesleben einfach gestalten. Es würde ihn nur einige Flaschen Cola kosten, doch Einstand musste nun mal sein. Natürlich durfte er auch andere Getränke wählen. Die Jungs hatten einen Kasten Bier vor Augen, aber das brauchten die Lehrer und Eltern nicht wissen. Nach dem Frühstück setzte er sich an seine Lebensbeschreibung und kam wider Erwarten gut voran. Zwischendurch summte sein Handy und zeigte damit neue Nachrichten an. Toni ignorierte die Meldungen. Eine Matheklausur war für Dienstag vorgesehen, ein Chemietest sollte am Donnerstag geschrieben werden. Goethe stand auf der Liste, Toni wollte es sich mit seinem Direktor nicht verscherzen und ging mit mehr Sorgfalt als sonst an seine Hausaufgaben. Um halb elf Uhr atmete er auf. Einige neue Vokabeln und die Übersetzung für Latein wollte er am Sonntagmorgen in Angriff nehmen. Mathe musste dann auch noch weiter geübt werden und er hoffte, seine Lebensbeschreibung für Frau Dr. Krause ebenfalls bald ausgedruckt zur Verfügung zu haben. Während er sich warm machte und für das Training umzog, ließ er sich die inzwischen eingegangenen Mails und SMS anzeigen. Er stutzte. Las den Text noch einmal und glaubte nicht, was er sah. Ein Absender der Bonhoeffer- Gesamtschule bezeichnete ihn als dreckige Schwuchtel und stellte ihm in Aussicht, sein Outing demnächst bitter zu bereuen. Toni dachte an einen Scherz, als er gleich darauf Oles Meldung las. Ole hatte sehr viele dieser Nachrichten erhalten. Er schrieb von einem Shit Storm ihm gegenüber und fragte, ob Toni ebensolche Schmähmeldungen bekommen hätte. Toni drückte auf das Telefonzeichen. „Hallo Ole, nein, ich hab nur Positives. Bis auf eine SMS von einem Rolf unterschrieben, der mich als Schwuchtel tituliert. Der hat sie nicht mehr alle, also eine solche Wortwahl würde bei uns ziemlichen Ärger auslösen. Goethe drückte sich gewählter aus. Aber das wird sich sicher beruhigen. Es gibt immer Idioten!“, versuchte er den Freund zu beruhigen. „Das sagst du so. Du kennst unsere Schule nicht. Die Leute hier wissen zum Teil nicht einmal, wer ihr Namensgeber war. Die geistige Creme ist bei euch. Hier sitzen diejenigen, die nach zwei bis drei Jahren an Goethe scheitern. Unsere Lehrer haben in den Pausen alle Hände voll zu tun, um Schlägereien, Abzocke und Drogen unterm Tisch zu halten. Mit einigen Kandidaten könnte sich gerne mal der Jugendrichter unterhalten. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, Montag in diese Hexenküche zu gehen.“ „Warum brichst du deine Zelte nicht ab und kommst zu uns? Im schlimmsten Fall wiederholst du ein Jahr. Aber du hast wenigstens deine Ruhe“, meinte Toni ernst. Er war mit seiner Schule vollauf zufrieden und die Reaktionen seiner Mitschüler bestätigten ihn. „Ja, das habe ich mir auch schon überlegt. Ich würde es auch ohne Latein können, obgleich ich mich dann naturwissenschaftlich einschreiben müsste und Physik ist nicht so mein Ding. Anderseits mag ich nicht gerne aufgeben und vor Schwierigkeiten weglaufen. Ich hasse das. Wenn alle weglaufen und Probleme aussitzen würden, wären einige Staaten der Welt bereits völlig entvölkert. Man muss für seine Rechte kämpfen.“ Toni antwortete mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend. „Ich sehe das ähnlich. Da, wo man kämpfen kann, soll und muss man es auch. Aber wenn man sich in Lebensgefahr begibt, sollte man abwägen. Alles hat mal ein Ende, das hat die Geschichte bewiesen. Ob Napoleon oder Hitler, Diktaturen halten sich maximal so lange, wie der Diktator lebt. Und wir sind gottlob alle sterblich. Die Gesundheit sollte man nicht aufs Spiel setzen. Du, ich muss rüber zu Conny in die Eishalle. Wir sehen uns gleich dort!“
Kurz bevor er ging, schaute Toni bei seinen Eltern in der Küche vorbei und erzählte ihnen von den Apps und den unterschiedlichen Reaktionen der Mitschüler. Anneliese schüttelte sich. Unruhe kroch in ihr hoch. Ihr steckten die harten und menschenverachtenden Worte ihres Bruders in den Knochen. Tonis Vater wurde entschieden deutlicher. „Ich habe nichts gegen Selbstständigkeit, das solltest du wissen. Aber wir haben mit Herrn Petersen verabredet, dass wir Eltern erst mit den Lehrern sprechen und wir uns zunächst mit der Therapeutin beraten. Die Frau macht das nicht zum ersten Mal und weiß, worauf es ankommt. Ich wollte auf keinen Fall deinen Direktor übergehen. Er ist unser Ansprechpartner. Und nun haut ihr zwei plötzlich auf die Pauke, dass es nur so brummt. Ihr könnt von Glück sagen, wenn das alles glimpflich ausgeht.“ Klaus war sauer. Es gab gewisse Regeln im Zusammenleben von Menschen. Mit Diplomatie war viel zu erreichen und selten kam es gut an, wenn man mit dem Kopf durch die Wand wollte. „Ich störe Herrn Dr. Springer nur ungern am Wochenende, aber das muss wohl sein“, brummte er. Toni schwieg betreten. Die Eltern hatten ausnahmsweise Recht. Er entschuldigte sich kleinlaut.
Den Weg zur Eishalle legte er joggend zurück. Die kleinen Mädchen seiner Gruppe begrüßten ihn. Er ließ sie in respektvoller Entfernung von der Straße Lockerungsübungen machen. Der Eismeister schloss lächelnd die Tür auf. Conny hatte Sonderkonditionen ausgehandelt und ihre Kontakte zum Bürgermeister spielen lassen. Der Gemeinderat war eisbegeistert und vor allem die Eishockeyspieler brachten Geld in die Kasse. So war es ihr gelungen, an den Wochenenden einige Stunden freies Eis für ihre Schützlinge herauszuschinden. Von elf Uhr bis dreizehn Uhr hatte sie heute die Halle gemietet. Toni begann routinemäßig mit dem Warmlaufen. Einige Minuten später erschien Conny mit den Mädchen. Das Training begann. Toni und Julia arbeiteten vollkonzentriert und gewissenhaft mit. Sie merkten nicht, dass sie inzwischen Zuschauer bekommen hatten. Drei Jungs von der Bonhoeffer Gesamtschule, die sich sonst wenig um Conny und ihre Gruppe gekümmert hatten, standen hinter der Bande. Sie zogen sich ihre Schlittschuhe an und liefen am anderen Ende der Bahn auf das Eis, von Conny wahrgenommen, aber zunächst geduldet. Toni und Julia begannen mit ihren Einzelsprüngen. Die Jungen kamen Toni dabei sehr nahe. Es wurde gefährlich für alle Beteiligten. Conni ahnte nicht, dass das Verhalten absichtlich und geplant war. Sie lief zu den Jungen. „Das Eis ist gemietet, ihr dürft normalerweise jetzt nicht laufen. Aber ich habe nichts dagegen, solange ihr aufpasst und Abstand haltet. Die beiden springen gleich dreifach und beim Lutz gegen die Fahrtrichtung. Wir brauchen dazu den Kreis auf der linken Seite. Sonst müsst ihr vom Eis und warten, bis um 13:30 Uhr der Publikumslauf beginnt.“ Die Jungs feixten, sagten aber nichts. Als Toni einen dreifachen Lutz sprang und sicher stand, schien etwas Achtung und Respekt in ihren Blicken aufzuleuchten. Conny ließ ihr Paar einen Wurfsalcho üben. Auch der klappte und Julia atmete überglücklich auf. Kurz vor ein Uhr erschien Ole. Er sah die Bescherung von weitem, denn er kannte die drei. Sie genossen in der Schule den Ruf von Raufbolden und schreckten vor fiesestem Mobbing sowie Eigentumsdelikten nicht zurück. Ihr Boss hieß Clemens, war siebzehn Jahre alt. Der feine Herr durfte bereits Bekanntschaft mit dem Jugendrichter machen. Die verhängten Sozialstunden nahm er nicht ernst und sie schreckten ihn auch vor weiteren Straftaten nicht ab. Clemens hatte die üblen SMS an Ole in Auftrag gegeben. Er verließ das Eis, als er Ole erblickte, zog seine Schlittschuhe aus und wanderte um die Halle herum, direkt auf Oles Bank zu.

Mobbing
Ole legte seine Schlittschuhtasche auf der Tribüne ab, setzte sich neben Tonis Sachen, schaute hin und wieder dem Treiben auf der Eisfläche zu, senkte den Kopf um seine SMS und Mails auf dem Handy anzusehen. Um Clemens kümmerte er sich nicht. Erst als dieser grinsend vor ihm stand, bestätigte sich sein Verdacht, dass Clemens hinter dem Shitstorm steckte. Der Zehntklässler durfte nur auf besondere Bitte seiner Eltern die Gesamtschule weiter besuchen. Er musste sich wegen diverser Straftaten im Internet wie Mobbing und Stalking bereits vor dem Jugendrichter verantworten und nach Bekanntwerden eines Erpressungsversuchs gegenüber zweier Unterstufenschüler wurden Sozialstunden fällig. Clemens erfreute sich in der Schule keiner großen Beliebtheit, schaffte es aber trotzdem etliche Gefolgsleute und Mitläufer für sich zu gewinnen.
„Das hätte ich mir denken können. Du steckst hinter dem ganzen Blödsinn, mit dem mein Handy voll gemüllt wird. Alter, ich verstehe dich nicht. Du landest irgendwann mit deinen Methoden im Knast. Aber mich schreckst du damit nicht ab. Ich stehe zu dem was und wer ich bin. Wir leben nicht mehr im Mittelalter“, ereiferte sich Ole, der sichtlich genervt war. „Du dreckige Transe, du wirst ganz woanders landen. Warte es nur ab.“ Der andere hatte sich vor Ole aufgebaut und laut gesprochen, damit seine Freunde die Situation mitbekamen. Clemens wollte sich aufspielen und ihnen beweisen, dass er ein ganzer Kerl war. Dass Ole zwar nicht direkt in Cornelias Trainingsgruppe gehörte, dennoch ein Teil davon war, ahnte er nicht. Conny erkannte das schmutzige Spiel und lief auf dem Eis an der Bande entlang zu den beiden Kontrahenten. „Die üblen Schimpfworte habe ich überhört und ich will sie aus deinem Mund nie wieder hören. Bedroht wird hier niemand. Wer sich abfällig über Trans-und Homosexualität äußert, beweist damit nur Unwissenheit und Dummheit. Und das willst du deinen Freunden doch bestimmt nicht zeigen, oder? Ich sagte euch bereits, dass das Eis privat für meine Trainingsgruppe gemietet ist und natürlich Geld kostet. Also, wenn ihr euch mein Wohlwollen nicht verspielen wollt, benehmt euch wie zivilisierte Menschen. Der Eismeister wirft euch sonst raus.“
Clemens war mit 1,80 m eine stattliche Erscheinung und starrte die 1,65 m kleine, zierliche Conny überrascht an. In der Schule vermieden die Lehrer die direkte Konfrontation mit ihm, wenn sie ihm allein gegenüberstanden. „Wir sehen uns noch“, zischte er Ole zu und drehte sich um. Toni, welcher mit Julia scherzte, bekam nichts davon mit. Nur Amelie hatte den Kopf in die Richtung gewandt, aus der Connys energische Stimme kam. Sie wunderte sich. „Was war los, was wollte der von dir?“, fragte sie Ole und forderte ihn auf zu ihr aufs Eis zu kommen. „Wir sind mit dem Training fertig, zieh deine Schlittschuhe an. Die Idioten scheinen zu gehen.“ Ole streichelte Amelie über die Wange. „Ach, die sind nur blöd“, erwiderte er und wandte sich seiner Sporttasche zu. Toni fuhr an die Bande und begrüßte seinen Freund fröhlich, bemerkte aber sogleich die düstere Miene in dessen Gesicht. Amelie kam ihm zuvor und nahm ihn zur Seite. „Der Typ da, der eben mit den beiden anderen rausgegangen ist, hat ihn beschimpft, so dass Conny einschreiten musste. Kennst du die?“ Toni schüttelte den Kopf. „Was haben sie gesagt?“ Amelie wiederholte die Gesprächsfetzen, die sie mitbekommen hatte. Toni pfiff durch die Zähne. „Wir haben uns in unseren jeweiligen Schulapps geoutet, das weißt du ja. Für mich gab es nur Zustimmung. Möglicherweise sehen die Leute das auf der Bonhoeffer anders. Wir klären das. Mach dir keine Sorgen“, meinte er. Ole bestätigte ihn. „Es ist nicht der Rede wert. Clemens will sich nur wichtigmachen. Aber er steht mit einem Bein im Knast und so ungefährlich ist er nicht. Außerdem tun seine Leute, was er ihnen befiehlt. Die sind ziemlich übel.“ Er erzählte, was er wusste. Toni wollte die SMS sehen. Als sie vom Eis mussten, weil die Eismaschine kam, zeigte Ole Toni sein Handy. Tony war keinesfalls begeistert. Das waren eindeutige Drohungen. „Ich denke, du wartest Montag ab und wenn sich tatsächlich jemand mit dir anlegen will, sollten wir mit Peter sprechen. Meine Eltern sind sauer, weil wir ohne sie einzuschalten vorgeprescht waren. Idioten gibt es immer und wir müssen lernen, damit umzugehen. Willst du nicht mit mir ins Sportstudio gehen? Wir zahlen als Schüler nur den halben Preis. Die haben dort eine Anfängergruppe für Taekwondo und nehmen ständig neue Leute auf. Wenn man sich wehren kann, sieht man diese Arschlöcher mit ganz anderen Augen“, meinte er. Ole hatte schon mit Kampfsport geliebäugelt und fand den Vorschlag hervorragend. „Super Idee!“ Er gab sich cool und gelassen.
Am Montag fuhr er allerdings mit einem sehr mulmigen Gefühl in die Schule. Und musste feststellen, dass seine Vorahnungen berechtigt waren. Als er den Schulhof betrat, umringten ihn jüngere Schüler aus der Unterstufe, schrien ständig das Wort Transe. Einer warf ihm einen mit Wasser gefüllten Luftballon zu. Der rote Ballon platzte vor Oles Brust. Er fühlte wie sein neues T-Shirt sofort die Nässe aufsog. Einige Spritzer landeten zudem in seinem Gesicht. Sie lösten einen automatischen Schließreflex in den Augen aus. So eine Situation hatte er noch nie erlebt. Perplex begann er mit den Kindern, die um ihn herumliefen zu schimpfen. „Sagt mal, ihr habt sie wohl nicht alle. Wenn ich das mit euch machen würde, würde euch das auch nicht gefallen!“ Ihre unsägliche Aktion war gottlob vom Hausmeister bemerkt worden. Jochen Kaiser arbeitete seit acht Jahren an der Bonhoeffer-Gesamtschule. Der achtundfünfzigjährige gelernte Tischler musste sich mit allerhand Schabernack auseinandersetzen. Er war deshalb Kummer gewohnt. Doch das ging ihm jetzt zu weit. Er eilte auf die Gruppe zu und scheuchte die Jungen in ihre Klassen. „Alles okay, mit dir? Das T-Shirt trocknet wieder. Wenn du willst, gebe ich dir eines aus den Fundsachen, da findet sich sicher etwas.“ Ole schüttelte den Kopf. „Nein, danke, das ist nett von Ihnen, aber es ist warm in der Klasse und ich bin nicht aus Zucker, das trocknet schnell.“ Kaiser lächelte. „Die verstehen deine Sache nicht und lassen sich aufstacheln. Die Lehrer sprechen schon über dich. Vielleicht gelingt es unserer Direktorin die Bengels zu beruhigen. Du lernst doch nicht schlecht, warum wechselst du nicht auf eine Schule, wo der Umgangston besser ist?“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. Viele von den Kindern hatten es sehr schwer. Sie kompensierten ihre mangelnden Kenntnisse mit Gewalt und Hass auf andere. Die Direktorin versuchte alles, um den Schülern ein gesundes und freies Lernklima zu ermöglichen. Doch ihre Mühe wurde selten belohnt. Hinter vorgehaltener Hand wurde seine Arbeitsstelle schon als Brennpunktschule bezeichnet. Das hätte ihr Namensgeber sicher nicht gewollt. Ole ging schweigend neben dem Hausmeister her. Im Schlepptau des Erwachsenen gelangte er unbehelligt durchs Gebäude. In seiner Klasse wurde es augenblicklich still als er eintrat. Zielstrebig setzte er sich auf seinen Platz. Seine Banknachbarin Kyra nahm demonstrativ ihre Schultasche und stand auf. Das war für eines der anderen Mädchen zu viel.
