Zwei Menschen- eine Seele

Leseprobe

Am Ende des Weges

Klirrende Kälte überzog die Stadt. Es hatte vor einigen Tagen geschneit. Der Schnee auf den Straßen schimmerte nicht mehr ganz weiß, sondern wies verschiedene Schattierungen in Grau- und Brauntönen auf. Er war teilweise bereits getaut, so dass sich die Straßen und Wege nass und matschig präsentierten. Ein dunkles Auto der gehobenen Klasse hielt auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang des Zentralfriedhofs an. Eine Frau stieg aus und passierte das Portal. Sie war schlank und sehr hochgewachsen. Tief atmete sie durch die Nase ein und blies ihren Atem in langgezogenen Nebelschwaden über den Mund wieder in die eisige Luft hinaus. Auf dem Friedhof lag der Schnee noch so rein, wie die Natur ihn in Form der kleinen sechseckigen Kristalle vom Himmel hatte fallen lassen. Die Frau trug einen dunklen Pelzimitatmantel mit Kapuze, in der ihr Kopf tief verborgen der eisigen Kälte trotzte. Lange blondgelockte Haare umspielten ein dezent geschminktes, etwas herb wirkendes Gesicht. Die Beine steckten in schwarzen, bis zu den Knien hochgezogenen Lederstiefeln, deren Absätze kräftige Abdrücke im Schnee hinterließen. Sie hielt eine rote Rose in ihrer rechten Hand. Über ihrer linken Schulter hing die schwarze Lederhandtasche eines italienischen Luxusdesigners. Der Friedhof war an diesem kalten Dienstagmorgen Ende Februar menschenleer. Die elegant gekleidete Frau schritt zielstrebig auf dem vom Schnee nur mäßig geräumten Hauptweg an der kleinen Friedhofskapelle vorbei nach Norden. Sie ging bis zum Ende des Ganges und bog rechts ab, um am zweitletzten Grab stehenzubleiben. Carsten Maruhn, geboren am 10.11.1978, verstorben am 26.01.2010, stand in weißer Farbe in rostbraunen Marmor gemeißelt, auf dem Grabstein. Das Einzelgrab sah sehr gepflegt aus. Ein leichtes Zucken um die Mundwinkel verriet die starke Anspannung, unter der die Frau stand. Laut begann sie mit dem Toten zu sprechen. „Lisa Maruhn gehört dort eigentlich hin“, sagte sie ärgerlich und spürte, wie ein brennender Schmerz ihr Herz durchbohrte. „Carsten gibt es nicht mehr, aber nun gut, deine Vornamens- und Personenstandsänderung waren ja noch nicht durch und daher musste noch der männliche Name auf den Grabstein. Ich mache mir große Vorwürfe, Lisa. Wenn ich damals bloß hier gewesen wäre! Ich hätte es bestimmt verhindern können. Warum nur, Lisa? Wir hatten doch alles geplant! Ich wollte dich mitnehmen. Wir hätten beide ein neues Leben anfangen können!“ Ihr Kopf hob sich schmerzerfüllt und ihre Augen blickten wie mit einem verzweifelten, wütenden Aufschrei zum Himmel hinauf, als wenn sie die Antwort auf die Frage in diesem Augenblick tatsächlich von Gott selbst erwartete. Ihr unsägliches Leid musste sich, während sie am Grab der besten Freundin stand, entladen. „Alles Gute, Lisa. Du bist jetzt vielleicht in einer besseren Welt. Niemand kann dir mehr wehtun!“ Tränen rannen über das markante Frauengesicht und zogen tiefe Furchen aus verwischtem schwarzem Mascara auf ihre kalten Wangen. Sie beugte ihre Knie und legte mit liebevollem Blick die Rose in die Mitte des Grabes. „Es ist eisig, Lisa. Sie wird sich lange halten“, sagte sie leise. „Rote Rosen waren doch deine Lieblingsblumen, ich habe das nicht vergessen. Ich sehe alles noch wie heute vor mir, als wir einander das erste Mal begegneten.“ Ihre Gedanken wanderten langsam in die Vergangenheit zurück. Sie erlebte sich wieder an den Abend vor zwei Jahren zurückversetzt, der ihr Leben so radikal verändert hatte. Ihr erster Besuch in der Selbsthilfegruppe stand damals bevor und sie wollte sich perfekt präsentieren. Die Frau im Pelzmantel ließ ihrer Erinnerung freien Lauf.

