Manuel Magiera

Eine syrische Familie in Deutschland

Der erste Schultag

Kamila wurde vor zwei Monaten sechs Jahre alt. Heute soll sie eingeschult werden. Kamila ist deshalb schon sehr aufgeregt. Sie ist nicht das einzige Kind aus ihrem Wohnhaus, das am 06. August in Lüneburg seinen ersten Schultag erleben wird. Aber Kamila ist das einzige Mädchen. Die beiden anderen Kinder heißen Mehmet und Ali. Beide sind sechsjährige Jungen.

Kamilas Mutter hat erzählt, dass es in Syrien, wo Kamilas Familie herkommt, nicht überall üblich ist, dass auch Mädchen lesen und schreiben lernen dürfen. Kamila sah ihre Mutter mit großen Augen an, als ihr diese von ihrer Heimatstadt Latakia, die am Mittelmeer liegt, erzählte. Es wäre dort das ganze Jahr über sehr warm und alle muslimischen Frauen tragen Kopftücher. Sie wollen damit nicht nur zeigen, dass sie der Religion des Islam angehören, sondern ein Kopftuch schützt natürlich auch vor der Sonne und die Haare bleiben länger sauber. Manchmal gibt es in den Dörfern Sandstürme und wenn man von einem Sturm überrascht wird, muss man obendrein versuchen, Mund und Nase zu verdecken. Der Sand ist nämlich sehr fein und gefährlich, wenn er eingeatmet wird. Kamila hatte ihre Mutter gefragt, warum denn nur Jungen in ihrer Heimat zur Schule gehen dürfen und erfuhr, dass das mit der islamischen Religion zusammen hängt. Aber es wäre nicht überall so, erzählte ihre Mama. In vielen muslimischen Ländern und in den meisten Städten und Dörfern in Syrien, müssen auch die Mädchen zur Schule gehen.

Kamila wollte alles über ihr Land wissen. Häufig hörte sie deshalb den Frauen in dem Haus, indem sie wohnte, zu. Dann erzählten die Erwachsenen von zu Hause und von der langen beschwerlichen Reise nach Deutschland. In Syrien findet ein Bürgerkrieg statt. Die Frauen weinten oft, wenn sie von ihren Familien und ihren Häusern berichteten. Die meisten verstanden gar nicht, warum dort gekämpft wurde. Kamila wurde sehr traurig, wenn sie von den Geschichten der anderen Familien hörte. Viele Frauen hatten ihre Ehemänner, Väter oder Brüder in dem sinnlosen Krieg verloren und waren mit letzter Kraft und wenigen persönlichen Sachen aus ihren Häusern geflohen. Sie mussten mit ansehen, wie Raketen und Bomben alles zerstörten, was sie sich in mühevoller Arbeit aufgebaut hatten. Fast immer wurden auch Menschen unter den Trümmern von einstürzenden Häusern verschüttet. Kamila konnte oft nur weinen, wenn sie von Kindern hörte, die bei Anschlägen oder Angriffen starben, denn viele waren noch sehr klein. Sie selbst war ja auch erst zwei Jahre alt gewesen, als sie Syrien im Sommer 2012 verließ. Das kleine Mädchen kann sich gar nicht mehr richtig daran erinnern. Aber ein Ereignis vergisst sie nie. Da gab es einen lauten Knall und Steine flogen um sie herum. Ihre Mutter hielt ihr damals schützend die Hände über den Kopf und drückte Kamila in Panik ganz fest an sich. Frau Haddad rannte und rannte mit Kamila auf dem Arm und irgendwann war alles wieder ruhig. Kamila erzählte ihrer Mama von ihren Erinnerungen, denn manchmal wacht sie nachts schreiend auf. Ihre Mutter versucht sie dann zu beruhigen, indem sie ihr sagt, das wäre nur ein böser Traum gewesen. Aber der Knall kam damals von einer Autobombe, die ganz in ihrer Nähe explodiert war und viele Menschen in den Tod gerissen hatte.

