Die Teststrecke

Stumm verweilt der alte Mann auf hellem Pflasterstein. Leichter Wind weht Laub von den Eichen am Tor her. Welke Blätter fallen zu seinen Füßen nieder. In sich gekehrt, versunken in Erinnerungen, beugt er sich hinunter und hebt eines der braunen Eichblätter auf. Die Eichen könnten einiges erzählen. Sie standen schon damals hier, auf dem Platz, gleich hinter dem Eisentor, vor Turm A. Gelächter dringt an das Ohr des Alten. Eine Schulklasse kampiert neben der Mauer zu seiner Rechten. Unschuldige Kinder, die nichts mehr wissen, von den Verbrechen, die hier einst geschahen. Seine welke Hand zittert, als er das Blatt vorsichtig glatt streicht. Dann steckt er es in den kleinen Blumenstrauß, den seine Finger umschließen. Er konnte nicht früher herkommen. Erst, nachdem sie 1989 die Grenze zwischen Ost-und Westdeutschland wieder geöffnet hatten, dachte er daran, die weite Reise zu unternehmen.

Nein, er hat nichts vergessen. Wie könnte er auch! Es haftet alles noch in seinem Gedächtnis, als ob es gestern gewesen wäre. Ein Film läuft vor ihm ab, während seine müden Augen nach vorne zu dem weißen Gebäude blicken. Turm A. Dort war die Kommandantur untergebracht. Das Unglück geschah im Herbst 1944. Sie standen kurz vor dem Abitur, sein Freund Klaus und er. Die Mutter warnte ihn. „Geh nicht aus, Junge, sie machen Jagd auf Männer, wie den Klaus und dich.“ Er lachte, nahm sie kurz in den Arm. „Ach, was, die SS hat jetzt andere Sorgen, die müssen alle nach Russland an die Front.“ Dann verließ er sein Elternhaus. Klaus wohnte nur einige wenige Meter von ihm entfernt. Dessen Vater war im Krieg, die Mutter arbeitete nachts in der Munitionsfabrik. Niemand konnte sie stören. Er lief über die Straße, klopfte an die Tür und einen Augenblick später lagen beide Jungen nackt im Bett. Nachdem sie sich vom Liebesspiel erholt hatten, zogen sie sich an und machten sich auf den Weg in ihr Stammlokal. Das war an diesem Abend nur wenig besucht. Auf Homosexualität stand Zuchthaus. Der Wirt agierte deswegen äußerst vorsichtig. Einige der älteren Freunde waren von der Gestapo verhaftet worden. Man hatte nie wieder etwas von ihnen gehört. Die beiden wussten, dass sie mit ihrer Veranlagung in Hitler Deutschland nicht sicher leben konnten. Deshalb hatten sie sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Der Offizier, der sie anwarb, sagte, sie erhielten nach dem Krieg ein Zeugnis, das dem Abitur gleichgestellt sein würde.

Dann saßen sie beim ersten Bier in der Kneipe. Enthusiastisch und aufgekratzt phantasierten sie vom Eisernen Kreuz und ihren künftigen Heldentaten für das Vaterland. Plötzlich standen zwei Gestapomänner in langen Mänteln hinter ihnen. An Flucht war nicht mehr zu denken. In einem eigens dafür eingerichteten Keller wurden sie Tag und Nacht verhört. Zwei Tage später kam ein LKW und brachte sie fort aus Hamburg. Kurz hinter Berlin lag das KZ Sachsenhausen. Sie mussten sich entkleiden, erhielten gestreifte Häftlingskleidung. Auf der Brust klebte ein rosa farbiger Winkel. Sie sagten ihnen, sie wären Sittlichkeitsverbrecher und wegen Unzucht mit jungen Männern auf unbestimmte Zeit zur Zwangsarbeit im KZ verurteilt. Hier kämen sie nun zum Sonderkommando Schuhläufer. Keiner von beiden konnte sich darunter etwas vorstellen, bis… Namhafte deutsche Schuhfirmen prüften ihr Schuhwerk praxisnah auf eigens dafür angelegten Testlaufstrecken neben dem Betriebsgelände. Nach und nach war man dazu übergegangen, die Haltbarkeit von Damen –und Herren Straßenschuhen sowie natürlich der Schnürstiefel für die Wehrmacht und ihrer Sohlen, von KZ Häftlingen prüfen und erproben zu lassen. Diese waren erheblich billiger, ein Häftling kostete nur sechs Reichsmark. Die Gefangenen mussten täglich eine Strecke von bis zu 4o km, entsprechend eines Marathons, teilweise mit schwerem Gepäck, auf sieben verschiedenen Straßenbelägen marschieren. Das Reichswirtschaftsministerium beaufsichtigte die sogenannten Materialtests. Langsam geht er weiter. Die Beine werden ihm immer schwerer. Die meisten der inhaftierten Schuhläufer waren Homosexuelle. Der Rosa Winkel diente als Erkennungszeichen.