Claudia hatte die Hetze über Ole im Netz das ganze Wochenende mitgelesen. Sie wollte ihm erst schreiben, ließ es jedoch, weil sie sich nicht aufdrängen wollte. „Ihr solltet euch schämen. Und ihr wollt wie Erwachsene behandelt werden? Mobbing ist das Widerwärtigste, das es gibt und derjenige, welcher mobbt, ist der Dumme, nicht das Opfer“, ereiferte sie sich. „Darf ich neben dir sitzen, Ole?“, fragte sie. Ole lächelte. „Klar, danke. Wenigstens eine ist hier vernünftig. Aber ich glaube, die anderen werden sich auch noch an mich gewöhnen. Ich will nichts von euch. Nur meine Ruhe!“ „Aber wir wollen keine Schwuchteln und Transen hier. Kapierst du das?“ Einer der Jungen stellte sich wütend vor Oles Platz. In dem Moment öffnete sich die Tür des Klassenzimmers.
„Setz dich!“, befahl eine junge Frau in barschem Tonfall. Ihre Stimme hörte sich leicht dunkel gefärbt an und ließ die Schüler zusammenzucken. Sie schloss forsch die Tür, stellte eine hellgraue Aktenmappe neben den Lehrertisch und wandte sich der Klasse zu. Das burschikose Auftreten verfehlte sein Ziel nicht. Die Frau war von mittelgroßer Gestalt, hatte kurze blond gelockte Haare und trug zu einer engen dunkelblauen Jeans eine rote Bluse und eine hellbeige Strickjacke. Achtzehn Augenpaare blickten gebannt auf die drahtige kleine Person. Mit ein wenig Lidschatten und schwarzem Kajal umrahmte grüne Augen sowie ein dezent aufgetragener cremefarbener Lippenstift ließen keine Zweifel an ihrer Weiblichkeit aufkommen.
„Mein Name ist Kielings, ich bin Biologielehrerin im Referendariat und neu an der Schule. Heute ist mein erster Tag. Ich weiß, dass ihr jetzt Deutsch gehabt hättet. Ich habe auf Wunsch von Frau Direktor Kamrad mit der Kollegin getauscht. Frau Kamrad wird in Kürze hier eintreffen. Ich bringe es gleich auf den Punkt. Wir haben die Mails gegen euren Mitschüler gelesen und sind alle, ausnahmslos, im Kollegium tief erschüttert. Natürlich hattet ihr das Thema Trans- und Homosexualität noch nicht im Unterricht, weil der Lehrplan das erst etwas später vorsieht. Trotzdem zeugt es von geringem Wissen und reichlich Unvernunft, was ihr da von euch gegeben habt. Ja, sag deinen Namen, was willst du?“ Ein Schüler meldete sich und Frau Kielings nahm etwas Ärger aus ihrer Rede heraus. „Ich bin Maurice. Wir haben das nicht geschrieben, wir haben die Kommentare nur kommentiert.“
Die fünfundzwanzigjährige studierte Biologin atmete ruhig durch und stützte ihre rechte Hand auf dem Lehrertisch in der Mitte der Klasse ab. Sie blickte den Schülern geradewegs in die Augen, hob ihre Stimme erneut. Überrascht horchten die Jugendlichen auf.
„Das hab ich mir genauso gedacht. Wenn es ans Eingemachte geht, will es keiner gewesen sein. Wer schwachsinnige Kommentare mit Schwachsinn kommentiert, handelt ebenso schwachsinnig. Ihr seid somit für den Angriff auf euren Mitschüler mit verantwortlich. Und schlimmer noch, ihr seid Vorbild für die jüngeren Schüler und sollt sie nicht ermutigen, so einen Blödsinn zu machen wie Wasserbomben zu werfen. Wir glauben zu wissen, wer als Rädelsführer hinter der Sache steckt. Frau Kamrad kümmert sich grad darum. Wissen ist Macht, meine Damen und Herren. Und wer weiß, wie etwas funktioniert braucht keine Angst vor dem vermeintlich Unbekannten zu haben. Ob Trans-oder Homosexuell- wir werden geboren, wie wir sind. Die sexuelle Ausrichtung und das Gefühl mit dem falschen Geschlecht geboren zu sein, sind weder ansteckend noch irgendeine Form von Krankheit. Sie gehören zur Diversität des Lebens dazu und sind im Tier-und Pflanzenreich alltäglich. Ich denke, die meisten von euch haben die Geschichte vom Annemonen- oder Clownfisch Nemo im Fernsehen oder im Kino gesehen?
Bei diesen Fischen werden grundsätzlich alle Jungfische als Männchen geboren. Es gibt nur ein Weibchen in der Familie, das, wenn es stirbt, von dem größten Männchen ersetzt wird. Dieses wandelt sein Geschlecht in ein Weibchen und das nächst größere Männchen wird sein Partner. Hat jemand schon davon gehört?“ Alle schwiegen.
„Was für die Tierwelt gilt, ist bei uns Menschen nicht automatisch ausgeschlossen und kann deshalb ebenso in verschiedenen Varianten auftreten. Im Umkehrschluss können sich die Menschenaffen auch nicht dagegen wehren, mit dieser Bezeichnung mit uns in einen Topf geworfen zu werden. Die Armen müssen es zudem hinnehmen, dass man sie auch noch als unsere Vorfahren bezeichnet. Ganz ehrlich, wäre ich ein Gorilla oder ein Schimpanse, würde ich gegen eine solche Art der Diskriminierung sofort vor Gericht ziehen. Wer ist Ole?“ Sie sah über die Klasse. Ole hob den Arm.
„Ich kenne Herrn Petersen von der Selbsthilfegruppe sehr gut. Wir sind uns darüber einig, dass Aufklärung der einzige Weg ist, die unsichtbaren Knoten von Vorurteilen zu lösen. Und das wichtigste seid ihr. Kein Kind wird rassistisch geboren. Ihr lernt Vorurteile während eures Lebens von den Erwachsenen, was sehr schade ist. Erwachsene sind nicht mehr gut zu erreichen, wenn es um Änderungen in ihren Ansichten geht. Bei euch ist das anders. Ole hat einen schweren Weg vor sich. Er muss nicht nur wie ihr für die Schule lernen und Hausaufgaben machen. Während ihr danach zum Sport oder in die Freizeit geht, muss er Gespräche mit Psychotherapeuten führen und Gutachter treffen, die ihm Bescheinigungen ausstellen, damit er seine Geburtsurkunde und seinen Ausweis ändern kann. Das dauert lange und kann mehr als ein Jahr in Anspruch nehmen. Seelisch sitzt er ständig zwischen zwei Stühlen. Zu den Mädchen gehört er nicht und die Jungen akzeptieren ihn erst, wenn er operiert ist. Und das ist sehr ärgerlich, denn Ausweise braucht jeder und der Vorname sollte zum gefühlten Geschlecht passen. Aber alles, was mit dem Körper zusammenhängt, ist so individuell, dass körperliche Merkmale für die Frage, ob jemand Teil einer Gruppe ist, dazugehört und akzeptiert wird, überhaupt keine Rolle spielen sollten. Ich weiß, das ist schwer zu verstehen. Wenn ich eines der hübschen Mädchen hier betrachte, denke auch ich automatisch an weiblich und verbinde gewisse Vorstellungen damit. Das ist der Evolution geschuldet, darüber unterhalten wir uns später. Vorerst reicht es, wenn jeder von euch kurz sein Gehirn einschaltet und versucht sich in Ole hineinzuversetzen.“
Sie stellte sich vor Ole und sah ihn freundlich an. „Ich denke, du willst männliche Hormone nehmen, damit sich Stimmbruch und Bartwuchs entwickeln können?“ Ole nickte. „Gut, dann weißt du auch, dass nach kurzer Zeit Eierstöcke und Gebärmutter entnommen werden müssen. In den Eierstöcken, die man Ovarien nennt, können sich sonst Tumore bilden. Heute ist man bereits in der Lage, einen Penisersatz zu formen und an die Harnröhre anzuschließen. Wenn du willst, wirst du dich in einigen Jahren kaum mehr von den anderen Jungen unterscheiden.“ Sie wandte sich wieder der Klasse zu. „Das ist jedoch mit schweren Operationen, also Eingriffen in den Körper verbunden und ich glaube kaum, dass ihr mit Ole tauschen möchtet. Für ihn ist das einer der wenigen Wege um halbwegs mit sich selbst im Einklang leben zu können. Versteht ihr jetzt annähernd, was euer Mitschüler durchmacht und was ihm noch bevorsteht? Er braucht Hilfe von euch, Unterstützung und Aufmunterung. Kein Mobbing, dumme Sprüche oder gar Drohungen und Angriffe!“
Es war ruhig in der Klasse geworden. Die berühmte Stecknadel hätte jetzt fallen können. Einige der Mädchen schluchzten. „Frau Kielings? Ich bin Pierre und Klassensprecher. Darf ich etwas sagen?“ „Ja, sicher. Nur zu.“ „Ole, sorry, wir wussten das nicht und es tut uns allen leid. Clemens ist ein Arschloch. Er hat uns aufgewiegelt und unter Druck gesetzt. Und wir Idioten haben auf ihn gehört. Du bist einer von uns. Ich hoffe, du nimmst die Entschuldigung an.“ Die Klasse trommelte auf die Tische. Kyra meldete sich: „Claudi, lässt du mich wieder auf meinem Platz sitzen? Es tut mir echt leid, Ole. Claudia ist Pastorentochter, das merkt man. Sie hat ein so gutes Herz, davon können wir alle lernen.“ Die Mädchen kicherten. Claudia murmelte ein verlegenes „Dankeschön.“ Ihr Vater war wirklich Gemeindepfarrer, aber das gab nicht den Ausschlag für ihr mutiges Auftreten. Für schwächere eintreten gefiel ihr einfach. Die zwei tauschten die Plätze und die alte Ordnung war wieder hergestellt.
„Hach, da lacht mein Lehrerherz. Frau Kamrad ist wohl zu beschäftigt. Es klingelt gleich zur Pause und dann kann der Unterricht bei euch in gewohnter Weise weitergehen. Wie gefällt dir Peter, Ole?“ Ole lächelte dankbar. Ihm war anfangs alles sehr unangenehm gewesen und Hilfe annehmen, gehörte nicht zu seinem Lebensmotto. Aber Frau Kielings hatte in wenigen Minuten mehr Empathie bei seinen Mitschülern hervorgerufen, als ihm selbst wohl jemals gelungen wäre. „Er ist ein toller Typ. Wir hatten ihn zu uns nach Hause eingeladen, damit er mit unseren Eltern spricht. Ende der Woche sind wir wieder in der Gruppe. Unsere Eltern wollen uns begleiten. Ich habe morgen schon einen Termin bei der Psychologin und schreibe zu Hause meinen Lebenslauf. Darin werde ich den Mobbingversuch von heute nicht erwähnen. Aber ich danke Ihnen für ihr Verständnis, das kann ich gut gebrauchen. Es kommt einiges auf uns zu. Mein Freund Toni geht aufs Goethegymnasium. Die Reaktionen von dort waren durchweg positiv. Er ist Eiskunstläufer und soll in der männlichen Rolle als Paarläufer auftreten. Er und seine Partnerin haben sich viel vorgenommen.“ Martina Kielings nickte. „Hast du auch einen Lieblingssport?“ „Ja, ich war in einer Eishockeymannschaft. Aber als ich in die Landesauswahl der Jungen sollte, musste ich denen sagen, dass ich weiblich bin und da war es mit der Karriere vorbei. Ich hoffe, nach der Geschlechtsanpassung wieder spielen zu dürfen.“
Die Klasse sprach augenblicklich durcheinander. Die Jungs wollten sich mit Ole in der Eisbahn treffen. Eine Schülermannschaft konnten sie doch gleich gründen, waren sich alle einig. Es klingelte. Frau Kielings verließ zufrieden ihre Klasse. Geht doch, dachte sie und erinnerte sich an ihr eigenes Comingout, als sie in Oles Alter war. Bei ihr hatten Hormone bereits dafür gesorgt, dass sie keinen Stimmbruch bekam. Im Alter von achtzehn Jahren ließ sie sich operieren. Aber das Geheimnis ihrer männlichen Geburt kannte nur sie allein. Davon stand nicht einmal etwas in der Personalakte, die die Direktorin grad in ihren Safe zu den anderen Verschlusssachen legte. Frau Kielings betrat das Lehrerzimmer. Ihre Direktorin kam sofort herein. „Frau Kollegin, es tut mir leid, aber die Telefonate dauerten länger. Wie ist es Ihnen ergangen?“ Der Raum füllte sich nach und nach mit Lehrkräften, die interessiert zuhörten. Frau Kielings nahm ihren Kaffeebecher, bot der Direktorin ebenfalls einen Kaffee an, die aber dankend ablehnte. „Die Klasse hat sich bei Ole entschuldigt. Die Jungs wollen sich zum Eishockey treffen und ich denke Ole erhält künftig den Zuspruch und die Unterstützung, die er braucht. Die Jugendlichen sind angestiftet worden.“ Sie trank einen Schluck Kaffee. „Der Name Clemens fiel!“
Anja Kamrads Miene verdüsterte sich. „Das habe ich befürchtet. Frau Kielings, Sie sind eine große Bereicherung für unsere Lehranstalt und ich danke Ihnen. Der Einstand war sicher nicht so, wie Sie es sich gedacht hatten.“ Sie wandte sich an die Kollegen. „Meine Damen und Herren, darf ich kurz um Gehör bitten. Zunächst möchte ich Ihnen Martina Kielings vorstellen, sie wird uns im Fach Biologie unterstützen.“ Sie wartete einen Moment um ihrer Mannschaft, wie sie lächelnd zu sagen pflegte, Gelegenheit zur angemessenen Begrüßung der neuen Kollegin zu geben. „Wie einige von Ihnen vielleicht wissen, hat es wieder einen unschönen Vorfall an unserer Schule gegeben. Auch dieses Mal ist unser Problemschüler Clemens von Trantow die treibende Kraft gewesen. Ich werde mit den Schülern der zehn b sprechen und danach ein ernstes Gespräch mit Clemens führen. Ein Telefonat mit seinen Eltern werde ich ihm wahrscheinlich nicht ersparen können. Ich möchte eigentlich, dass er auf unserer Schule bleibt. Ein Internat, wie es seine Eltern in Aussicht stellten, wird vielleicht nicht die beste Lösung sein.“
„Wenn ich dazu etwas bemerken darf?“ Martin Hauser war Mathelehrer und kannte die Familie privat. „Bitte, Herr Dr. Hauser!“ „Ein Internat kann Clemens wahrscheinlich auch nicht den richtigen Weg zeigen. Seine Eltern haben sich in den entscheidenden Jahren wenig um ihn gekümmert. Der Junge ist von Butlern und Hausangestellten großgezogen worden und hat kaum Elternliebe gespürt. Herr Dr. von Trantow ist als Manager und Firmeninhaber ständig außer Haus und auf Reisen und seine Frau hat ihren Beruf als Stewardess nach der Hochzeit nicht aufgeben wollen. Clemens bekam alles, was es für Geld gibt, nur halt nicht die Aufmerksamkeit seiner Eltern. Ich denke auch, dass wir hier auf der Schule versuchen sollten, etwas von den Fehlern der Familie zu kompensieren. Freundschaft und Kameradschaft sind wichtige Lebensbegleiter.“ Die Direktorin sah sich bestätigt. „Was sollen wir Ihrer Meinung nach tun, Herr Hauser?“ Der angesprochene dachte nach. „Ich werde noch einmal mit Clemens sprechen. Er ist gut in Mathe und er kennt mich privat. Es geht ja jetzt wohl um Ole Baumann, wie ich hörte. Transsexualität hatten wir noch nicht. Aber ich denke, es ist für die Schüler eine gute Erfahrung und Frau Kielings hat anscheinend den Draht zu den Jugendlichen gefunden. Wir sollten in unseren Klassen darauf hinweisen, dass wir obszöne Bemerkungen und Mobbing nicht dulden, etwas zur Problematik erzählen, soweit das jeder kann und Frau Kielings einmal durch die ganze Schule damit schicken. Aufklärung ist meistens der Schlüssel zum Erfolg. Wenn Clemens nicht mehr Antreiber ist, werden wir bald die Normalität zurückerhalten.“ Die meisten Lehrkräfte stimmten zu. Die nächste Stunde stand an und der größte Teil, auch Herr Hauser, musste sich beeilen, um in ihre Klassen zu kommen. „Danke, Herr Dr. Hauser. Ich hatte eben mit Oles Mutter telefoniert. Ole und sein Freund Toni, der auf das Goethegymnasium geht, haben sich ohne Wissen der Eltern in der Schüler App geoutet. Frau Baumann wollte eigentlich erst mit mir sprechen, aber da sind uns die beiden zuvorgekommen. Nun, die unschöne Lawine haben sie selbst losgetreten, was den zweien hoffentlich zu denken geben wird. Ole und Toni werden Gespräche mit Psychologen führen und Anträge auf Änderung von Vornamen und Personenstand beim Amtsgericht stellen. Dazu gesellen sich irgendwann eine körperliche Behandlung mit Testosteron und operative Maßnahmen. Es wird kein leichter Weg für sie und wir werden sie begleiten. Das Goethegymnasium hat positiv reagiert, wie man es eigentlich von allen Schülern erwarten sollte. Ich werde mich mit Herrn Dr. Springer, dem Leiter, beraten. Er ist ebenfalls vor vollendete Tatsachen gestellt worden, wie mir Frau Baumann erzählte. Gut, meine Damen und Herren, dann wünsche ich Ihnen einen schönen Schultag und Ihnen, Herr Hauser, gutes Gelingen. Ich bin sonst gezwungen die Eltern von Trantow einzubeziehen, das dürfen Sie unserem Schützling gerne ans Herz legen.“
Frau Kielings sah auf ihren Unterrichtsplan. Mit einem freundlichen Kopfnicken verließ sie das Lehrerzimmer. Die außerplanmäßige Versammlung löste sich auf. Frau Kamrad ging in ihr Büro. Einen Moment später klingelte das Telefon. Herr Lotze vom Elternbeirat war dran und wollte wissen, ob an dem Gerücht, dass ein transsexueller Schüler sich an jüngeren Mitschülern vergriffen hätte, etwas dran sei. Er schickte ihr die SMS aufs Handy. Frau Kamrad las sie und wurde augenblicklich wütend. „Herr Lotze, eine Biologiekraft war eben in der besagten Klasse und hat dem Mobbing ein Ende bereitet. Sie wird heute und in den folgenden Tagen in allen Klassen über Transsexualität referieren. Einer unserer Problemschüler, Sie kennen Clemens, hat den shit storm ausgelöst, die Kleinen aufgehetzt und diesen Quatsch verbreitet. Herr Dr. Hauser will sich mit ihm unterhalten. Es geht auch darum, ob wir Clemens von der Schule weisen müssen und Sie kennen meine Meinung dazu.“ Es war ruhig am anderen Ende der Leitung geworden. Nur der Atem des Teilnehmers war zu hören. „Wenn das an dem ist, sehe ich leider keine Möglichkeit, dem Jungen noch eine Chance zu geben. Was er hier geschrieben hat, ist übelste Nachrede und bereits eine Straftat. Ich habe heute Morgen Zeit, darf ich vorbei kommen? Ich muss derzeit alle aufgeregten Unterstufeneltern beruhigen.“ „Ja, Herr Lotze, kommen Sie bitte. Dann lasse ich Clemens holen und Herr Dr. Hauser kann bei unserem Gespräch dabei sein. Sie werden Ole Baumann, um den es geht, auch kennenlernen.“
Anja Kamrad blickte sorgenvoll aus dem Fenster. Irgendwie musste sie an Clemens herankommen. Mit dem Stoff hatte er wenige Schwierigkeiten, er war eigentlich ein kluger Junge. Sie ahnte allerdings, dass seine Familie Ursache für das unsoziale Verhalten sein konnte. Und das, obwohl die Eltern zu den wohlhabenden Bürgern in der Stadt zählten und Clemens keine finanziellen Probleme ausstand. Eine Stunde später saß der Elternbeiratsvorsitzende in ihrem Arbeitszimmer. Frau Schreiber, eine der Beisitzer und Mutter einer zwölfjährigen Sechstklässlerin war ebenfalls dabei. Es klopfte an der Tür. Martin Hauser schob Clemens in die Höhle der Löwin, wie das Direktorenzimmer im Schuljargon unter den Schülern bezeichnet wurde. Einen Augenblick später klopfte auch Ole. Ihm war nicht wohl. Clemens gehörte nicht zu seinen Freunden, dennoch, verpetzen wollte er ihn auch nicht. „Danke Ole, dass du gleich gekommen bist. Setzt euch ihr zwei. Ole, ich habe heute Morgen mit deiner Mutter telefoniert. Sie fiel aus allen Wolken, als ich ihr erzählte, um was es ging. Du solltest mit deinem Comingout warten, bis sie sich mit mir besprochen hat. Wir haben mit Frau Kielings eine dritte Biologiefachkraft bekommen, die das Ganze hätte begleiten können. Ich hoffe, der Shit Storm ist dir eine Lehre und du vertraust dich uns in Zukunft an.