Als Kamilas Mutter ihrem Vater, der als Lehrer an einer Schule unterrichtete, von dem schrecklichen Anschlag erzählte, beschloss der, mit seiner Familie Syrien vorerst zu verlassen. Sie besuchten Freunde in Deutschland und als der Krieg begann, stellte Herr Haddad einen Antrag bei den deutschen Behörden und bat darum, solange in Sicherheit bleiben zu dürfen, bis sich die Lage in Syrien wieder beruhigt hat. Das war vor fünf Jahren gewesen. Gestern hatte Kamila ihren Vater sagen hören, dass es sicher noch sehr lange dauern wird, bis sie in ihre Heimat zurückkehren können. Inzwischen ist die Situation dort so unübersichtlich geworden, dass kaum noch jemand weiß, wer überhaupt für was und gegen wen kämpft. Kamila wurde wieder traurig, als ihr Vater aussprach, was etliche Landsleute dachten. Sie war neugierig auf ihre Stadt Latakia und würde gerne dort hinfahren. Ihre Mutter und die anderen Frauen hatten ihr so viel darüber erzählt.

Nun, heute ist ihr erster Schultag in Deutschland. Sie hebt ihren Kopf aus dem Kissen, drückt ihren Teddy Otto an sich und gibt ihm einen dicken Kuss. Otto bekam sie vor drei Jahren vom Weihnachtsmann, der jedes Jahr im Dezember in der Turnhalle ihres Stadtteils alle Kinder der Asylbewerber beschenkt. Die Sonne scheint durch das Fenster zu ihr hinein und kitzelt sanft über ihre Nasenspitze. Kamila klettert belustigt aus ihrem Bett und beeilt sich, schnell ins Bad zu kommen. Alle anderen Familienmitglieder schlafen noch. Sie hört ihren Papa im Elternschlafzimmer laut schnarchen. Als sie an der Küche vorüber geht, schaut sie auf die Küchenuhr. Die steht auf sechs Uhr. Kamila sieht noch einmal genau hin. Aha. Der große Zeiger ist ganz oben und der kleine ganz unten. Das ist wirklich schwierig, mit der Uhrzeit. Der Papa hat angefangen, ihr die Uhr zu erklären, aber es ist wie verhext. Wenn die Zeiger auf dem Ziffernblatt herumwandern, weiß sie nie, ob sie erst auf den kleinen oder erst auf den großen Zeiger schauen muss. Doch heute Morgen scheint sie die Uhrzeit richtig abgelesen zu haben. Sie schlüpft ganz leise ins Bad. Ihr kleiner Bruder hatte nämlich schon die Augen auf, als sie eben zu seiner Wiege blickte, die neben dem Bett ihrer Mutter stand. Gleich wird er sich melden, denkt sie. Ich muss mich beeilen, damit ich im Bad fertig bin, bevor Mama aufwacht.