Täglich starben zwischen fünfzehn und zwanzig von ihnen auf der Strecke. Die Schuhläufer wurden am schlechtesten ernährt. Klaus kam Anfang April 1945 in die Krankenabteilung des Lagers. Er blieb mit 3000 anderen zurück, als dieses aufgelöst wurde und starb, bevor die russische Armee eintraf und das Lager befreien konnte, an den Folgen einer ihm zu Testzwecken zugefügten Wundinfektion. Die Ärzte prüften so die Wirkung neuer Medikamente. In den Morgenstunden des 21. April 1945 verließen 33000 Häftlinge in kleinen Gruppen das Lager in Richtung Nordwesten. Tausende starben auf dem Marsch an Unterernährung und Erschöpfung, wurden von den Aufsehern erschossen. Zwei Tage später kampierten sie im Waldlager Belowerwald. Nachdem sich alle Bewacher ab dem 29. April aus dem Staub gemacht hatten, kämpfte auch er sich zusammen mit vielen anderen nach Schwerin durch und fand Hilfe bei den Truppen der US Armee. Er weinte bitterlich, als er einige Wochen später durch einen ehemaligen Pfleger in Hamburg vom Tod des Freundes erfuhr. Mit seinen heimlich erworbenen Englischkenntnissen fand er Arbeit bei den Amerikanern und ging nach dem Krieg in die Staaten.

Er hat die Strecke erreicht, die sie damals entlang marschieren mussten. Wieder und wieder rinnen ihm Tränen über das faltige Gesicht. Er kniet nieder, legt seinen Blumenstrauß ab und nimmt das Eichenblatt heraus, welches ihm am Tor vor die Füße gefallen war. Mit dem Ärmel wischt er sich kurz über die Augen. Dann führt er das Blatt an den Mund, küsst es und fügt es wieder unter den Blumenstrauß. „Es war Herbst gewesen, als wir hier herkamen und nun ist wieder Herbst. Fünfundsechzig Jahre nach deinem Tod, Klaus, steh ich endlich an deinem Grab. Ich bin jetzt Vierundachtzig und Gott allein weiß, wann ich zu dir kommen darf. Es wird sicher nicht mehr lang sein, bis wir uns wiedersehen. Die Eichen vor Turm A haben uns überdauert und auch viele auf der Schuhprüfstrecke entwickelten Werk-und Klebstoffe, die wir damals testeten, sind noch heute als Kunststoffe in Gebrauch. Aber erst seit 1994 machen sich Männer in Deutschland nicht mehr strafbar, wenn sie Männer lieben. Das Gesetz wurde spät geändert. Und doch, es bleibt ein Aufbruch in ein neues, besseres Deutschland, ein moderneres Deutschland.“

Ein Schüler aus der Schulklasse, die am Eingang lagerte, war dem weißhaarigen Mann neugierig gefolgt. Der blonde Junge hatte den alten Mann so ergriffen auf dem Pflaster neben den Eichen stehen sehen, dass er sich nicht mehr von ihm abwenden konnte. Staunend und ehrfurchtsvoll blickt er jetzt zu dem Knieenden und geht auf ihn zu. Stumm reicht er ihm die Hand und hilft ihm auf. Überrascht sehen sie einander in die Augen. Der Mann lächelt dankbar. „Hast du mitgehört, was ich eben sagte?“ Der Siebzehnjährige schlägt beschämt seinen Blick nieder. „Ich will die Strecke von damals jetzt stellvertretend als Ehrerbietung für alle, die hier begraben liegen, noch einmal abgehen. Es sind nur 700 Meter. Willst du mich begleiten?“, fragt der Alte. Der Teenager nickt freudig. „Der Bruder meiner Großmutter wurde hier 1942 in einer schrecklichen Mordaktion von der SS erschossen. Nur weil er schwul war. Wir müssen dankbar dafür sein, dass wir in einer neuen Zeit leben. So etwas darf sich nie wiederholen. Ich will alles dazu tun, wenn ich erwachsen bin.“ Der Wind wirbelt erneut einige Eichenblätter auf, während die beiden die Schuhprüfstrecke der ehemaligen Sachsenhausener Häftlinge abmarschieren. Zufrieden legt der Greis seine Hand auf die Schulter des Jungen. „Ja, so ist es richtig, mein Junge. Wir wollen für alle Zeit hoffen, dass die Jugend aus den Fehlern der Alten inzwischen genug gelernt hat.“