So, Herr von Trantow. Jetzt zu dir, junger Mann. Ich hatte dir bereits beim letzten Mal, als der Jugendrichter Sozialstunden verhängte, erklärt, dass es für dich fünf Minuten nach zwölf Uhr ist. Steckst du hinter den Schmähmails und Angriffen auf Ole?“ Clemens grinste. Die Situation war nach seinem Geschmack und konnte sich gar nicht besser entwickeln. Er wusste, dass er im Unrecht war, es ging ihm nicht um Ole. Er wollte seinem Vater eins auswischen. Deshalb spielte er das enfant terrible. Clemens liebte seine Eltern abgöttisch, sie waren nur nie für ihn da. Wenn er Geld wollte, zog sein Vater wohlwollend das Portemonnaie. Aber Familienausflüge, gemeinsame Feiern oder nur ein gemeinsames Frühstück mit den Eltern waren zu viel verlangt. „Klar, die Transe hat nichts anderes verdient.“ Lore Schreiber hatte die Nachrichten auf dem Handy ihrer Tochter gelesen und zweifelte sofort entschieden am Wahrheitsgehalt. Einige Mütter konnte sie beruhigen, als sie ihnen mitteilte, dass sie gleich ein Gespräch mit der Schulleiterin und Herrn Lotze in der Angelegenheit führen würde. Sie kannte Clemens und seine Eskapaden. Als studierte Sozialpädagogin war ihr schnell klar geworden, dass die Familienverhältnisse und die Abwesenheit der Eltern ausschlaggebend für Clemens‘ Verhalten sein konnten. Der Junge war klug. Seine Schulleistungen wiesen nichts auf, das Sorgen bereiten sollte. Jedoch, sein Benehmen durfte nicht länger geduldet werden. „Clemens, ich mache mir Sorgen um dich. Ich kenne deine Eltern und ich weiß, dass sie dich lieb haben. Aber sie arbeiten viel und du vermisst sie, stimmt’s?“ Lore sprach aus, was die anderen Erwachsenen sich bisher nicht trauten. Clemens sah auf den Boden. Sein Kartenhaus fiel grad in sich zusammen. „Ja, und wenn schon. Meinen Eltern bin ich egal. Aber ihr Ruf ist ihnen nicht egal. Was glauben Sie, was abgeht, wenn ich in den Knast wandre? Dann setzt mein Alter alle Hebel in Bewegung, um unseren Namen reinzuhalten. Dann kümmert er sich um mich.“
Überrascht hatte Ole zugehört. Seine Augen wurden immer größer. Wie Krass war das denn? Ihm wurde das Geglucke seiner Mutter häufig zu viel und es würde ihn freuen, wenn ihm sein Vater etwas weniger Aufmerksamkeit schenkte. „Eh, Alter. Du kannst gerne meine Eltern haben. Die betüteln dich dann von morgens bis Abends und wollen alles von dir wissen. Die hören dir zu, geben Ratschläge, auch wenn du gar keine brauchst. Wir können sofort tauschen!“ Lore hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. Frau Kamrad musste schmunzeln. Clemens starrte Ole an. „Du kannst wirklich eine Ersatzfamilie haben, ist kein sch… Toni gibt seine Eltern sicher auch gerne ab. Die wollen ebenfalls alles von ihm wissen. Sein Vater ist Dozent an der Uni und ziemlich streng. Die gehen ihm zeitweilig gewaltig auf den Senkel“, erklärte Ole. Martin Hauser betrachtete amüsiert das Schauspiel. „Die Idee ist gar nicht so schlecht. Clemens, du lernst Ole und Toni besser kennen, erweiterst dein Wissen im Hinblick auf Transsexualität und bekommst den Familienanschluss, den du dir wünschst. Es wird schwer, deine Eltern zu ändern. Ich kenne deinen Vater schon aus der gemeinsamen Schulzeit. Aber sie sind keine schlechten Menschen, sie sind Workaholics. Ich hoffte, dass deine Geburt sie etwas beruhigen würde, aber das geschah nicht. Sie lieben dich auf ihre Weise. Du kannst doch gut eislaufen. Baut euch eine Eishockeymannschaft auf. Und nebenbei adoptierst du Oles Eltern.“
Clemens dachte nach. Die Situation war ihm peinlich geworden. Am meisten schämte er sich vor Ole, den er aus den Pausen kannte. „Würden Sie meinen Eltern bitte nichts sagen? Ole entschuldige, ich komme mal zu dir in die Eishalle. Vielleicht hast du Recht.“ Frau Kamrad lächelte wohlwollend. Die Einsicht kam gerade zum richtigen Zeitpunkt. „Das ist ok. Wenn der Elternbeirat mitspielt, bekommst du noch eine Chance.“ Sie blickte erwartungsvoll auf Sebastian Lotze und Lore Schreiber. Die sahen sich an. „Wir haben nichts dagegen. Unter einer Bedingung: Du setzt dich an dein Handy und schreibst sofort, dass alles, was du über Ole gesagt hast Fake ist und ihr euch gut versteht. Es ist immer besser, wenn der Verursacher seinen Müll selbst entsorgt.“ Clemens nickte. „Ja, mach ich gleich. Sie kriegen auch eine Mail.“
„Gut“. Frau Kamrad nickte. Ihre Miene hatte sich erhellt und ihre Stimme klang nun freundlich. „Dann geht jetzt in eure Klassen und ich will nie wieder etwas von Mobbing an meiner Schule hören!“ Als die beiden Jugendlichen erleichtert den Flur betraten, kam ihnen Schulsekretärin Susanne Behrend mit einem Tablett voller Kaffee entgegen. Sie wurde im Zimmer der Direktorin sehnlichst erwartet und sehr freudig begrüßt. Dass konnte man jetzt gut gebrauchen. Kurz nach Mittag erhielt Frau Kamrad einen Anruf vom Direktor des Goethegymnasiums. Marius Springer war von Tonis Vater am Samstag bereits auf die mögliche Katastrophe hingewiesen worden, führte danach ein überaus angenehmes Gespräch mit Klaus Obermöller, in dem es nur anfangs um Toni ging. Den restlichen Teil fachsimpelten die Herren über ihr Lieblingsfach: Deutsche Geschichte und Klaus lud ihn zu einem seiner nächsten Vorträge an der Universität ein. Toni erging es am Montagvormittag nicht anders als Ole. In der Pause musste er auf dem Zahnfleisch zum Direx, der ihn zusammenstauchte, weil er nicht abwarten konnte. Später im Unterricht glänzte Toni mit seiner Hausarbeit über Iphigenie, was Marius Springer wieder gnädig stimmte. Er wollte dennoch mit der Direktorin von der Gesamtschule sprechen. „Ich habe eine junge Kollegin für den Fachbereich Biologie auf die Klasse angesetzt und bin hellauf begeistert. Die hat ganze Arbeit geleistet. Sie soll einmal komplett mit dem Thema Trans-und Homosexualität durch alle Klassen unterrichten. Wenn Sie möchten, kommt sie zu einem Seminar zu ihnen. Sie ist Referendarin und kann sich noch einige Sporen verdienen“, meinte Anja Kamrad. Marius stimmte begeistert zu. „Eine hervorragende Idee. Ich lege das in unserem Lehrplan fest und rufe Sie wegen der Terminabsprache an. Das machen wir hier in der Aula, da hab ich alle Klassen beieinander.“ Die beiden verabschiedeten sich. Clemens hielt Wort und stellte seine Fake Nachrichten noch in der nächsten Stunde richtig. Am Nachmittag wollte er sich mit Ole und einigen anderen Jungs in der Eishalle treffen.
Ole informierte Toni per SMS über die tolle Entwicklung in seiner Schule. Toni saß bereits wie auf Kohlen. Die Standpauke seines Vaters hatte ihm zu denken gegeben. Da waren sie wohl im Überschwang der Gefühle über das Ziel hinausgeschossen. Es tat ihm unendlich leid, dass Ole wegen ihm gemobbt wurde. Er hatte von der positiven Reaktion seiner Mitschüler auf alle anderen geschlossen und nicht daran gedacht, dass Toleranz und Verständnis nicht überall selbstverständlich waren. Das schlechte Gewissen quälte ihn den ganzen Montagvormittag. Uff. Die SMS am frühen Nachmittag kam genau zum richtigen Zeitpunkt.
Er saß in seinem Zimmer und bemühte sich, einige Lateinsätze zu übersetzen, jedoch die Konzentration war weg. Um siebzehn Uhr stand der erste Termin bei Frau Krause an. Toni war aufgeregt. Seine Lebensbeschreibung lag in einer Sichthülle auf dem Schreibtisch. Latein hatte auch bis Morgen Zeit, dachte er bei sich. Ihm war nicht weiter nach Hausaufgaben zu Mute. Das Heftchen mit dem unscheinbaren Titel De Bello Gallico wurde zusammen mit dem Schreibblock zur Seite gelegt.

Training und Frau Krause
Der Termin erforderte das Umstellen der Trainingseinheiten, so dass Toni nur bis kurz nach sechzehn Uhr Zeit hatte. Er wollte gleich von der Eishalle den Bus nehmen und zu Frau Krause fahren, deren Praxis sich in der Nähe des Bahnhofs befand. Es war bereits halb drei Uhr. In seinem Zimmer begann er mit leichten Übungen zum Aufwärmen, stellte die Beine abwechselnd nach hinten, belastete die Knie und dehnte dabei die Wadenmuskulatur. Kniebeugen und einige Liegestütze schlossen sich an. Danach zog er seine Sportkleidung an. Der Packer drückte in der Unterhose. Kurzerhand nahm er ihn heraus und schob ihn ganz tief nach unten in seine Sporttasche. Toni hatte sich wieder einen größeren Schlittschuhkoffer zugelegt, weil mehr Sachen hinein passten, Er war meistens so sehr durchgeschwitzt, dass er sich waschen und frische Unterwäsche anziehen musste. Für Hebungen und Wurfsprünge fehlte es manches Mal an Kraft. Das Sportstudio half nur bedingt, denn ohne männliche Hormone dauerte der notwendige Muskelaufbau einfach länger.
Er wollte zusammen mit Ole am Taekwondo Training teilnehmen, das dreimal in der Woche abends stattfand. Das würde seine mentalen und technischen Fähigkeiten stärken und natürlich gleichzeitig die Kondition. Für Probleme mit neunmalklugen Zeitgenossen, die sich über Transen auslassen mussten, kam Kampfsporterfahrung gerade richtig. Toni nahm die Lebensbeschreibung, die er sich vor einer Stunde ausgedruckt hatte und schob sie in ein Seitenfach seines Sportkoffers. Conny hasste Unpünktlichkeit und konnte sehr unangenehm werden, wenn sich ihre Schüler verspäteten. Er sah auf die Uhr. Um viertel vor drei verließ er sein Elternhaus.
Draußen erwartete den Jungen ein kühler und nasskalter Novembertag. Fröstelnd schob er den Reißverschluss seines Anoraks nach oben und begann den kurzen Weg zur Eishalle zu joggen. Frau Kramer, die die Eintrittskarten verkaufte spornte ihn lächelnd an. „Conny ist schon da, nun aber hopp!“
Die Stadionuhr zeigte fünf vor drei. Schnell wurden die Schlittschuhe angezogen. Nach ein paar raschen Dehnübungen sprang er aufs Eis. Conny stand in der Mitte und ließ Julia um sich herum laufen. Der Choctaw gefiel ihr nicht. Da musste Pepp rein. Julia bemühte sich, den Schritt locker und gelenkig vorzuführen. Es gab ihn offen oder geschlossen, sie musste die Kante ihres Schlittschuhs wechseln und dazu auch die Richtung. Eigentlich beherrschte sie die wichtigsten Schrittkombinationen, doch Conny hatte sich in den Kopf gesetzt, die Paarlaufkür der beiden um einige Sequenzen aus dem Eistanz zu erweitern. Das erforderte etwas mehr Arbeit für ihre Schützlinge, zahlte sich aber in den Wettbewerben aus. Conny trainierte sie mit Taktik. Die zwei waren gute Läufer, die eine Geschichte interpretieren konnten und über gute schlittschuhläuferische Fähigkeiten verfügten. Ein tolles Programm und ansprechende Transitions, wie man die Verbindungen zwischen den einzelnen Figuren nannte, könnten einiges an Fehlern bei den Sprüngen wieder wettmachen. Die Sprünge mussten sein, beinhalteten aber immer das Risiko eines Sturzes, was Punktabzug bedeutete. Ein schönes Programm konnte einiges auffangen und die Richter gnädig stimmen, wenn es um die Note für den künstlerischen Eindruck ging.