Geschickt greift sie sich ihren roten Waschlappen mit den weißen Wolken darauf und nimmt ihre Kinderseife aus dem bunten Kulturtäschchen, das ihre Mama in einem großen Kaufhaus gekauft hat. Schnell wird der Wasserhahn aufgedreht und Kamila wischt sich mit dem nassen Waschlappen über das kleine Gesicht. Wo ist denn jetzt bloß wieder mein Handtuch? Ach, Kamila vergisst jedes Mal das gleichfarbige rote Kinderhandtuch, auf dem die weißen Wölkchen etwas größer sind, vor dem Waschen vom Haken zu nehmen. Ihre Hände tasten am Badezimmerschrank entlang. Die Augen kneift sie zusammen. Sie hat schon einmal Wasser in die Augen bekommen und schüttelt sich innerlich bei dem Gedanken daran. Geschafft. Erstmal Gesicht abtrocknen. Jetzt kann sie wieder sehen. Nun lässt sie etwas Wasser in den Zahnputzbecher laufen und schnappt sich ihre Zahncreme, die so lecker nach Erdbeeren schmeckt. Kamila muss deshalb aufpassen, dass sie beim Zähneputzen nichts davon hinunterschluckt. Schnell ist ein großer Klecks auf die Zahnbürste verteilt und Kamila beginnt, ihre Zähne zu bürsten. Zwei Schneidezähne fehlen schon. Sie verliert gerade ihre Milchzähne und weil die Neuen noch nicht nachgewachsen sind, sieht ihr niedliches Lachen im Augenblick etwas merkwürdig aus. Ihre Mutter hat extra für Kamila eine Kinderzahncreme gekauft, denn die Paste, die die Erwachsenen benutzen, ist sehr scharf und brennt im Mund. Das kleine Mädchen spült nach dem Zähneputzen den Becher, wischt ihn trocken und stellt ihre schönen Waschsachen wieder in den Kulturbeutel. Der ist auch rot und hat ganz viele gelbe und blaue Punkte auf seiner Oberfläche. Sie nimmt ihre rosafarbene Haarbürste und beginnt, die langen weichen dunkelbraunen Haare sorgfältig durchzubürsten. Ein letzter Blick in den großen Badezimmerspiegel über dem Waschtisch zeigt ihr das Bild eines hübschen sechsjährigen Mädchens mit zwei kleinen Zahnlücken. Die stören leider, sind aber nicht zu ändern. Stopp, da fehlt doch noch etwas! Kamila, die noch nicht ganz mit sich zufrieden ist, fasst in ihren Kulturbeutel, nachdem sie ihre Bürste wieder sauber zurückgelegt hat und wühlt etwas darin herum. Nachdenklich runzelt sie die Stirn. Welche Haarspange soll sie denn nun nehmen? Die Grüne, mit den Glitzersteinen oder die Türkisfarbene, mit dem weißen Gänseblümchen daran? Kamila überlegt.

„Ach, hätte ich es mir doch denken können. Guten Morgen, meine Süße. Bist du schon aufgeregt?“ Kamila dreht sich erschrocken um, als sie die Stimme hört. Ihre Mama steht im Nachthemd im Bad und lächelt. Natürlich spricht sie mit Kamila arabisch. Doch beide Eltern sprechen auch schon gut deutsch. Sie haben gleich nach ihrer Ankunft in Lüneburg einen Kursus besucht und fleißig gelernt, damit sie sich in Deutschland zurechtfinden und verständigen können. Kamila kam mit drei Jahren in den Kindergarten und spricht jetzt viel besser Deutsch als ihre Eltern, die sich sehr abmühen müssen, um die neue fremde Sprache zu lernen. Einen Akzent werden sie wohl immer behalten und sie verwechseln auch noch oft die Grammatik. Kamila soll ihre Eltern verbessern, wenn sie Fehler hört, haben Amir und Akilah Haddad zu ihr gesagt. Das war anfangs doch ein komisches Gefühl, aber ihr Papa ist ja selbst Lehrer und hat sie immer wieder dazu ermuntert. Inzwischen erklärt Kamila ihren Eltern geduldig die richtige deutsche Aussprache und hilft ihnen bei der Satzstellung. Sie hat sofort beschlossen, auch Lehrerin zu werden, wenn sie groß ist. Aber vielleicht doch nicht. Tierärztin wäre ebenfalls ein schöner Beruf, meint sie. Sie liebt Tiere über alles und wünscht sich sehnlichst einen Hund. Doch die Mutter hat ihr erklärt, dass dafür weder ausreichend Geld vorhanden ist, noch Platz in der kleinen Wohnung. In ein paar Jahren vielleicht, wenn die Familie noch länger in Deutschland bleiben muss. Wenn der Krieg zu Ende ist, fliegen sie wieder nach Hause und ihr altes Grundstück ist groß genug. Dann dürfen Kamila und ihr kleiner Bruder auch einen Hund haben. Kamila lächelt zurück.

„Guten Morgen, Mama. Ich weiß nicht, welche Spange ich nehmen soll.“ „Die Grüne, die passt am besten zu deinen Augen und zum Kleid, mein Schatz. Ich muss Kari wickeln und brauche jetzt das Bad. Zieh dich an und dann kannst du mir helfen, den Frühstückstisch zu decken.“ Zufrieden nimmt Kamila die grüne Spange, deren Strasssteine im Sonnenlicht glitzern und reicht sie ihrer Mutter. Frau Haddad klippt ihrer Tochter die hübsche Haarspange an die linke Seite und gibt ihr einen zärtlichen Kuss. Fröhlich hüpft Kamila aus dem Bad. In ein paar Stunden wird sie ein richtiges Schulmädchen sein. Ihr kleiner Bruder Karim meldet sich lautstark zu Wort. Er hat wie immer morgens die Hosen voll und braucht frische Windeln. Kamila schmunzelt. Sie liebt ihren Bruder abgöttisch und fühlt sich sehr stolz und erwachsen, wenn die Mutter ihr erlaubt, ihn auf dem Arm zu tragen. Ein echtes Baby ist etwas ganz anderes als eine Puppe. Nun, manchmal kann Karim aber auch richtig nerven und wenn er stinkt, weil er in die Hosen gemacht hat, läuft Kamila immer schnell in ihr Zimmer. Das ist recht klein, aber es stehen neben ihrem Bett auch ein Wäscheschrank, ein Regal und neuerdings ein kleiner Kinderschreibtisch darin. Ab morgen wird Kamila jeden Tag regelmäßig Hausaufgaben machen müssen. Dazu braucht sie Ruhe und einen hellen Platz.

Glücklich öffnet sie ihren Wäscheschrank und nimmt ihr Schulkleid vom Bügel. Ihre Mutter hat es selbst genäht. Es ist grün und in der Mitte durch einen breiten Gürtel in den Farben Rot, weiß und schwarz abgesetzt. Im weißen Streifen befinden sich mehrere grüne Sterne. Das sind die Farben der syrischen Flagge, welche Akilah Haddad in das Kleid ihrer Tochter eingearbeitet hat. Die Familien beider Eltern gehören der sunnitischen islamischen Konfession an und stehen somit im Gegensatz zur Konfession der Staatsführung. Amir und Akilah lieben ihr Land und sie wünschen sich nichts sehnlicher als eine friedliche freie demokratische Ordnung dort. Von der ist Syrien allerdings momentan weit entfernt. Jetzt haben sich auch die beiden Großmächte Russland und Amerika in den Konflikt eingeschaltet. Jeder kämpft gegen jeden und ein normales Leben ist in der Heimat derzeit nicht möglich. Die Kinder wären dort nirgends sicher. Die Eltern sind froh, dass sie die Gefahren rechtzeitig erkannt haben und ihre Tochter noch relativ unbeschadet aus einem Land bringen konnten, welches jetzt im Chaos zu versinken droht. Aber sie haben auch Nationalgefühl. Sie sind und bleiben Angehörige des syrischen Volkes. Deshalb beschloss Akilah, ihrer Tochter ein ganz besonderes Kleid zur Einschulung zu nähen.

Die hat es inzwischen übergezogen und dreht sich stolz vor dem Spiegel. Erwartungsvoll schaut sie zu ihrem Schulranzen, der fast die gleichen Landesfarben hat, nur die grünen Sterne fehlen. Aber die kann man auch mit Stickern drauf kleben. Es liegen schon einige Hefte und eine Federtasche nebst einem Füllfederhalter darin. Ihren Namen kann Kamila bereits schreiben. Und die neue Schule kennt sie von einem Besuch mit dem Kindergarten. In der Schule wird nur deutsch gesprochen und geschrieben. Aber ihr Vater wird sie ab sofort jeden Tag am Nachmittag Arabisch und Englisch zusätzlich lehren. Es sind die Fächer, die er selbst in Syrien unterrichtet hat. Er arbeitet inzwischen an einer Schule für ältere Ausländer, so dass die Schüler dort auch Unterricht in ihrer Muttersprache erhalten. Amir Haddad denkt bei Integration in erster Linie an die Einhaltung der Gesetze des Gastlandes und an ein reibungsloses Miteinander mit den deutschen Nachbarn. Er fühlt Dankbarkeit, aber er will nicht den Rest seines Lebens in Deutschland bleiben. In Syrien muss eine tragfähige Demokratie auf der Grundlage islamischen Glaubens entstehen. Dann will er nach Hause zurückkehren. So wie er, denken die meisten Flüchtlinge. Er sagt oft, ein guter Moslem hat den Koran in den Händen, Mohammed, den Propheten, auf den Lippen und Allah im Herzen. Alle Muslime sind gleich und Allah will nicht, dass sich seine „Kinder“ bekämpfen. Im Syrien, das ihm vorschwebt, darf jeder seinen Glauben ausleben und ist ein Teil der Gesellschaft. So wie es auch in Deutschland umgesetzt wird.