Toni lief ein paar Runden, wechselte dabei gleich von vorne auf rückwärts und versuchte sich ebenfalls am Choctaw. Conny schüttelte nachdenklich den Kopf. Bei Toni sah der Schritt noch peinlicher aus als bei Julia. Einen kleinen Seufzer konnte sie nicht unterdrücken.
Sie suchte Tonis Blick, der sich verzweifelt bemühte dem ihrem auszuweichen, aber es half ihm nichts. Unsichtbar machen funktionierte bei Conny nicht. Er stoppte neben ihr.
„Das nächste Mal darfst du gerne etwas früher erscheinen und dich vor allem vernünftig aufwärmen.“ „Hab ich schon zuhause“, beeilte sich ihr Noch Lieblingsschüler zu sagen. Conny schluckte. „Verarschen kann ich mich allein. Los, Schlangenlinien durch die Bahn, vorwärts- rückwärts, danach Paarlaufhaltung einnehmen und den Choctow als Blues. Erst ohne Musik, dann mit. Ich habe bereits angefangen eine Kür für euch anzulegen. Wir üben die Schrittfolgen nebenher und trainieren dann die Sprünge und Hebungen. Die Todesspirale taugt auch noch nichts Und jetzt Zuhören, auch du, Madame.“ Sie drehte sich zu Julia um und fuhr fort.
„Der Blues beinhaltet einen geschlossenen Choctaw, von einer linken vorderen Innenkante zu einer rechten hinteren Außenkante, der rechte Fuß beim Turn wird direkt hinter der linken Ferse platziert. Es wird geschlossene Kurve genannt, weil der linke Fuß nach der Kurve nach vorne gestreckt ist. Das sieht so aus.“
Conny wusste, dass ihre Füße nicht mehr so wollten, wie sie und hielt sich beim Vorführen gerne zurück, vor allem, wenn es um die Sprünge ging. Aber hier wollte sie nur die Bewegung zeigen, damit sich die beiden die Technik anschauen konnten und die beherrschte Conny immer noch im Schlaf.
Julia hatte sich gepolsterte Fallschutzhosen angezogen, die sie ihrer Meinung nach ziemlich dick aussehen ließen, aber ihr die Sicherheit gaben, mit sehr viel weniger blauen Flecken nach Hause zu kommen. Die Hose bremste ihre Eleganz aus, doch sie schützte bei unvermittelten Stürzen.
Sie nickte ihrem Partner zu. Beide bemühten sich, Connys Erwartungen zu erfüllen, jedoch, die Trainingsstunde wurde zu einer einzigen Katastrophe. Stürze gab es zwar keine, aber Conny sparte vor allem bei Toni nicht mit Kritik. Zum Schluss, kurz vor vier Uhr, schloss sich auch Julia an und begann in den höchsten Tönen mit ihm zu meckern. Bei ihr klappte es eigentlich sehr gut, meinte sie und schob Toni den schwarzen Peter zu. Dessen Gedanken waren in seiner ersten Therapiestunde. Er ahnte, dass die beiden Damen zu Recht auf ihm herum hackten, zugeben mochte er es natürlich nicht.
Die Stimmung war etwas in den Keller gerutscht. Toni wollte es sich wenigstens mit Julia nicht verderben. Er nahm die Freundin deshalb liebevoll in den Arm. Zärtlich fanden seine Lippen ihren niedlichen Schmollmund, den sie immer aufsetzte, wenn ihr irgendetwas nicht gefiel und durch den sie für Toni noch reizvoller wurde. „Sorry, Schatz, ich war heute nicht ganz bei der Sache, aber ich bessere mich, das verspreche ich. Du schmeckst so süß!“ Conny schüttelte amüsiert den Kopf. Den beiden konnte man wirklich nicht böse sein. „Ich schicke euch eure Musik und den Plan für die freie Kür auf die Handys. Für das Kurzprogramm müssen wir die Elemente sowieso können. Ich habe alles für die Klassenlaufprüfung zusammengestellt. Wenn wir im Frühjahr soweit sind, wäre das grandios. Aber wir wollen uns auch nicht hetzen und verrückt machen. Eure Schule hat ohnehin immer Vorrang. So, Toni, du bist entschuldigt, viel Glück bei deiner Therapeutin und Madame kann jetzt noch mit den anderen auf dem Eis bleiben. Amelie ist schon da. Ihr könnt den Doppelaxel und den dreifachen Salchow üben. Ich hole Flatterband und sperre hinten eine Bahn für euch ab, damit ihr mit dem Publikum nicht auf Kollisionskurs geht.“ Julia zog Tonis Kopf zu sich und erwiderte seinen Kuss. „Schwirr ab, du Supereistänzer. Heute Abend ist hier bis acht Uhr auf. Du darfst bestimmt bei den Berufstätigen mit laufen. Üb den Choctaw, am besten du lässt dich mit dem Handy filmen, dann siehst du auch den Murks, den du baust.“
Toni schmunzelte. Er zog sich in Windeseile seine Jeans und ein frisches T-Shirt an. Zur Toilette musste er auch noch. Es war schon fast halb fünf Uhr. Der Bus kam in wenigen Minuten. „Tschüss, Süße.“
Um kurz vor fünf Uhr stieg er die Stufen zum zweiten Stock des Ärztehauses, in dem sich Frau Krauses Praxis befand, hinauf. Er klingelte. Eine zierliche dunkelhaarige Frau mittleren Alters öffnete und sah ihn mit warmherzigen Augen an. „Guten Tag“, grüßte sie. „Hallo, ich bin Toni Obermöller, ich habe einen Termin bei Frau Krause.“ Lächelnd bat sie ihn herein. „Kommen Sie, ich bin Miriam Krause. Es dauert nur noch einen Moment. Nehmen Sie doch bitte kurz im Wartezimmer Platz. Ich bin gleich für Sie da!“ Sie zeigte Toni den Weg in ein helles Zimmer, an dessen Wänden diverse Bilder standen. Eines der eingerahmten Fotos trug den Namenszug Monet. „Stellen Sie Ihren Sportkoffer dort neben der Garderobe ab. Wir sind allein, hier kommt nichts weg.“ Toni lächelte und bedankte sich. Die schwarzen Stühle sahen bequem aus. Er tat, was ihm die Therapeutin geraten hatte und suchte sich einen Stuhl am Fenster aus. Seine innere Unruhe legte sich, nachdem der erste Kontakt so einfach und locker zustande gekommen war.
„So, jetzt kann es losgehen. Kommen Sie doch bitte in mein Arbeitszimmer.“ Sie wies mit der Hand auf eine kleine Sitzecke, in der zwei Stühle um einen kleinen Glastisch platziert standen. „Mögen Sie sich setzen?“ Etwas irritiert von der merkwürdig klingenden Aufforderung nahm er Platz. „Sie dürfen mich gerne Duzen, ich bin erst sechzehn Jahre alt“, meinte Toni. Frau Krause trug eine dunkelblaue Bluse zu einem schwarzen Rock, der ihre Knie bedeckte. Sie hatte sich ebenfalls gesetzt. „Das möchte ich eigentlich nicht. Sie sind in einem Alter, in dem sich ein junger Mensch auf dem Weg zum Erwachsenen befindet und Sie werden sicher in der Schule auch gesiezt, oder?“ Toni nickte. „Nun, ich muss einen gewissen Abstand zu meinen Patienten wahren, wenn ich ihnen in professioneller Weise begegnen soll. Daher möchte ich es in Ihrem Fall beim Sie belassen. Aber ich kann Sie mit dem Vornamen ansprechen, wenn Sie das lieber möchten“, erklärte sie. Toni hatte verstanden. Er nickte noch einmal. „Sie heißen Toni? Sind das alle Vornamen?“ „Nein, Toni, Georg, Florian, Martin.“ Frau Krause schrieb alle Namen auf einen Zettel. Sie hatte sich ein Blatt Papier in eine Tafel gespannt und ganz oben erkannte Toni das biologische Zeichen für männlich, einen Schild und einen Speer. „Das sind aber eine Menge Vornamen.“ „Ja, ich hatte mich meinen Eltern erklärt und die wollten gerne, dass ich die Namen meiner beiden Großväter trage. Mein Vater hätte mich zusätzlich Martin genannt, wenn ich ein Junge geworden wäre.“ Die Therapeutin stutzte demonstrativ. „Moment, Sie sind doch ein junger Mann, oder wie soll ich das verstehen?“ Jetzt war Toni irritiert. „Ich, ich bin Frau zu Mann transsexuell, aber das wissen Sie doch, oder? Ich hatte alles am Telefon gesagt.“ Frau Krause wusste Bescheid, doch darum ging es nicht. Sie musste herausfinden, ob ihr Patient an einer Psychose litt oder an einer anderen geistigen Erkrankung. Und sie wollte klare Anhaltspunkte sehen, die auf eine transsexuelle Prägung hinwiesen. Sie musste ihm auf den Zahn fühlen. Und das tat sie als Ärztin mit Zusatzausbildung Psychotherapie geschickt im Gespräch. Tonis Wunsch nach dem Du ließ einiges an kommunikativen Möglichkeiten zu. Sie verließ deshalb kurz die vertrauliche Ebene.
„Sie sagten das am Telefon, Herr Obermöller. Aber ich muss mir selbst ein Bild von Ihnen machen. Wenn Sie genuin transsexuell sind, wird bei Ihnen bereits der Wunsch nach einer geschlechtsangleichenden medizinischen Behandlung vorhanden sein. Als Psychotherapeutin habe ich die Pflicht, die Diagnose Transsexualität in einem Arztbrief Ihrer Krankenversicherung mitzuteilen und die Indikation zu medizinischen Maßnahmen zu stellen. Wenn ich mich irre und Sie aufgrund meines Attestes operiert werden und es dann nicht sind, habe ich einen ärztlichen Kunstfehler begangen, der für Sie und für mich unschöne Konsequenzen hätte. Sie müssten mit dem Operationsergebnis leben und könnten mich dafür in Haftung nehmen. Ich brauche also ein klares Bild von Ihnen. Das geht nicht von heute auf morgen. Wir müssen uns ein paar Mal treffen. Ob ich Ihnen dann nur eine Begleitung anbiete oder therapeutisch tätig werden muss, bleibt zunächst offen.“ In Tonis Kopf ratterte es. Die verdrehte ihm irgendwie das Wort im Mund, und dennoch hatte alles Hand und Fuß, was sie sagte. Er lehnte sich zurück. Ja, von außerhalb betrachtet, war er ein Mann, oder zumindest männlich. Nur mit weiblichem Körperbau. Er sprach seine Gedanken aus. „Sie haben Recht. Ich wurde mit weiblichem Körper geboren und fühle mich seit meiner frühesten Kindheit männlich. Mein Körper ist irgendwie falsch.“ Miriam Krause legte ihre Schreibunterlage vor sich auf den Tisch. „Falsch ist Ihr Körper nicht, Toni. Zum Körper gehören auch die Arme und Beine und anderes mehr. Aber die Geschlechtszuweisung, die Sie als Säugling von der Hebamme oder dem behandelnden Arzt erhalten haben und die Ihre Eltern aus gutem Grund übernahmen, stimmt nicht mit der überein, die Sie mir heute schildern. Transsexualität ist psychotherapeutisch nicht behandelbar. Ich kann Ihnen deshalb nur eine Wegbegleitung anbieten, bis Sie Ihre Papiere geändert haben und ggfs operative Maßnahmen durchgeführt wurden. Hormonelle natürlich auch.
Sie haben also auch weibliche Vornamen. Mögen Sie sie mir nennen? Wir bearbeiten dann erst einmal das Administrative, was zwar langweilig ist, aber nicht zu ändern.“ Das Gespräch hatte eine besondere Eigendynamik entwickelt, fand Toni. Aber es war ihm nicht unangenehm.
„Ich heiße mit Mädchennamen Tanja, Maria- Sophie, Charlotte, nach meinen Großmüttern. Nachname ist Obermöller. Ich wurde am 18.06.2007 in München geboren. Meine Anschrift lautet. Blumenweg 12 in Adendorf. “ Miriam Krause lächelte in sich hinein. Na also, geht doch, dachte sie. Sie hatte ihre Schreibutensilien wieder an sich genommen und schrieb die Daten schnell mit. „In welcher Krankenkasse sind Sie? Sie sind sicher bei den Eltern versichert?“ „Wir sind privat. Mein Vater ist in der Münchner allgemeinen PKV.“
„Was sind Ihre Eltern von Beruf?“ „Mein Vater ist Geschichtsprofessor und meine Mutter Krankenschwester.“ „Gut, ist Ihre Mutter da nicht gesetzlich versichert? Ich frage deshalb, weil die privaten Versicherungen zwar allesamt verpflichtet sind, geschlechtsangleichende Maßnahmen zu finanzieren, aber gerne versuchen sich davor zu drücken. Sie könnten sich ansonsten entweder bei Ihrer Mutter gesetzlich versichern lassen, oder als freiwilliges Mitglied in die gesetzliche Kasse eintreten. Da gibt es Verdienstgrenzen bei den Eltern. Dann warten Sie bei Fachkollegen vielleicht etwas länger auf einen Termin, haben aber die Gewissheit, dass alle im Gutachten genannten Maßnahmen übernommen werden. Das entscheiden Sie natürlich selbst, aber ich wollte es gesagt haben. Vielleicht sprechen Sie es bei Ihren Eltern an. Es ist ja nicht unwichtig und ich habe eine ganze Reihe von Patienten, die sich beklagen, weil ihnen die Kostenübernahmen Schwierigkeiten bereiten.“
„Das werde ich, danke. Soweit habe ich noch gar nicht gedacht. Herr Petersen hatte es auch bislang nicht erwähnt“, erwiderte Toni spontan. „Wie gefällt Ihnen denn Herr Petersen?“, fragte sie. Tonis Worte beschrieben nur Positives und er erzählte von seinem ersten Treffen in der Gruppe. Er berichtete von Ole und ihrer ersten großen Liebe. Julia und Amelie sowie Conny folgten. Miriam Krause schrieb lächelnd mit, hörte aufmerksam zu. In einer Sprechpause ergriff sie das Wort. „Toni, das war alles sehr aufschlussreich. Wie geht es Ihnen jetzt? Vor allem, wie geht es Ihnen mit mir?“ Toni stutzte. „Es ist alles ok und ich finde Sie sehr nett“, meinte er.“ „Das ist gut. Die fünfzig Minuten meiner Sitzung sind um. Ich möchte Sie gerne in meinen Patientenkreis aufnehmen. Aber ich kann Ihnen vorerst aus Zeitgründen nur fünf Krisensitzungen anbieten. Für mehr muss ich einen Bericht an Ihre Krankenversicherung schreiben, damit diese uns die Kostenübernahme schickt. Außerdem habe ich für neue Patienten erst in frühestens drei Monaten wieder Platz. Ich möchte Sie bitten, den Nachweis für Ihre private Krankenversicherung Ihrem Vater zu geben und mir zur nächsten Sitzung unterschrieben wieder mitzubringen. Falls Ihre Mutter Sie bei sich gesetzlich versichern kann oder eine eigene gesetzliche Versicherung für sie abgeschlossen wird, rechne ich mit der gesetzlichen Kasse ab. Besprechen Sie sich mit den Eltern. Eine Einverständniserklärung ihrer Eltern hinsichtlich der Behandlung brauche ich nicht mehr, da Sie über 15 Jahre alt sind. Den Behandlungsvertrag gebe ich Ihnen nächstes Mal. Ich kann Sie nächsten Montag um dieselbe Zeit wieder bestellen. Eine Patientin hat abgesagt. Passt es Ihnen?“ Toni bejahte. Er dachte an seine Lebensbeschreibung. „Ich habe meinen Lebenslauf aufgeschrieben. Peter meinte, Sie brauchen das!“ Die Therapeutin lächelte. „Aber gerne, den geben Sie mir bitte gleich her. Herr Petersen ist so umsichtig, er kann bald meinen Job übernehmen.“ Die beiden standen auf. Miriam strich ihren schwarzen Rock glatt und beobachtete ihren jungen Patienten genau. Toni ging zu seinem Schlittschuhkoffer ins Wartezimmer. Mit sicherem Griff zog er die Klarsichthülle heraus. Vierzehn Seiten beschrieben seine Gefühle und seinen Werdegang. Er hatte sich schon während er schrieb über die vielen Details gewundert, die ihm am PC einfielen. Es war somit ein recht langer Aufsatz geworden. „Bitte, es ist nicht wenig“, sagte er. Miriam Krause zog überrascht ihre Augenbrauen hoch. Ihre erwachsenen Patienten schafften meistens maximal sechs bis acht Seiten. Häufig brachten sie weniger zu Papier, obgleich sie eigentlich schon sehr viel erlebt hatten. Die Berichte halfen der Ärztin bei der Beurteilung ihrer Patienten. Sie enthielten oft wichtige Informationen über die psychische Struktur und die Gedankengänge, was ein geschulter Therapeut wie sie zwischen den Zeilen herauslesen konnte. Dass ein so junger Mensch wie Toni bereits derart detailliert berichtete, machte sie neugierig. „Danke, das hilft später beim Gutachten für die Krankenversicherung und die behandelnden Ärzte. Sie werden meinen Arztbrief auch Ihrem Operateur vorlegen müssen.“ Sie nahm die Sichthülle entgegen und öffnete ihm die Tür. Toni fühlte sich durch die vielen Eindrücke etwas überladen, aber trotzdem rund herum zufrieden.