Kamila will fleißig lernen, aber sie versteht noch nicht all zu viel, von den Gesprächen, die ihr Vater und seine Bekannten oft im Wohnzimmer führen. Sie legt die Bettdecke zusammen und setzt Otto auf das Kopfkissen. Der brummt laut auf. „Nein, Otto. Du kannst heute nicht mit. Die Menschenschule ist nichts für Teddybären. Aber ich erzähle dir nachher alles, was ich erlebt habe. Und morgen hilfst du mir bei den Hausaufgaben.“ Kamila hat ihren Teddy auf Deutsch angesprochen. Viele ihrer Freundinnen aus dem Kindergarten kommen aus Deutschland, wie auch ihre beste Freundin Elke. Kamila hat sich an den Wechsel beider Sprachen und Kulturen völlig unproblematisch gewöhnt und muss über ihre Worte nicht mehr nachdenken. Zufrieden verlässt sie ihr Zimmer in Richtung Küche. Ihre Mutter steht schon am Herd und bereitet das Frühstück für die Familie vor. Um halb neun Uhr wollen sie mit dem Bus zur Schule fahren. Dort beginnt der erste Schultag mit einem gemeinsamen Gottesdienst für alle Kinder und ihre Familien. Kamilas Eltern hatten in Syrien auch viele christliche Freunde, doch einen christlichen Gottesdienst haben sie noch nie besucht. Sie sind auch sehr gespannt darauf und wenn sie etwas nicht verstehen, muss Töchterchen Kamila übersetzen.

Die stellt im Augenblick fest, dass sie vor Aufregung gar keinen Appetit mehr hat. „Guten Morgen, Schatz“. Amir gibt seiner Frau einen Kuss und beugt sich dann zu seiner Tochter hinunter, die am Tisch sitzt und mäkelig auf ihren Teller schaut. „Ich mag nichts essen. Das ist alles viel zu aufregend“, meint sie. „Das weiß ich und deshalb haben Mama und ich auch eine besondere Überraschung für dich. Du bekommst sie, wenn du deinen Teller leer gegessen hast.“ Sofort meldet sich Kamilas Magen. Eigentlich ist sie doch hungrig. „Also, gut. Was ist es denn?“, fragt sie beiläufig, wohlwissend, dass ihr Vater ihr nichts verraten wird. Amir ist für seine Prinzipientreue in Familie und Freundeskreis bekannt. Auch Kamila kann ihn heute nicht um den Finger wickeln. Sie isst und lässt sich nichts anmerken. Ihre Eltern schauen sich vielsagend an. Akilah verlässt die Küche und als Kamila sieht, was ihre Mutter für sie in der Hand hält, springt sie auf. „Für mich? Oh, was ist das schön!“ Sie nimmt eine riesige bunte Schultüte in den Arm und pustet. Die Tüte ist sehr schwer und fast so groß, wie sie selbst. „Darf ich schon reinschauen?“ „Na, gut, aber nichts herausnehmen. Ich hatte Mühe, alles ordentlich einzupacken“, lacht ihre Mutter. Vorsichtig, mit zitternden Fingern, öffnet Kamila die Bändchen, mit dem die Schultüte verschlossen wurde. Malstifte, Bücher und ein kleines Handy kommen zum Vorschein. „Elke soll auch ein Handy bekommen, damit sie anrufen kann, wenn die Schule mal früher aus ist. Frau Schrader sagte, sie würde dir dann Bescheid geben und mich mit abholen. Aber wenn ich ein eigenes Handy habe, kann ich ja jetzt selbst anrufen!“ Kamila hat Tränen in den Augen. „Danke, Mami.“ Sie schlingt die Ärmchen um die Mutter. Amir sperrt Mund und Nase auf. „Und was ist mit mir? Ich hab das Geld dafür verdient“, meint er, übertrieben beleidigt. Kamila lacht und küsst auch ihren Vater. „Ich hab euch beide so lieb. Ihr seid die besten Eltern der Welt.“ „Na, das wird sich vielleicht schlagartig ändern, wenn du dein Zimmer aufräumen sollst“, schmunzelt ihre Mutter in weiser Voraussicht. Sie treibt die Familie zur Eile an. Das Geschirr muss abgewaschen werden und sie muss auch Karim Ausgehfertig machen.

Um kurz nach acht Uhr stehen alle vor dem Haus. Auch die Familien von Ali und Mehmet warten schon an der Bushaltestelle. Stolz zeigen sich die Kinder ihre Schulranzen und Schultüten. Vor allem Kamilas Kleid wird von allen Syrern bewundert. Einige können ihre Tränen beim Anblick der Landesfarben nicht verbergen. Die Sehnsucht nach einem friedlichen Leben in der Heimat ist groß. „Da kommt der Bus“, ruft Ali. Er hat Mühe seine große Schultüte zu halten. Aber noch stolzer ist er auf sein Trikot, denn Ali liebt Fußball und trägt das Trikot und die kurzen Hosen von Julian Draxler, der im Augenblick Kapitän der deutschen Nationalmannschaft sein darf. Ali hat schon alle Zahlen von 1 bis 22 gelernt, damit er weiß, an welcher Position die Spieler aufgestellt sind. Julians und Alis Trikot haben die Nummer 7. Die Linie 1020 hält und der Busfahrer öffnet lachend die Tür. „Zuerst bitte die Schulkinder, damit ich euch kennen lernen kann. Ihr drei werdet jetzt jeden Morgen pünktlich um halb acht Uhr hier auf mich warten. Mittags bringe ich euch wieder nach Hause. „So früh?“, fragt Mehmet entgeistert. „Da schlaf ich doch noch!“ „Ja, das ist der Ernst des Lebens“, hört er Stimmen aus dem Bus rufen. Einige deutsche Eltern sitzen auch mit ihren Erstklässlern darin. „Das ist das Schöne: Die Schule ist für alle gleich. Egal, woher ihr kommt, ob Junge oder Mädchen. In Deutschland ist Lernen erste Bürgerpflicht.“ Der Busfahrer und alle Erwachsenen brechen in großes Gelächter aus. „Die drei Herrschaften brauchen heute nicht zu bezahlen. Und morgen gibt’s die Monatskarte, die ihr immer dabei haben müsst, okay?“ Die Kinder nicken. Uff, jetzt will sich Kamila nur noch hinsetzen.