„Auf Wiedersehen, bis nächsten Montag“, sagte er und bemühte sich nicht zu fallen, während er seinen Koffer die Treppe hinunter trug. Als er die Haustür öffnen wollte, wurde sie von außen aufgeschoben. Eine junge Frau mit einem roten Anorak bekleidet betrat den Hausflur. Toni konnte den Zusammenstoß gerade noch verhindern und ließ ihr den Vortritt. Er beschloss, sich im Eiskaffee nebenan eine Cola zu bestellen. Seine Kehle war ausgedörrt, etwas kratzte in seinem Hals. Kein Wunder, hatte er doch fast fünfzig Minuten geredet.
Zuhause warteten seine Eltern neugierig auf ihn. Klaus riet Anneliese am anderen Morgen bei ihrer gesetzlichen Krankenkasse anzurufen. Er hatte schon des Öfteren daran gedacht, sein Kind aus der Privaten Versicherung herauszunehmen. Er musste alle Rechnungen und Medikamente verauslagen und Anträge auf Erstattung stellen, bis er sein Geld zurückbekam. Das kostete ihm zu viel Arbeit und Zeit. Bei Anneliese war Toni automatisch bis zum Studienende abgesichert. Klaus verdiente nicht schlecht, doch eine geschlechtsangleichende Operation konnte auch er nicht finanzieren. Und es kamen Folgekosten hinzu. Die gesetzliche Kasse bot mehr Sicherheit. Anneliese erfuhr am nächsten Tag, dass Toni wegen des hohen Verdienstes ihres Ehemannes nicht automatisch bei ihr mitversichert werden durfte. Jedoch konnte er zu einem geringen Preis freiwilliges Mitglied werden. Das hatte den Vorteil, dass er keine gesonderten Rechnungen bekam, sondern alle Krankheitskosten von Seiten des Arztes direkt mit der Kasse abgerechnet werden. Dies entsprach Klaus‘ Vorstellungen punktgenau. Am Ende der Woche besaß Toni seine eigene Krankenversicherungskarte und hatte wieder einiges dazugelernt.
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Ole und er unterhielten sich am Montagabend am Telefon über Tonis ersten Besuch bei der Therapeutin. Auch Ole konnte seine Lebensgeschichte aufschreiben und fühlte sich durch den Bericht für seine erste Therapiesitzung gut vorbereitet. Am Dienstag betrat er relativ ruhig und gelassen gegen sechs Uhr abends das Ärztehaus am Bahnhof.
Er musste einen Moment warten. Auf sein Klingelzeichen rührte sich zunächst nichts. Ungeduldig begann er von einem Fuß auf den anderen zu treten und fasste sich ein Herz. Fest und etwas länger drückte sein Finger noch einmal auf den Klingelknopf. Schritte waren zu hören. Ole spürte Erleichterung. Er hatte schon befürchtet, Frau Dr. Krause wäre nicht da gewesen. Die Tür öffnete sich. „Guten Abend, Entschuldigen Sie, ich musste noch meinen Anrufbeantworter abhören. Sind Sie Herr Baumann?“ Ole wusste bereits, dass er sich auf das förmliche „Sie“ in der Anrede einzustellen hatte. „Ja, ich bin Ole. Mein Freund Toni hat mir erzählt, dass Sie uns auch beim Vornamen ansprechen, wenn wir das möchten.“ Miriam Krause konnte ein Schmunzeln nicht verhindern. „So, hat er das? Na, dann kommen Sie mal herein, Ole. Einmal gerade durch und dann rechts in mein Arbeitszimmer.“ Sie ließ Ole eintreten und schloss die Tür.
„Einen netten Freund haben Sie. Aber nun zu Ihnen. Bitte nehmen Sie Platz.“ Sie wies auf die Sessel neben dem Glastischchen. Ole blickte sich um. Das Zimmer wirkte aufgeräumt und funktional. Ein großer Schreibtisch, auf dem ein Computer und ein Drucker standen, befand sich ihm gegenüber an der Wand. Er sah aus dem Fenster. Durch die halb geschlossenen hellen Jalousien konnte er zum Bahnhof schauen. „Mögen Sie mir den Grund Ihres Besuchs erzählen?“ Ole zuckte zusammen. Frau Krause registrierte jede seiner Bewegungen. Das nonverbale Verhalten und die Körperhaltung sagten viel über die Person vor ihr aus. Davon ahnte Ole allerdings nichts.
„Ähm, ja. Ich hatte Ihnen schon auf den Anrufbeantworter gesprochen. Herr Petersen ist der Leiter der Selbsthilfegruppe und hat Sie mir empfohlen. Mein Freund Toni war gestern bei Ihnen. Ich bin genauso.“ Miriam Krause zog die Augenbrauen hoch. „Ich kenne einige Herren mit Namen Petersen, das ist hier im Norden nichts Besonderes. Wen meinen Sie, um welche Selbsthilfegruppe geht es und warum sind Sie genauso? Nicht einmal Zwillinge sind gleich. Ich verstehe nicht so ganz.“ Oh je, Ole schluckte. Normalerweise war er nicht auf den Mund gefallen, aber irgendwie fiel es ihm heute schwer, über seine Gefühle und seine Transsexualität zu sprechen. Er setzte noch einmal an. „Also, ich bin Frau zu Mann Transsexuell und habe Herrn Peter Petersen in der Hamburger Selbsthilfegruppe kennengelernt. Er sagte, dass wir eine Bescheinigung von Ihnen brauchen, damit wir unsere Papiere ändern können und Hormone bekommen.“ „Seit wann haben Sie das Gefühl im falschen Geschlecht zu leben, Ole?“ „Seitdem ich denken kann. Ich wollte schon als kleines Kind lieber ein Junge sein.“ „Wie hat sich das praktisch geäußert?“ Ole überlegte. Ihm erschien die ganze Situation plötzlich irgendwie unwirklich. Ihm wurde bewusst, dass etwas mit ihm geschah. Alles, auch die Gespräche mit den Eltern, der Termin in der Gruppe und die Gespräche mit den anderen, Toni und die Schule, das war trotziges Reagieren auf das Verhalten der Umwelt gewesen, weil es ihn ärgerte, immer wie ein Mädchen behandelt zu werden. Das Gefühl sich stets erklären und für das selbst empfundene Geschlecht rechtfertigen zu müssen, war allgegenwärtig. Bei Frau Krause fühlte er das erste Mal, dass er nicht beweisen musste, wer er war. Unsicherheit machte sich breit, weil er eine merkwürdige Leere in sich verspürte. Sie schien von ihm Besitz zu ergreifen. Er kämpfte dagegen an. Sein Verstand sagte ihm, dass er nur einer Ärztin gegenüber saß und ein normales Arztgespräch über seine Beschwerden führte. Aber was waren seine Beschwerden? Ole antwortete und glaubte, eine andere Person würde für ihn sprechen. „Ich wollte nie mit Puppen spielen, tobte lieber mit den Jungs in der Eishalle beim Eishockey herum. Ich wünschte mir Bücher, in denen Jungen die Helden waren und Spielzeugautos. Es war ein Gefühl, als wenn mir am Geschlecht etwas fehlte, aber ich wusste doch gar nicht wie Jungen und Mädchen aussahen.“ „Das heißt, Sie kannten die körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht, fühlten sich aber dennoch bei den Jungen wohler, als bei den Mädchen? Kann ich das so verstehen?“ „Ja, ich fühl mich hier so komisch. Es ist, als wenn ich…“ Oles Stimme versagte. „Als wenn Sie nicht mehr kämpfen müssen?“ Ja, genau das war es. Da gab es keinen Druck mehr, sich wehren zu müssen, der Junge in ihm lebte ständig auf dem Sprung, sich zu behaupten. Er brauchte zum ersten Mal in seinem Leben keine Überzeugungskraft anwenden, um als er selbst wahrgenommen zu werden. Siebzehn Jahre inneres Ungleichgewicht, sich in Frage stellen und immer wieder einen nahezu mörderischen Kampf gegen sich selbst führen zu müssen, brachen aus ihm heraus. „Ich fühle, wie sich eine riesige Welle über meinen Kopf ergießt. Da ist etwas, wie Freiheit. Es ist schön, wunderschön.“ Oles Stimme brach und Tränen rannen über sein Gesicht. Er konnte sie nicht aufhalten. Das war ein Befreiungsschlag, was nun mit ihm geschah. Noch nie konnte er sich so gehen lassen. Die Tränen spülten alle Schmerzen, Unzulänglichkeiten und Ängste fort. Es dauerte einige Minuten. Langsam beruhigte er sich wieder. Frau Krause hatte diskret ein Paket Papiertaschentücher auf den Tisch gelegt. Sie schwieg und beobachtete ihren jungen Patienten genau. Dessen heftige Reaktion kannte sie aus den Sitzungen mit transsexuell geprägten Menschen. Die Geschlechtsidentität beeinflusste die gesamte Persönlichkeit, sie war ein Teil von ihr. Transidenten fühlten zu Beginn ihres Lebens, während sich ihr Bewusstsein bildete, ihr psychisches Geschlecht genau. Im Laufe der Jahre erkannten sie die Diskrepanz zwischen ihrem Gefühl und dem, was die Umwelt und vor allem die unmittelbaren Bezugspersonen, in der Regel die Eltern, ihnen vorlebten und von ihnen erwarteten. Das Verhalten und die Annahme durch die Außenwelt, die ebenfalls als Realität erlebt wird, standen sodann im Widerspruch zum inneren Erleben. Ein schwerer innerer Konflikt war häufig die Folge, denn die Kinder wussten nichts von Transidentität und bekamen Angst ihre Eltern zu enttäuschen. Sie fürchteten gleichzeitig sie zu verlieren. Die Ambivalenzen führten sehr oft zu Selbsthass und zu Selbstverletzungen.
Oles Seele spürte die Offenheit, mit der Miriam Krause ihren Patienten begegnete und zog die richtigen Schlüsse. Er nahm die Taschentücher dankend an. Ein wenig schämte er sich. Wie konnte er als Mann hier einfach losheulen?
„Was ist gerade mit Ihnen passiert, Ole?“ Miriam blickte freundlich. Sie zeigte Mitgefühl und Anteilnahme. „Ich weiß es nicht. Es war aber befreiend. Ich fühle mich viel besser“, antwortete Ole. „Was heißt das? Können Sie Ihre Gefühle etwas deutlicher erklären?“ „Ich war irgendwie eingesperrt und musste immer kämpfen. Ich war wütend auf mich, weil ich anders war, als ich sein sollte.“ „Und wie sollten Sie sein?“ „So, wie meine Eltern mich ansprachen. Aber das war ich nicht und ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen.“ „Und was wollen Sie jetzt?“ „Ich möchte ich selbst sein.“ „Und wer sind Sie selbst? Ach, Ole, Herr Baumann, nun lassen Sie sich doch nicht alles einzeln aus der Nase ziehen!“ Miriams Stimme hatte einen leicht fordernden Klang angenommen. Das kannte Ole. So hörte sich seine Mutter an, wenn sie ungeduldig wurde. „Ich bin ein Junge und kein Mädchen und ich möchte als Junge leben.“ Die Antwort kam klar und fest. Ole und die tiefe innere Gewissheit seiner Seele waren sich einig. „Uff, das nenne ich eine schwere Geburt!“, meinte die Therapeutin und seufzte leise.
Sie nahm ihren Schreibblock, der neben ihrem Sitz auf dem Fußboden gelegen hatte, auf ihren Schoß und kritzelte ein Zeichen in die linke obere Ecke, das beides zeigte: einen Schild mit einem Speer und unten einen Spiegel. Ein wellenförmiger Pfeil wies auf ein eindeutigeres Zeichen. Schild und Speer. „Ole, ich bin mir bei Ihnen noch nicht sicher, ob jetzt alle Irritationen bei Ihnen ausgeräumt sind. Und ich möchte Sie auch besser kennenlernen. Wenn sich die Transidentität bestätigt, können wir an Ihrer Geschlechtsidentität eh nichts ändern. Aber ich muss in Ihnen die von Ihnen selbst verursachten Zweifel lokalisieren. Die Sitzungszeit ist um. Ich kann Ihnen nächsten Mittwoch um 17 Uhr einen Termin anbieten. Wir müssen jetzt kurz einiges Administratives klären. Hier ist ein Fragebogen zu Ihren persönlichen Verhältnissen, die Einverständniserklärung Ihrer Eltern brauche ich nicht mehr, weil Sie über 15 Jahre alt sind. Deshalb müssen Sie sich den Behandlungsvertrag genau durchlesen und mir unterschrieben zurückgeben. Sind Ihre Eltern gesetzlich oder privat versichert?“ Ole schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht.“ „Gut, dann fragen Sie. Wenn Sie familienversichert sind, sollten Sie bereits eine eigene Versichertenkarte haben. Ansonsten können Sie auch als freiwilliges Mitglied der gesetzlichen Kasse beitreten. In dem Fall zahlen Ihre Eltern einen Beitrag für Sie. Bringen Sie mir nächste Woche Ihre Karte mit. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, schreiben Sie mir bitte einen Lebenslauf. Dabei lege ich nicht so viel Wert auf die tabellarischen Daten, die stehen ohnehin im Fragebogen. Mir sind ihre Empfindungen und Gefühle wichtig. Vor allem die Beziehung zu Ihrer Mutter interessiert mich. Schreiben Sie auf, wie Sie Ihre Kindheit erlebt haben. Sehen Sie es an wie einen Deutschaufsatz in der Schule.“ Ole bremste seine bewegten Gefühle und versuchte Frau Krause auf Verstandesebene zu folgen. Die Lebensbeschreibung fiel ihm ein. Er zog die acht bedruckten Seiten aus seinem Rucksack und reichte sie ihr. Ihre Zettel faltete er zusammen und steckte sie im Gegenzug hinein. Etwas wacklig stand er auf. Miriam Krause lächelte. „Vielen Dank, ich sehe, Herr Petersen hat wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Ole, wir treffen uns nächsten Mittwoch um Fünf!“ Erleichtert schüttelte Ole die dargebotene Hand. Es war kühl und regnete etwas als er aus der Haustür trat und auf dem Bürgersteig stand. Straßenlaternen und die Beleuchtung der Geschäfte tauchten die Straße in helles Licht. In regelmäßigen Abständen flackerten bunte Neonreklamelichter auf. Der Verkehr hatte zugenommen. Viele Menschen waren auf dem Heimweg von der Arbeitsstelle. Ole überquerte ausgeglichen und zufrieden den Zebrastreifen, der ihn zum Bahnhofsvorplatz führte. Ein nagendes Hungergefühl und Durst meldeten sich. Er sog den Geruch von frittiertem Essen in seine Nase hinein. Das grell leuchtende Schild einer Fastfoodkette erregte seine Aufmerksamkeit. Er könnte erst einmal dort einkehren und erst danach einen der nächsten Busse nach Hause nehmen, dachte er.
Genüsslich biss er in seinen Hamburger und spülte sein Essen mit einem Schluck aus der Colaflasche hinunter. Er stand in einer Ladenzeile, die sich neben den Schienen und der Bahnhofsvorhalle befand. Eine Treppe über ihm gab es ein großes Kino. Ole zog sein Handy aus dem Rucksack und drückte auf Tonis Namen. Der meldete sich Augenblicke später. „Du, ich steh im Bahnhof und gönne mir grad einen Burger. Die Krause ist nett, hat aber eine merkwürdige Art zu reden.“ Toni lachte. „Das höre ich, mit mehr als fünf Pfund im Mund sollte man nicht mehr sprechen, meint meine Mutter immer. Aber du hast Recht. Sie ist gewöhnungsbedürftig. Ich weiß nicht, ob alle Therapeuten so sind.“ Ole bemühte sich alles herunterzuschlucken und spülte mit seiner Cola nach. „Die hat mich so irritiert, dass ich anfing zu heulen. Es war eine Befreiung, wie nach zwanzig Jahren Knast.“ Toni stimmte ihm zu. „Ja, das Gefühl hatte ich auch. Nur ich brauchte nicht weinen. Und letzten Endes warst du ja bis vor kurzem noch im Knast, wenn auch nur siebzehn Jahre lang. Wann sollst du wieder hin?“ „Nächsten Mittwoch um fünf Uhr.“
„Ich soll am Montag wieder kommen. Bin mal gespannt, wie es bei ihr weiter geht. Hast du deine Lebensbeschreibung abgegeben?“ Ole bejahte. „Okay, ich wollte dir nur Bescheid gesagt haben. Wir sehen uns morgen auf dem Eis. Mein Bus kommt gleich. Machs gut!“ „Du auch!“
Ole beschloss seinen Eltern nichts von seinem Weinkrampf zu erzählen. Es war ihm peinlich.

In der Selbsthilfegruppe
Die Woche war schnell vergangen. Die Elternpaare hatten vereinbart, dass sie in getrennten Autos zum Treffen der Selbsthilfegruppe nach Hamburg fahren wollten. Auf dem Weg dorthin sollten die Obermöllers einen Stopp bei den Baumanns einlegen. Um kurz nach 17 Uhr verließen Anneliese, Klaus und Toni ihr Haus. Das Anwesen von Oles Eltern lag an der Strecke, so dass Tamara sie noch auf einen kurzen Drink zur Besichtigung ihres Hauses eingeladen hatte. Sie öffnete die Tür und winkte die Familie zu sich hinein. Toni wurde von Ole sofort in dessen Zimmer ins obere Stockwerk geschoben, während die Eltern unten eine Sightseeing Tour starteten. Oles Zimmer unterschied sich in der Größe nicht sonderlich von Tonis. Poster von Eishockeystars hingen an der Wand. Kleine Matchboxautos aus Kindertagen waren auf einem Regal neben Büchern angeordnet. Ole liebte Tierbücher und besaß diverse Romane über Pferde und andere Tiere aus alten TV Serien.
Sein Blick fiel auf den Hocker, der ihm als Nachttisch diente. Silbern eingerahmt stand dort ein Foto. Ole erschrak und stellte sich schnell davor. Toni bemerkte die Aktion und fing an mit ihm zu rangeln. „Was versteckst du da, hinter dir?“ „Ähm, gar nichts“, meinte Ole. Aber Toni hatte ihn bereits zur Seite geschoben und fing lauthals an zu lachen. „Ach, sieh mal an!“ „Wieso lachst du, hast du nichts dergleichen?“, fragte Ole. Toni grinste und zog sein Handy hervor. Das Display zeigte eindeutig, das Ole Recht hatte. Julias Antlitz lächelte ihm entgegen. Er wusste Bescheid. „Ja, sie sind schon hübsch, unsere Mädels.“ Ole schmunzelte und gab den Blick auf Amelies Foto frei.
„Jungs, wir müssen los. Kommt herunter!“ Vater Baumanns Stimme duldete keinen Widerspruch. Zweimal wurden die beiden Autos an Ampeln getrennt, doch dank ihrer Navigationsgeräte erreichten sie kurz vor 19 Uhr den Parkplatz der Gaststätte in Hamburg. Die Frauen flanierten sofort zum Fleet. „Im Sommer muss das hier wunderschön sein“, bemerkte Anneliese. „Ja, wir kommen dann zum Kaffee noch mal her“, antwortete Tamara. Ole und Toni riefen die beiden und führten ihre Eltern ins Gasthaus. Dort waren die Tische schon zusammengeschoben. Janine unterhielt sich mit Roswitha. Neben Stephan saßen zwei weitere Jungs. Peter war noch nicht da. „Hallo, einen schönen guten Abend. Wir haben unsere Eltern dabei. Wo dürfen wir sitzen?“, fragte Ole. Roswitha und Janine waren bereits aufgestanden. Die Neuankömmlinge stellten sich vor. Man gab sich die Hand. „Schön, dass Sie gekommen sind. Dann haben unsere beiden Neuen es ja geschafft und sich geoutet. Wir hatten da einige Bedenken. Aber Peter war wohl schon bei Ihnen, wie Janine grad erzählte.“ Roswitha freute sich für Ole und Toni. Sie zeigte mit der Hand auf die freien Plätze. „Sucht euch einen Platz aus, es stehen genug Stühle zur Verfügung.“ Nachdem alle versorgt waren, kam die Bedienung und nahm die Getränkebestellungen auf. „Und das findet hier einmal im Monat statt?“, fragte Tamara. Stephan nickte und zeigte auf die beiden Freunde neben sich. „Das hier sind Mark und Frank, sie waren letztes Mal nicht da.“ Die Angesprochenen nickten ebenfalls und sagten hallo. Toni schloss aus den flachen Oberkörpern, dass beide ihre Brüste abgebunden hatten. Ihre Stimme klang noch recht hoch und ein Bartwuchs war nicht erkennbar. Im Gegensatz zu Stephan standen die zwei wohl auch noch ziemlich am Anfang ihrer körperlichen Behandlung.
Roswitha und Janine widmeten sich den Elternpaaren. So häufig kamen nicht beide Elternteile in die Gruppe. „Wir hatten als uns Toni alles erzählte, Angst, dass wir etwas bei ihm falsch gemacht haben. Tamara und Rolf erging es genauso. Aber Herr Petersen konnte uns beruhigen. Warum jemand transsexuell ist, ist wohl noch nicht richtig erforscht?“, fragte Anneliese und blickte Janine freundlich an. Sie fühlte sich bei den beiden Frauen wohl. Klaus merkte es und lächelte. Da kam nichts Männliches rüber. Auch wenn Roswithas Stimme etwas tief klang, ordnete er sie sofort in die Kategorie Frau ein. Er dachte an Sandra. „Kennen Sie eine Sandra Winkler?“ Janine nickte. „Ja, sie studiert an der Uni Geschichte. Sie sind der Professor?“ „Japp“. „Wollen wir nicht du sagen?“, fragte Roswitha. Sie wurde sofort bestätigt. Janine wandte sich an Anneliese. „Nein, es werden viele Ideen diskutiert. Möglicherweise sonderte die Nebennierenrinde während der Schwangerschaft zu viel Testosteron bei weiblichen Embryonen ab. Oder die Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr hat nicht funktioniert. Das sind alles nur Vermutungen. Ein Professor meinte einmal, ein Teil des Gehirns, welches Corpus Calosum genannt wird, wäre nicht richtig ausgebildet. Er riet schwangeren Frauen allen Ernstes, bei Vorliegen einer solchen angeblichen Anomalie zur Abtreibung. Gottseidank blieb er damit in der Ärzteschaft allein und wurde von den Kollegen hart angegriffen. Man muss derzeit davon ausgehen, dass es keine ausreichenden Erklärungen für das Phänomen gibt.“ Sie fügte hinzu: „Und niemand hat schuld. Das ist bei Homosexualität genauso. Die Natur ist so vielfertig. Im Tierreich und im Pflanzenreich gibt es eine Menge außerordentlicher Lebensformen, so dass der Mensch da keine Ausnahme bilden kann.“ Toni begann vom Outing in der Schule zu erzählen. Roswitha atmete tief ein und aus. In der Zwischenzeit waren Peter und Eva hereingekommen. Peter stockte der Atem. „Also, euch zwei kann man nicht eine Minute aus den Augen lassen und schon macht ihr Blödsinn!“ Er gab Anneliese und Tamara die Hand, begrüßte danach Rolf und Klaus. „Ich freue mich, dass Sie hergefunden haben. Wie ist das in den Schulen weitergegangen? Das interessiert mich doch nun sehr. Toni weiter !“ Der sah seinen Kumpel an. Auch die drei anderen Jungs schwiegen betreten. Die hatten sich ebenfalls nicht immer an Absprachen gehalten und waren ein paarmal ziemlich angeeckt. Toni erzählte und gab das Wort an Ole weiter. Es war ruhig am Tisch geworden, als er von den Kindern und den Wasserbomben berichtete. Dann kam der Auftritt Martina Kielings zur Sprache. Oles Augen leuchteten. „Die ist wirklich affengeil“, erklärte er. „Ich musste zur Direx und wollte Clemens, der das ganze losgetreten hatte, gar nicht so gerne verpetzen. Aber Frau Kamrad hat sich ihn zur Brust genommen.“ Er erzählte von Clemens‘ häuslichen Problemen. Seine Eltern fingen an zu lachen, als sie hörten, dass sie einen Adoptivsohn bekämen. Auch Peter lehnte sich erleichtert zurück.
„Leute, ihr habt großes Glück gehabt. Das hätte schlimm ausgehen können. Merkt euch das und kommt vorher zu mir oder fragt die anderen, bevor ihr wieder zu Alleingängen aufbrecht. Ole, schöne Grüße an Martina. Wir kennen uns gut. Sie war auch früher in der Gruppe. Und: alles, was hier gesagt wird, bleibt auch hier. Das gilt insbesondere für Dinge über euch bekannte Personen, die euch hier zugetragen werden. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt.“ Ole stutze. Das hieß, seine Biolehrerin war auch transsexuell? Er konnte es nicht glauben. Damit hatte er nicht gerechnet. Er beeilte sich Peter zu entgegnen. „Ja, natürlich. Von mir erfährt niemand etwas. Sie hat mir so geholfen. Ihr Auftreten war super selbstbewusst. Niemand wagte ihr zu widersprechen. Whow. Ich freue mich, eine so tolle Lehrerin zu haben.“
Klaus sprach Peter an. „Wie sollen wir denn nun weiter verfahren? Den ersten Termin bei der Psychologin haben die zwei gehabt. Sie riet uns Toni bei Anneliese in der gesetzlichen Kasse zu versichern, damit es bei den Kostenübernahmen später keine Probleme gibt. Das hatte ich ohnehin schon vorgehabt. Ich muss ja jede Arztrechnung erst einreichen oder verauslagen. Das ist mit Kosten und Arbeit verbunden. Wir haben da angerufen und alles regeln können. Er ist jetzt selbst versichert.“
„Das stimmt. Die Versicherungen sind unterschiedlich und in der gesetzlichen Kasse ist man gut aufgehoben, wenn die Indikation zu medizinischen Behandlungen gestellt wurde. Das alte TSG von 1980 gibt es nicht mehr. Es wird jetzt für die Vornamen-und Personenstandänderung nur die Vorstellung beim Melderegister diskutiert. Das Gesetz soll bald kommen. Ich denke, spätestens im nächsten Sommer ist es durch. Es sind somit zwei Teile, die getrennt zu behandeln sind. Zum einen der reine Verwaltungsakt, in dem es um die Papiere geht. Das kann in der Tat sehr vereinfacht werden. Ich würde mir nur wünschen, dass Kinder und Jugendliche nach Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs noch einmal vorgeladen werden und erklären müssen, dass es bei dem Eintrag bleiben soll. Wenn sie ihre Papiere irgendwann wieder ändern wollen, müssen sie wie alle anderen nur die Kosten tragen. Davon sollte in der Jugendzeit abgesehen werden. Auch gibt es Krankheiten, wie Psychosen, die mit dem Wunsch nach Geschlechtswechsel einhergehen können. Die Vorstellung bei einem Psychotherapeuten/ Psychiater würde auch schon für den Registereintrag für Kinder und Erwachsene mehr Sicherheit bieten.
Spätestens wenn medizinische Behandlungen einsetzen, muss ein ärztliches Attest vorgelegt werden. Ohne Indikation kann sich niemand operieren lassen. Wenn der/die Psychologe/in sicher ist, dass Transsexualität vorliegt, reicht es, wenn er/sie ein kurzes Statement für die Krankenversicherung abgibt. Von Intelligenztests halte ich gar nichts und diskriminierende Fragen zur Sexualität haben dort nichts zu suchen. Aber die Patienten müssen sich über die Folgen von Hormon-und operativen Behandlungen im Klaren sein. Ein ärztliches Aufklärungsgespräch ist meines Erachtens unerlässlich. Bereits die ersten zwei oder drei Hormonspritzen mit Testosteron lösen irreversible Veränderungen an der Stimme aus. Und als nächstes müssen wegen der Tumorgefahr die Eierstöcke entfernt werden. Da zieht also die erste medizinische Behandlung automatisch die zweite nach sich. Und es handelt sich dabei sogar um eine Operation, die schwerwiegende Folgen hat, wie die Fortpflanzungsunfähigkeit und lebenslange Hormoneinnahme. Man sollte vor der Hormonbehandlung genau überlegen, wie der Kinderwunsch aussehen könnte. Jeder hat das Recht sich fortzupflanzen und kann seine Eizellen einfrieren lassen. Wenn ein Transmann mit einer Frau zusammenleben will, kann seine Eizelle invitro befruchtet und danach der Partnerin eingesetzt werden. Bei einem transhomosexuellen Paar bedarf es einer Leihmutter. Das ist in Deutschland derzeit noch nicht erlaubt. Es gibt also noch sehr viel Diskussionsbedarf.
Ich würde jetzt nur mit Frau Dr. Krause zusammenarbeiten. Wenn sie keine Bedenken mehr hat, kann der Endokrinologe zugeschaltet werden. Sie schreibt die Indikation. Mit ihm besprecht ihr euren Kinderwunsch. Er wird ohnehin zunächst das Blut untersuchen. Eventuell möchte Frau Krause zusätzlich eine körperliche Untersuchung vom Hausarzt. Für Operationen müssen sowieso ein EKG vorliegen und die Lunge geröntgt werden.
Ihr seid über sechzehn Jahre alt und könnt, wenn alles in Ordnung ist, mit der Hormonbehandlung beginnen. Frau Krause und auch der Endokrinologe beraten eingehend und machen auf die lebenslangen Folgen aufmerksam. Während der Hormonbehandlung solltet ihr euch über die Operationsmöglichkeiten informieren. Es gibt viele Ärzte in Deutschland, die teilweise einzeln nach und nach oder sogar in zwei Sitzungen geschlechtsangleichende Operationen durchführen. Sucht sie auf, fragt in den Selbsthilfeeinrichtungen nach Erfahrungen und lasst euch mit der Entscheidung genügend Zeit. Frau Dr. Krause schreibt den Brief für die Krankenversicherung und beantragt den Operateur, den ihr euch ausgesucht habt. Ob ihr euch vor dem Abi oder danach operieren lassen wollt, müsst ihr selbst entscheiden. Es sind auch bei der großen OP drei Monate einzukalkulieren, die ihr für die Erholung braucht. Wenn in mehreren Schritten operiert werden soll, muss die dafür notwendige Zeit berücksichtigt werden. Es wäre vielleicht besser, bis nach dem Abitur zu warten.“
Klaus und Rolf hatten gut zugehört. Rolf stimmte Peter sofort zu. „Ja, das ist richtig. Wenn sie mit der Hormonbehandlung noch ein bis zwei Jahre Zeit haben, sollten sie sich diese nehmen und erst alle Kraft ins Abitur stecken. Danach können sie ihre Operationen angehen. Nach der Erholungspause stehen ihnen die Uni oder eine andere Berufsausbildung offen. Junior, du hast gehört. Das klingt alles vernünftig. Und wenn das Gesetz durch ist, kannst du zwischendrin zum Meldeamt gehen und dir deine Papiere besorgen.“ Klaus pflichtete bei. „Genau, alles der Reihe nach und bitte keine unüberlegten Handlungen mehr. Die Frau Dr. Krause scheint eine patente Ärztin zu sein. Da seid ihr gut aufgehoben. Und bei der Gesetzesänderung arbeitet die Zeit für euch. Die teuren Gutachten entfallen.“ Es gab viel Einmütigkeit in der Gruppe. Frank und Mark erzählten von ihren Terminen bei Miriam Krause und ihrem ersten Besuch beim Endokrinologen. Auch für sie lief alles gut. Es sollten jetzt Eizellen entnommen werden, die in ein Institut nach Holland geschickt und dort eingefroren werden. So blieb der Kinderwunsch in alle Richtungen offen. Peter nickte. Er wünschte den beiden Glück und forderte sie auf, über ihre Erfahrungen in der Gruppe zu berichten. Überhaupt sollten sich die Jungs ihre Handynummern austauschen und sich auch privat treffen. Sie können sich dann auf dem Herrenklo und an anderen Stellen, wo sie als Männer auftreten, gemeinsam ausprobieren. Das käme einer Art Alltagstest gleich. Nur ohne den gutachterlichen Druck. Gemeinsame Ausflüge stärken die Selbstsicherheit in der neuen Rolle, meinte er.