„Komm zu mir, Kamila“, hört sie Claudia rufen, mit der sie schon im Kindergarten viel gespielt hat. Claudia rutscht zur Seite. „Elke kommt wohl mit dem Auto“, meint sie. „Zeig mal deine Schultüte. Hast du schon reingeschaut?“ Kamila nickt. „Ja, ich habe Malstifte und Bücher bekommen und ein kleines Handy, damit ich mich immer bei Mama melden kann, wenn die Schule mal früher aus ist“, antwortet sie. Claudia sieht ihre Mutter fragend an und zieht eine kleine Schnute. „Siehst du, Mutti, auch die anderen Kinder haben schon ein Handy. Nur ich nicht!“, mault das kleine blonde Mädchen herum. Ihre Mutter seufzt. „Also, gut. Du Quälgeist. Eigentlich seid ihr noch viel zu jung dafür und die Handys strahlen und sind deshalb nicht ungefährlich für Kinder. Aber ich spreche heute Abend mit Papa. Wenn er zustimmt, kaufen wir dir auch ein Handy.“ „Yippie!“ Claudia klatscht vor Begeisterung in die Hände. Frau Haddad unterhält sich mit Claudias Mama, die eigentlich arbeiten müsste. Aber sie hat sich frei genommen, um ihre Tochter in die Schule zu begleiten. „Wir wollten auch noch keines besorgen. Doch die Kinder bekommen alle so früh diese Geräte, da konnten wir nicht zurückstehen. Kamila soll sich in ihrer Klasse gleichwertig fühlen“, meint Akilah. Claudias Mutter kennt Kamilas Eltern natürlich aus dem Kindergarten. Sie schüttelt den Kopf. „Kamila ist genauso gleich wie alle anderen. Mobbing brauchen Sie hier bei uns nicht zu fürchten. Frau Hamann, die Klassenlehrerin des ersten Schuljahres, hat alles im Griff. Die lässt sich kein X für ein U vormachen und greift rigoros durch, wenn ein Kind benachteiligt werden soll. Und sie mag Kamila sehr, weil Ihre Kleine so lernbegierig ist. Wenn Sie länger hier bleiben müssen, sollte Kamila später aufs Gymnasium gehen“, erwidert Sandra Cornelius.

Akilah stutzt etwas. Sie schaut Kamila an. Die weiß schon Bescheid. „Ein X für ein U vormachen, ist nur eine Redensart. Es bedeutet, dass man Frau Hamann nicht veräppeln kann. Sie ist sehr klug und eine erfahrene Lehrerin“, erklärt sie der Mutter. „Veräppeln?“, fragt diese zurück. „Uff, auch eine Redensart. Nimm es einfach hin, Mama.“ Claudia und Kamila kichern. „Wir sind da“, hören sie plötzlich den Busfahrer aus dem Lautsprecher sagen. „Alle, die in die Grundschule wollen oder auch nicht, aber heute müssen, bitte aussteigen. Viel Spaß beim Einschulungsfest!“ Der Bus hält. Er fährt fast leer weiter.

Unzählige Kinder und ihre Eltern sind ausgestiegen und wandern ein kleines Stück durch eine abgelegene Seitenstraße. Dort sehen sie schon von weitem das Schulgebäude, welches mit roten Ziegeln erbaut wurde. Es macht einen guten stabilen Eindruck. An der rechten Seite erhebt sich die große Turnhalle, in der sich alle nachher zur Feier einfinden werden. Im Augenblick stehen die vielen Menschen aber noch auf dem riesigen Schulhof. Kamila geht bewusst und gefasst auf ihre künftige Schule zu. Sie ist sich der Bedeutung dieses Augenblicks bewusst. Das junge Mädchen lernt schnell. Sie besitzt eine große Auffassungsgabe und ist zudem sehr musikalisch. Die Schule wird ihr neues zweites zu Hause werden. Das kann sie bereits fühlen. Ihre Mutter nimmt sie spontan an die Hand. Akilah atmet durch. Ein bisschen Wehmut füllt ihr Herz, denn ihre Tochter wird ihr ab heute nicht mehr allein gehören. Schweigend geht ihr Mann neben den beiden. Amirs Gedanken hingegen sind in Syrien. Er hätte nie gedacht, dass er einmal sein Kind in eine deutsche Schule schicken wird. Aber das Schicksal hat es für die Familie und für ihn anders entschieden. Wer weiß, wofür es gut ist, denkt er. Auf jeden Fall bekommt Kamila alle Chancen der Welt, einen guten Schulabschluss zu machen und vielleicht kann sie, wie er, eines Tages sogar studieren. Akilah flüstert ihrem Mann auf Arabisch leise ins Ohr: „Möglicherweise bringst du gerade deine Nachfolgerin zur Schule!“ Amir lächelt. „Kannst du Gedanken lesen?“