Klaus und Rolf waren mit dem Ergebnis des Treffens überaus zufrieden. Beide Väter verstanden sich hervorragend. Die Art Kommunikation zwischen ihnen und Peter überzeugte. Anneliese und Tamara unterhielten sich angeregt mit den Frauen in der Gruppe. Die Damen tauschten ihre Telefonnummern aus und beschlossen sich zum Shoppen und Kaffeetrinken zu treffen. Tamara übernahm Hilfestellung in Sachen weibliches Gehen und Bewegung, Anneliese gab Ratschläge in Mode, Schminken und Haushalt. Janine sah auf die Uhr. „Herrjeh, es ist schon spät. Ich muss morgen früh um acht Uhr wieder im Geschäft sein.“ Sie wandte sich Anneliese und Tamara zu. „Vielen Dank ihr beiden, wir können eure Hilfe gut gebrauchen, ich muss mich verabschieden.“ Auch Peter und einige andere horchten auf. „Musst du morgen früh nicht zum Training, Junior?“, fragte Klaus. Toni bejahte. Das Ende der Gruppensitzung war eingeläutet. „Peter, vielen Dank für die eingehende Beratung. Ob wir alle drei nächstes Mal wieder mit kommen, kann ich noch nicht sagen. Unsere Kinder sind hier gut aufgehoben und sollen sich an deine Regeln halten. Ich bin mit dem Abend sehr zufrieden. Wie geht es dir, Rolf?“ „Für mich gilt dasselbe. Alles ist klar und überschaubar. Zunächst wird sich die Psychologin der beiden annehmen. Eile mit Weile, ist meine Devise. Alles gut durchdenken, Vor und Nachteile abwägen und Informationen sammeln. Ich muss nicht immer mit. Die Jungs werden uns berichten, wenn ein neuer Schritt ansteht. Oleg, ab nach Hause. Hoffentlich kann sich deine Mutter von ihrem Gesprächsfluss lösen, sonst sitzen wir morgen noch hier. Liebling, finde zum Ende!“ Tamara ließ sich während ihres Gesprächs mit Roswitha und Janine nicht aus der Ruhe bringen. „Ich muss erst noch zur Toilette. Geht ruhig schon raus. Peter, auch von mir herzlichen Dank für die Einladung. Ich brauche Zeit um die wundervollen Eindrücke zu verarbeiten und werde sicher öfter kommen. Das liegt aber nicht an Ole, sondern an den Damen hier.“ Anneliese pflichtete bei. „Ich lasse mich ungern hetzen, ich komme mit aufs Klo. Bis gleich die Herren. Peter, ich schließe mich meiner Vorrednerin in allen Punkten an.“ Nicht nur Anneliese und Tamara nahmen ihre Handtaschen und machten sich auf den Weg zu den Waschräumen. Nahezu alle Frauen folgten ihnen. Klaus und Rolf gingen zum Tresen. Sie teilten sich die Zeche, was ihnen einige Minuten später vor der Tür etliche Danksagungen und Sympathiebekundungen einbrachte. Geld war für die beiden Väter nicht wichtig, nur der nette Abend zählte. Die Jungs wollten sich über die Feiertage auf der Eisbahn in Hamburg treffen. Dazu gehörte natürlich der obligatorische Bummel über den Dom. Toni und Ole strotzten vor Planungseifer und Tatendrang. Auch Besuche im Stadion zu Eishockey und Fußball standen im Raum. „Ich bin morgen früh in der Eisbahn“, rief Ole Toni zu, während er ins Auto stieg.

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„Guten Abend, Toni. Setzen Sie sich.“ Miriam Krause nahm in ihrem bequemen Sessel Platz. Sie hatte ein warmes Schaffell auf Sitz und Rückenlehne gelegt. Weil sie den ganzen Tag mit ihren Patienten im Sitzen verbrachte, wollte sie wenigstens ihren Rücken schonen. „Mögen Sie erzählen? Wie ist es Ihnen nach dem letzten Besuch ergangen?“ Toni reichte ihr die Krankenversicherungskarte. „Ich bin jetzt selbst versichert. Mein Vater will nicht ständig Anträge auf Kostenübernahme bei seiner Versicherung einreichen. Meine Mutter hat bei ihrer Kasse angerufen und erfahren, dass meine Eltern für mich extra bezahlen müssen, weil mein Vater zu viel verdient. Alles andere war wohl ganz easy. Ich musste allerdings noch meinen alten Namen angeben.“ Miriam schrieb sich die Daten aus der Karte auf. „Für den männlichen Vornamen brauchen Sie bislang noch einen Gerichtsbeschluss, dem zwei getrennt erstellte Gutachten zugrunde liegen. Dies wird jedoch geändert. Das Bundesverfassungsgericht hatte Teile des alten TSG für verfassungswidrig erklärt und die Bundesregierung will nun eine Lösung über das Meldegesetz schaffen. Die Vornamen-und Personenstandänderung wird so wesentlich kostengünstiger und leichter werden. Ich hoffe, dass alles spätestens zum nächsten Sommer unter Dach und Fach ist. Dann können Sie sich vom Meldeamt eine neue Geburtsurkunde holen und alle Papiere ändern lassen. Haben Sie noch so lange Zeit? Ich denke, auch die Gutachten dauern mindestens ein dreiviertel Jahr und bis der Gerichtsbeschluss da ist, warten Sie vielleicht noch länger.“ Miriam sah Toni von der Seite an. Er wusste durch Peter und die Gruppe bereits Bescheid. Es half nichts, die Wartezeit war nicht zu ändern. „Ich werde das mit den Gutachten nicht mehr anfangen. Wenn das Gesetz durch ist, brauche ich ja nur noch zum Meldeamt. Andererseits ist es für mich wichtig, dass ich eine Bescheinigung über meinen Geschlechtswechsel bekomme, weil meine Trainerin mich als Jungen bei der Eislaufunion melden will. Ich soll im Paarlauf starten. Und für die Schule wäre es sicher auch gut, etwas Schriftliches zu haben.“
Miriam nickte mit dem Kopf. „Toni, ich habe an Ihrer transidentischen Prägung keine Zweifel. Ihre Gedankengänge sind klar und orientiert. Eine geistige Erkrankung kann ich nahezu ausschließen. Sie sollten das Gutachterverfahren tatsächlich nicht mehr beginnen, sondern auf das neue Gesetz warten. Ich stelle Ihnen für die Übergangszeit eine Alltagstestbescheinigung aus, die ich so gestalte, dass Sie überall in männlicher Rolle auftreten dürfen. Das sollte vorerst reichen. Haben Sie bereits ein Bankkonto? Die neue EC Karte kann erst nach rechtlich erfolgter Vornamensänderung ausgestellt werden.“ Toni verneinte. Auch einen erwachsenen Personalausweis besaß er noch nicht. „Solange Sie nicht ins Außereuropäische Ausland fahren wollen, können Sie darauf verzichten, bis Sie sich im Meldeamt den neuen Ausweis holen dürfen. Ich denke, der Sportverein und die Eislaufunion werden mein Schreiben übergangsweise anerkennen.“ „Wann darf ich die Bescheinigung haben?“ „Zum nächsten Besuch habe ich alles fertig. Aber die Praxis ist in der kommenden Woche geschlossen. Ich fahre zu einer Fortbildung. Danach kommt Weihnachten. Ich muss mal sehen. Am 07. Januar sehen wir uns wieder. Das ist ein Dienstag. Um 17 Uhr, wie heute. Passt das?“ Toni dachte nach. Es wäre ihm lieber, die Bescheinigung schon vorher zu bekommen. So brauchte er sich nicht überall zu erklären, wo er sich ausweisen musste. Eigentlich reichte ihm ein Schülerausweis auf seinen männlichen Namen. Den stellte Frau Behrendt, die Sekretärin der Schule, aus. Er beschloss sie zu fragen. Aber zwei Eisen im Feuer zu haben, war natürlich noch besser. „Es wäre schön, wenn Sie das Attest vorher fertig hätten, es würde reichen, wenn ich es mir kurz abholen darf. Ich fühle mich einfach sicherer damit.“ „In wie fern, fühlen Sie sich sicherer, wenn Sie ein Stück Papier mit ihrem Namen dabeihaben, das gar nicht amtlich ist, sondern von einer Ärztin ausgestellt wurde?“ Toni schaltete schnell seinen Verstand ein. Er besaß eine gute Auffassungsgabe. Die Therapeutin sagte nichts ohne Grund. „Es ist einfacher bei Kontrollen, zum Beispiel im Fußballstadion bei personifizierten Eintrittskarten. Die Schule benötigt etwas Schriftliches zum Geschlechtswechsel. Ihr Wort als Ärztin hat Gewicht, auch die DEU braucht ein ärztliches Attest für den Sportpass. Der Verein ebenfalls. Ich wollte auch fragen, wann ich mit der Hormoneinnahme beginnen darf. Ich will Muskelaufbau trainieren, weil ich meine Partnerin auf dem Eis heben muss.“
Miriam Krause zweifelte tatsächlich nicht an Tonis transidentischer Prägung. Seine klaren Vorträge und sein Verhalten bestätigten das. Jedoch, sie versuchte ihre Patienten stets erst einmal zu entschleunigen. Natürlich wünschten sich die meisten die Hormonbehandlung um männlicher oder weiblicher zu wirken. Aber die Hormone hatten gravierende Folgen. Unter Testosteroneinfluss veränderte sich die Stimme nachhaltig und irreversibel. Dazu werden die Eierstöcke angegriffen. Es kann zu Tumorbildungen kommen. Die Entfernung durch eine Operation war also vorprogrammiert. Sie versuchte ihren Patienten die nötige Sicherheit, alles zu bekommen, was sie zum Weiterleben brauchten, zu geben, um sie gleichzeitig zur Ruhe zu bringen. Jedes Vorgehen sollte sorgfältig geplant werden und sich wie selbstverständlich in den Lebenslauf einfügen. Der nächste Schritt sollte ihrer Meinung nach reif sein. Mit dieser Methode kam sie bei ihren Patienten und vor allem bei ihren Patientinnen stets gut an. Niemand musste sich Siebenmeilenstiefel anziehen und etwas überhasten.
„Toni, ich verstehe Sie gut. Ich bin auf ihrer Seite und ich werde ihnen helfen, alle für einen Geschlechtswechsel erforderliche Maßnahmen anzugehen. Es gibt ein Sprichwort: Eile mit Weile. Können Sie damit etwas anfangen?“
Toni lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er hatte verstanden.
„Ich glaube schon. Es ist wie beim Outing in der Schule. Da waren wir in unserer Euphorie übers Ziel hinausgeschossen und durch meine Schuld bekam mein Freund Ärger.“ Toni erzählte von seinem unüberlegten Handeln. Miriam hörte ihm gespannt zu. „Toni, ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Sie gehört auch in unsere Sitzungen. Ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie ehrlich zu mir sind. Nun, Schuld sind Sie an der Misere Ihres Freundes nicht. In diesem Fall sind tatsächlich einmal die anderen Schuld, die sich von Clemens haben aufwiegeln lassen. Hut ab vor der Biologielehrerin. Die hat den richtigen Beruf ergriffen. Aber ich glaube, auch Sie haben etwas aus der Sache gelernt, oder?“
Das hatte Toni in der Tat. „Ja, ich denke, ich sollte mir alles in Ruhe durchdenken, Für und Wider gegeneinander abwägen, Risiken einkalkulieren, mich absichern, und nicht einfach kopflos handeln.“ Miriam schmunzelte. „Toni, wenn alle meine Patienten so gut lernen würden wie Sie, wäre ich wohl arbeitslos. Wir kennen uns ja erst seit zwei Wochen und sollten uns Zeit lassen. Aber Sie sollen auch etwas zu tun haben. Ich werde Ihnen bis Freitag die Alltagstestbescheinigung ausstellen und zuschicken. Dann haben Sie ein Attest für die Schule und Ihre Trainerin kann es Ihrem Sportverband vorlegen. Mich interessiert das Verhalten der Eislaufunion sehr. Es gibt immer wieder Probleme im Leistungssport der Frauen, wenn Intersexuelle oder Hyperandrogene Sportlerinnen an internationalen Wettbewerben teilnehmen. Das sollte eigentlich Thema der ärztlichen Kongresse sein, denn die körperlichen Auffälligkeiten bei diesen Menschen wirken sich natürlich auf deren Seele aus. Geschlechtsspezifische Einordnung, so sie denn überhaupt notwendig ist und der mögliche medizinische Umgang damit, gehören in ärztliche Hände und sollten auf keinen Fall irgendwelchen Sportfunktionären überlassen bleiben. Diese Sportlerinnen sind Menschen und haben ein Recht darauf entsprechend behandelt zu werden. Ich habe einige Presseartikel gelesen und war bestürzt. Vielleicht können wir mit Ihrem Fall zu etwas mehr Vernunft beitragen. Wie läuft es mit Ihrem Training?“ Toni konnte sein Glück kaum fassen. Miriam Krause war wirklich eine verständnisvolle Therapeutin, fand er. „Es läuft gut. Unsere Trainerin ist zwar streng, aber das bin ich aus Kindertagen gewohnt. Ohne Training werden wir nie erfolgreich auftreten können. Die Schrittfolgen und Einzelsprünge bereiten mir keine Schwierigkeiten. Aber zum Paarlauf gehören Wurfsprünge und Hebungen. Und da hapert es bei mir an Kraft. Ich habe mich bereits im Sportstudio angemeldet.“ „Ohne männliche Hormone werden Sie bald an Ihre Grenzen kommen.“ Die beiden sahen einander an. „Es ist jetzt Ende November. Unseren nächsten Termin haben wir am 07. Januar. Ich schicke Ihnen mit der Alltagstestbescheinigung eine Überweisung zum Hausarzt und zum Endokrinologen mit. Vom Hausarzt lassen Sie sich bitte komplett körperlich untersuchen. Er braucht nur ein kleines Blutbild machen. Das schreibe ich auf der Überweisung drauf. Den Arztbericht soll er Ihnen zuschicken, den bringen Sie mir im Januar mit, wenn Sie ihn bis dahin haben. Dasselbe gilt für den Bericht des Endokrinologen. Der soll alle notwendigen Blutuntersuchungen vornehmen und Sie bereits über die Risiken und Wirkungen von Testosteron aufklären. Überlegen Sie sich bitte auch, ob Sie eines Tages eigene Kinder wollen, sprechen Sie das mit dem Endokrinologen durch. Ich glaube nicht, dass dieser Bericht am 07. Januar schon vorliegt. Insofern wird Ihr Tatandrang auf natürliche Weise ausgebremst. Vielleicht müssen Sie noch für ein oder zwei Menstruationszyklen weibliche Hormone einnehmen um einen zusätzlichen Eisprung herbeizuführen, wenn Ihnen Eizellen entnommen werden sollen. Dies sind alles vorbereitende Maßnahmen. Deshalb habe ich keine Bedenken, wenn Sie sich damit auseinandersetzen. Sprechen Sie das Thema bitte auch bei Ihren Eltern an. Möglicherweise kommen Kosten auf Sie zu, die Sie im Moment noch nicht stemmen können. Sie gehen ja noch zur Schule. Über den Startschuss zur Hormonbehandlung mit Testosteron sprechen wir im nächsten Jahr. Lassen Sie sich auch über die vielfältigen Möglichkeiten dieser Behandlung vom Endokrinologen aufklären. Herr Petersen kennt sich ebenfalls gut aus. Sind da außer Ihnen noch andere Transmänner in der Gruppe? Das wechselt wohl immer.“
Toni hatte mit großen Augen zugehört. Da gab es wirklich viel für ihn zu Bedenken und er musste sich nebenbei um seine Schule kümmern. Das Eislauftraining nahm den ganzen Nachmittag in Anspruch. Er musste sich gut organisieren, so viel war klar. „Ja, es sind drei im Augenblick. Einer hat die Hormone schon, die anderen erzählten auch etwas über Eizellenentnahme. Wir wollen uns nicht nur in der Gruppe treffen, sondern über Weihnachten privat einiges unternehmen“, erwiderte Toni mit einem leichten Seufzer, der Miriam Krause nicht verborgen blieb. „Was heißt denn pffff…?“, fragte sie belustigt. „Da kommt eine Menge Arbeit auf mich zu“, meinte Toni. Miriam legte ihren Notizblock zur Seite, stand auf und nahm ein Blatt Papier aus ihrer Schreibtischschublade. „Lesen Sie sich das durch und dann unterschreiben Sie, bitte. Es ist der Behandlungsvertrag, den ich mit Ihnen selbst abschließen muss, weil Sie über Fünfzehn sind. Es geht darin auch um die Schweigepflichtentbindung gegenüber anderen Ärzten, der Krankenkasse und natürlich Ihren Eltern. Wir werden irgendwann ein Familiengespräch führen, aber das hat noch Zeit. Was sagte ich noch? Eile mit Weile! Den Vertrag dürfen Sie sonst mitnehmen und zu Hause durchlesen und unterschreiben. Unsere Stunde ist um. Toni, ich wünsche Ihnen viel Erfolg, ein schönes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch!“ Sie gab Toni die Hand. Er erwiderte die Weihnachtswünsche. Gefühlsmäßig war ihm wie Weihnachten und Ostern an einem Tag zu Mute. Auf der Straße empfing ihn der Geruch von Pommes. Hunger, meldete ihm sein Gehirn. Zielstrebig suchte er dieselbe Lokalmeile im Bahnhofsgebäude auf, aus der Ole ihn letzte Woche angerufen hatte.
Nach dem Essen rief er seinen Freund an. Die Neuigkeiten hinsichtlich Alltagstestbescheinigung und Voruntersuchungen sprudelten aus ihm heraus. Ole hörte konzentriert zu. Er hatte am Mittwoch um 17 Uhr seinen nächsten Termin. Ob sie ihm gegenüber auch so hilfsbereit war? „Was glaubst du, gibt sie mir auch das Attest und die Überweisungen mit, wenn ich sie danach frag?“ „Warum nicht? Es ist bei dir wegen des Sports zwar nicht so dringend, aber die Bescheinigung für die Schule benötigst auch du. Und die Arztbesuche müssen ohnehin sein, damit sichergestellt ist, dass wir gesund sind. Willst du später mal Vater werden?“ Ole atmete aus. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. „Weiß nicht, erstmal muss ich operiert werden.“ „Dann ist es für die Eizellenentnahme aber zu spät. Ich habe gelesen, dass man das vor der Hormoneinnahme machen soll, denn wenn die Hormone Tumore auslösen können, haben sie vielleicht auch Einfluss auf die Eizellen. Ich hab keine Ahnung. Aber ich werde alles mit dem Endokrinologen besprechen. Den muss ich jetzt auch noch aus dem Internet raussuchen. Aber es gibt sicher in Hamburg einige davon.“ „Kannst mir ja mitteilen, wenn du einen gefunden hast“, meinte Ole, dem vieles im Kopf herumschwirrte. „Wir sehen uns morgen in der Eishalle, lass uns Schluss machen, ich hab noch zu lernen.“ Toni war einverstanden. Sein Bus kam gleich. Er verabschiedete sich von Ole, packte sein Handy ein und stellte sein Tablett mit den leeren Papptellern in die Ablage des Restaurants. Wegen des Endokrinologen konnte er eigentlich auch Stephan fragen, fiel ihm ein.
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Mit gemischten Gefühlen betrat Ole am Mittwochabend die Praxis von Miriam Krause. Er hatte sich noch etwas mehr von Toni über dessen Gesprächsverlauf erzählen lassen und war sich nicht sicher, ob er sie ebenfalls dazu bringen konnte, ihm das Attest und die Überweisungen an die Ärzte auszustellen. Natürlich wollte auch er mit seiner Entwicklung weiterkommen, aber irgendetwas hinderte ihn daran, so zielstrebig vorgehen zu können, wie Toni. Zumindest glaubte Ole das. „Kommen Sie herein, Ole. Sie dürfen schon ins Behandlungszimmer durchgehen. Ich muss nur noch schnell etwas in meinem Notizbuch notieren. Haben Sie die Formblätter ausgefüllt, die ich Ihnen mitgegeben habe?“
Ole hatte sich bereits in Miriams gemütlichem Sprechzimmer hingesetzt. Shit! Ausgefüllt und unterschrieben hatte er alles. Aber vergessen, mitzunehmen. Kleinlaut musste er seinen Fehler zugeben. „Ole, wissen Sie, ich sage immer, Gottseidank sind bestimmte Körperteile festgewachsen, so dass wir nicht etwas Wichtiges verlieren oder irgendwo liegen lassen können. Bitte bringen Sie die Papiere beim nächsten Mal mit. Sie sind wichtig, ich darf Sie ohne Behandlungsvertrag nicht behandeln. So einfach ist das.“ Ole schluckte. War das peinlich! Plötzlich strahlten seine Augen. Er nahm seinen Rucksack und zog ein kleines Etui hervor. „Ich habe meine Krankenversicherungskarte dabei, dann haben Sie wenigstens die schon mal!“ Miriam lachte auf. Typisch Jugendlicher, dachte Sie. Liebenswert schusselig, sprunghafte ungefestigte Gedankensprünge. Mit siebzehn hat man noch Träume, fürwahr!
„Okay, dann lassen Sie uns anfangen. Was haben Sie auf dem Herzen?“
Oh, dachte Ole. Jetzt oder nie. Diese Gelegenheit sollte ich mir nicht entgehen lassen. „Ich möchte gerne eine Bescheinigung von Ihnen bekommen, wie mein Freund Toni. Und natürlich die ärztlichen Voruntersuchungen machen.“ Miriam legte ihren Notizblock zur Seite. Sie hegte an Oles transidentischer Prägung keine Zweifel. Jedoch, er war psychisch und emotional genau das Gegenteil seines Freundes. Ole schoss nicht übers Ziel hinaus, er hatte sein Ziel noch gar nicht richtig vor Augen, erschien es ihr. Ihm fehlte der Antrieb und eigener Handlungsbedarf. „Ole, ich freue mich für Sie, dass Sie mit Toni eine so enge Freundschaft verbindet. Kann es sein, dass Sie ein kleines bisschen in Tonis Windschatten stehen und sich von ihm mitreißen lassen? Wenn Sie von ihm nichts über die Inhalte seiner Sitzung bei mir erfahren hätten, hätten Sie mir dann diese Fragen schon gestellt?“ Ole blickte nachdenklich nach unten. „Hmm, hab ich mir gedacht. Sie sind noch nicht so weit, stimmt’s?“
„Doch, ich weiß nicht, was Sie meinen?“, stammelte Ole, der befürchtete, dass ihm nun alle Felle davonschwammen. „Ich helfe Ihnen jetzt mal. Ihre transidentische Prägung steht außer Zweifel. Aber Sie sind mit sich selbst noch nicht im Reinen. Das hat etwas mit Reife zu tun. Die Zeit muss da sein, um den nächsten Schritt in Angriff zu nehmen. Und bei Ihnen kommt mir vieles noch so unbestimmt, nebulös vor. Ole, Sie werden den Weg gehen, den Sie gehen müssen. Ich bin dazu da, Sie zu begleiten. Und Sie bekommen von mir alles, was benötigt wird. Aber Toni ist nicht Ihr großer Bruder, dem Sie alles nachmachen müssen. Tonis Zeit ist nicht Ihre Zeit. Auch für Sie gilt: Eile mit Weile. Wo wir bei Toni sind, was gab es da in Ihrer Schule? Wurden Sie gemobbt?“ Ole zögerte. Einerseits hatte alles Hand und Fuß, was Miriam ihm eben erklärte, er war ja nicht Tonis Hündchen. Er war Ole und er hatte sein eigenes Leben und seine eigene Persönlichkeit. Er orientierte sich viel zu sehr an anderen, anstatt seine eigenen Bedürfnisse umzusetzen. „Ja, ich wollte eigentlich nicht darüber sprechen.“ „Das ist Ihr gutes Recht. Aber ich werde natürlich dafür bezahlt, Ihnen zu helfen. Sie müssen Ihre Probleme nicht mit sich selbst abmachen.“
Auweh. Die Kommunikation gefiel ihm gar nicht. „Was soll ich denn jetzt machen?“ „Ich tausche mal ein Wort aus Ihrer Frage aus. Nicht ‚soll‘, sondern ‚will‘ ! Wissen Sie, bei soll, fragen Sie mich nach meiner Meinung und die zählt überhaupt nicht. Wichtig ist doch, was wollen Sie?“ Ole hatte das Gefühl, Katz und Maus zu spielen. Nur, dass er sich als die kleine Maus sah, was ihm gar nicht in die Kram passte. Was wollte er? Er dachte nach. Als Kind hatte er sich immer bemüht, es seinen Eltern recht zu machen und dabei gar nicht bemerkt, wie sein eigenes Ich dabei auf der Strecke geblieben war. Tief in seinem Innern schien sich eine Revolution anzubahnen. Da kehrte sich das Unterste nach Oben. Die sich widersprechenden Gefühle verwirrten ihn. Er ließ sich treiben. Miriam saß bequem in ihrem Sessel und wartete geduldig auf seine Antwort. „Lassen Sie sich Zeit, Ole.“ Das ließ sich dieser nicht zweimal sagen. Ihm wollte kein klarer Gedanke kommen. Er war unruhig. Stockend begann er seine Überlegungen und Empfindungen auszusprechen. Langsam formte sich aus einzelnen aneinandergereihten Worten ein Satz, der wiederum in die Beschreibung eines Bildes führte. Ole sprach das erste Mal über seine Gefühle. Es handelte sich dabei nicht um die Transidentität, sondern um ihn allgemein. Er erzählte nun auch, was sich in der Schule zugetragen hatte. Miriam übernahm zeitweilig bewusst die Mutterrolle. Sie vermied es, Ole einen Weg oder eine Meinung aufzuzeigen, sondern förderte seine Eigeninitiative. Ole fühlte sich von Augenblick zu Augenblick wohler. Er war transidentisch und alles, was in der Außenwelt zu einem Leben als Mann nötig war, würde er sich besorgen. Dazu brauchte er sich kein Bein mehr auszureißen. Es wird seinen Gang gehen. Am Ende der Sitzung spürte ein entspannter Ole weder Angst noch Unsicherheit. Miriam bemerkte die Wandlung ihres jungen Patienten zufrieden. Sie stellte ihm die Alltagstestbescheinigung, die ihrer Meinung nach keine war, sondern nur ein Attest über eine transidentische Veranlagung, für das Wochenende in Aussicht. Auch den Endokrinologen und den Hausarzt konnte er wegen der Voruntersuchungen bereits konsultieren. Miriam arbeitete eng mit den Ärzten der Hansestadt zusammen und wusste, dass keiner der Endokrinologen Hormone ohne ihre ausdrückliche Zustimmung verschreiben würde.
„Auf Wiedersehen, Ole. Auch Ihnen schöne Weihnachten und grüßen Sie Frau Kielings von mir. Wir kennen einander.“ Ole erwiderte die Wünsche und wunderte sich. Aber dann kehrte die Erinnerung an den Stammtisch mit Peter zurück. Seine Biologielehrerin, die er so sehr für Ihren Mut bewunderte, war ebenfalls transidentisch. Ole freute sich. Wenn Martina Kielings Patientin bei Frau Krause gewesen war, brauchte er sich um seine eigene Selbstsicherheit keine Sorgen zu machen. Am Abend telefonierte er ausgiebig mit Toni. Der konnte bereits mit einem Termin bei einem der zahlreichen Endokrinologen kurz vor Weihnachten aufwarten. Seinen Hausarzt wollte er gleich nach Erhalt der Atteste und Überweisungen aufsuchen. Einen Termin benötigte er nicht. Ole notierte sich die Telefonnummer, die Toni von Stephan bekommen hatte. Ihm war es nicht eilig. Alles lief gut und Ole wollte erstmal in Ruhe Weihnachten und Sylvester auf sich zukommen lassen.

Besuch von der Deutschen Eislaufunion
Die nächsten Wochen vergingen für Toni und Ole recht arbeitsreich. Sie wurden in der Schule gefordert und nahmen, als die Bescheinigungen von Miriam Krause eingingen, ihre Arztbesuche wahr.
Tonis tägliches Training kostete die meiste Freizeit. Er versuchte im Sportstudio an seinem Muskelaufbau zu arbeiten. Zweimal in der Woche traf er sich mit Ole in der Kampfsportgruppe. Es machte Spaß. Die beiden fühlten sich manches Mal ziemlich kaputt und müde. Conny hatte sich mit der Vereinsleitung kurzgeschlossen und Toni mit männlichem Vornamen angemeldet. Das Attest kam ihr gerade recht. Sie arbeitete bereits an der Todesspirale und wollte nun bald die ersten Sprungwürfe auf dem Eis probieren. Sie hatte mit Freude die Geburtsdaten ihrer Schützlinge zur Kenntnis genommen. Beide werden am Stichtag, dem 1. Juli, im nächsten Jahr gerade siebzehn-und vierzehn Jahre alt sein und durften somit noch in der Paarlauftechnikklasse 3 beginnen. Das bedeutete, dass sie den Twist nur einfach zeigen brauchten, Solosprung sowie Wurf reichten doppelt. Bis Tonis Geburtstag am 22. Dezember durften sie deshalb noch in der Nachwuchsklasse starten. Conny war guter Dinge. Im Februar fand eine Klassenlaufprüfung statt. Da könnten die beiden die Technikklasse 3 absolvieren. Ende März wäre man vielleicht schon für die Klasse 2 soweit. Connys Planungen liefen darauf hinaus, im kommenden Herbst in der Nachwuchsklasse in Berlin sowie in Oberstdorf teilzunehmen und ihr Paar danach zu den Deutschen Meisterschaften zu begleiten. Nach Tonis 18. Geburtstag würden sie bereits einzelne Turniere in der Technikklasse 2 bei den Junioren bestreiten. Alles national und ohne Kader, nur um Wettkampferfahrung zu sammeln. In Klasse 2 muss der Twist doppelt gezeigt werden. Conny sah keine Probleme, bis März hätten die zwei das drauf. Sie hatte bereits das Bürokratische in Angriff genommen.
Ihr Verein war Mitglied im Landeseissportverband und dieser in der DEU. Der Sportpass war beantragt und das Hausarztattest neben dem Schreiben von Miriam Krause zur Ausstellung einer Läuferlizenz eingereicht.
Am 10. Dezember klingelte ihr Handy. Conny trainierte grad den doppelten Wurfsalchow, den Julia inzwischen sicher aufs Eis bringen konnte.
Überrascht blickte sie auf ihr Telefon. Frau Tandler von der Eislaufunion war dran. „Hallo, Frau Tandler, guten Tag.“ „Guten Tag, Frau Enders. Ich habe grad Ihre Anträge auf dem Tisch. Herr Bergmann hat sich Ihrer Sache verschrieben und möchte Sie gerne besuchen. So einen Fall gab es im Leistungssport noch nicht. Das Präsidium steht Tonis Start im Grundsatz positiv gegenüber, weil er ja als Mann läuft. Umgekehrt hätten wir sicher mehr Probleme. Nun, Herr Bergmann wollte sich ein Bild von Toni machen. Er muss in der Lage sein, die Hebungen körperlich ausführen zu können. Außerdem möchte er, dass Toni noch einmal von einem Sportarzt untersucht wird. Aber das bespricht er mit Ihnen. Er bat mich, mit Ihnen einen Termin zu vereinbaren, damit er Ihr Paar beim Training beobachten kann. Frau Wiezorek wird ihn begleiten. Sie ist Richterin, wie Sie wissen. Passt es nächste Woche, noch vor dem Fest?“ „Natürlich, jederzeit. Wir trainieren wöchentlich von 15 bis 17 Uhr, aber leider im Publikumslauf. Ich darf mir für Sprungübungen ein Stück Eisbahn abtrennen. Samstags und Sonntag sind wir ab sofort bereits von 7:30 Uhr bis 09:30 hier. In den Weihnachtsferien habe ich ein gemeinsames Trainingslager in Hamburg eingerichtet. Da sind die anderen Leistungsgruppen dabei, aber für die Kür nehmen wir Rücksicht aufeinander. Es müssen ja alle trainieren.“ „Das passt gut. Herr Bergmann ist nächste Woche privat in der Nähe Hamburgs, dann kann er am Dienstag um 15 Uhr in Ihre Trainingshalle kommen.“ Conny strahlte. Das lief ja bestens. Sie kannte Lars Bergmann gut. Er war nicht nur Vorstandsvorsitzender der DEU und ein hervorragender ehemaliger Paarläufer, sondern auch Jurist. „Gut, ich freue mich und bereite mein Paar vor. Eventuell kann ich mit der Eisbahn zumindest für eine halbe Stunde eine Sonderkondition einrichten, damit wir das Eis für uns alleine haben.“ Die beiden Damen verabschiedeten sich. Conny steckte ihr Handy in die Jackentasche und klatschte in die Hände.
„Herrschaften, es gibt Neuigkeiten.“ Toni und Julia wandten sich um. Sie übten ihre Hebungen nun schon allein. Julia zog ein Gummibärchen aus ihrer Trainingsjacke und wollte es sich grad in den Mund stecken, als Tonis Finger dazwischen fuhren. Sie hatte keine Chance gegen ihn. Toni nahm seiner Partnerin das gelbe Bärchen weg und schob es in seinen eigenen Mund. „Was hatten wir ausgemacht? Keine Süßigkeiten, du achtest auf dein Gewicht!“, ermahnte er sie lachend. Conny schüttelte den Kopf. „So, ihr zwei. Der Einwand hat jetzt doppelte Bedeutung bekommen. Am Dienstag nächste Woche erhalten wir Besuch von der DEU. Der Vorsitzende heißt Lars Bergmann und kommt persönlich zusammen mit Frau Wiezorek. Sie ist Richterin. Sie wollen euch kennenlernen und vor allem sehen, wie gut Toni körperlich entwickelt ist. Im Augenblick bist du noch nicht männlich, weil die Hormone fehlen. Also laufen am Dienstag vom körperlichen Standpunkt aus noch zwei Mädchen miteinander. Wenn Toni im Januar mit der Hormonbehandlung beginnen darf, ist die Situation am 27. Februar zum Klassenlaufen bereits eine andere. Du wirst dich dann stetig männlich weiter entwickeln. Aber das weiß Lars auch. Ich hoffe, dass wir grünes Licht bekommen. Wichtig ist, dass Ihr eure Kür beherrscht. Und Toni zu schnaufen aufhört.“