Aus Jürgen wird Annette

Sie war zu dieser Zeit für ihre Umgebung und die Welt außerhalb ihrer eigenen Empfindungen noch keine Frau gewesen. Nur ihre Seele meldete sich ab und an, um ihr mitzuteilen, dass irgendetwas mit ihr nicht im Lot sein konnte. In solchen Augenblicken tauchten merkwürdige Gefühle auf. Sie sah, wenn sie an sich dachte, eine Frau vor sich und doch, das Bild, das ihr in jenen Momenten aus dem Spiegel entgegen blickte, zeigte eine andere Wahrheit. Ihr Körper, den sie schon als Kind bewusst abgelehnt hatte und mit dem sie sich nie identifizieren konnte, war der eines Mannes und in der Öffentlichkeit lebte sie auch als solcher in ihrer Wahlheimat Köln. Rechtsanwalt Jürgen von Wichern stand noch auf dem Schild, am Eingang zu ihrer Anwaltskanzlei. Dass der Mensch hinter dieser serösen, ja piek feinen, an die gesellschaftliche Ordnung angepassten Fassade, tatsächlich aus zwei Hälften bestand, welche sich innen als weiblich und außen als männlich präsentierten, wusste niemand aus ihrem beruflichen Umkreis und auch die Familie im weit entfernten Hamburg war ahnungslos geblieben. Annette versus Jürgen oder war es umgekehrt? In ihrer Brust lebten seit sie denken konnte zwei Seelen und irgendwann nahm der bisher unterdrückte Teil von ihr sein Leben selbst in die Hand. Jürgen ließ seine weibliche Seite zu und gab seinem Frauen-Ich zärtlich den Namen Annette. Und die fühlte sich an jenem Abend ausgesprochen unruhig und aufgewühlt. Das andere, zweite Leben, welches sie bislang nur hinter den hohen Mauern ihrer Phantasie lebte, sollte nämlich, zumindest ansatzweise, heute Realität werden. Sie wollte sich das erste Mal in Frauenkleidern und geschminkt, mit sich selbst und ihrer Weiblichkeit im Reinen, in die Öffentlichkeit wagen. Wobei es sich in diesem Fall um eine ganz besondere Öffentlichkeit handelte. Sie hatte im Internet nach einer Selbsthilfegruppe für Transsexuelle gesucht und war auf die Gruppe in Duisburg gestoßen. Dort würde sie mit Gleichgesinnten zusammen treffen und brauchte sich deshalb eigentlich nicht zu verstecken, doch sie musste ja auch irgendwie erst einmal zum Treffpunkt hinkommen. Werde ich auf der Straße auffallen? , fragte sie sich darum ängstlich, als sie statt der bekannten männlichen Erscheinung, genau das im Spiegel sah, was sie sich bisher sehnlichst gewünscht hatte. Ob sich die Menschen auf der Straße nach mir umdrehen und vielleicht sogar lachen werden? Gedanken schossen ihr plötzlich durch den Kopf. Gemeine Worte waren es, die sie quälen wollten. Sie stellte sich vor, wie sich andere Leute anstießen und tuschelten: Guck mal die Alte, dort. Witzig, ist das eine Ulknudel, die sieht aus wie ein Paradiesvogel und es ist doch noch gar kein Karneval! Ihre Seele schrie vor Schmerz kurz auf und nötigte sie zu reagieren. „Nein, raus aus meinem Kopf. Und zwar Alles! Das wird nicht passieren!“, schalt sie sich laut und ballte Momente lang sogar energisch die Faust.

Trotzdem, Annette war so aufgeregt, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Antworten auf eventuelle Fragen nach ihrer Herkunft hatte sie gut durchdacht. Sie wollte sich als Jurastudentin der Kölner Uni ausgeben. Juristin war sie tatsächlich, die Examen allerdings lange bestanden. Aber sie musste vorsichtig sein. Niemand sollte etwas von ihrem bürgerlichen Leben als Mann erfahren. Sie hatte furchtbare Angst vor gesellschaftlicher Ächtung. Immer wieder blickte sie in den Spiegel. War der Rock nicht doch zu kurz? War die Schminke auch richtig verteilt oder schien noch Bartwuchs am Kinn durch? Annette atmete tief ein und aus. Entschlossen nahm sie ihre Handtasche an sich, schloss die Wohnungstür ab und stieg schnell in den Fahrstuhl. Ab in die Tiefgarage. Au! Ihr Zeigefinger wollte auf den Knopf drücken, beinahe hätte sie dabei den langen zartrosa lackierten künstlichen Nagel vergessen. Sie konnte ihren Finger gerade noch rechtzeitig so herumdrehen, dass nicht gleich eines ihrer wichtigsten weiblichen Attribute abbrach. Gottseidank. Sie blickte sich, etwas in Panik geraten, um. Von der Hausgemeinschaft war niemand zu sehen. Die Hacken ihrer Schuhe klackerten verdächtig laut auf dem Betonfußboden. Vorsichtig, und mit spitzen Fingern, beeilte sie sich beim Öffnen der Autotür. Das Einsteigen im kurzen Rock und mit hohen Hacken will auch gelernt sein, fiel ihr auf. Uff. Ein kurzer Blick in den Spiegel. Wieder atmete sie aus. Gas und Kupplung fühlten sich im ersten Moment neu und merkwürdig an. Was Schuhe nur ausmachen! Fast hätte sie den Motor abgewürgt. Annette zitterte. Doch dann sprach Jürgen in ihr ein Machtwort. Mutig gab sie Gas. Das Auto rollte langsam auf die Straße zu. Einen Moment später war sie wieder der routinierte Fahrer und lenkte ihre S- Klasse sicher zur Stadtautobahn. Kurz vor der Auffahrt, an der Ampel, grinste ein bärtiger Typ frech durch die Fensterscheibe zu ihr hin. Verschämt und verwirrt senkte sie ihren Blick und… das Auto machte einen kleinen Satz nach vorn. Vom Motor hörte sie nichts mehr. Es dauerte fast eine Ewigkeit, bis Annette wieder starten konnte. Der unverschämte Fahrer war längst verschwunden, als sie sich erneut in Bewegung setzte. Der Weg nach Duisburg zu dem Lokal, in dem sich die Gruppe traf, kam ihr endlos weit vor. Doch dann erschien das Ortsschild im Licht ihres Scheinwerfers, sie atmete auf und bog in eine ruhig gelegene Seitenstraße ein. Geschafft. Erleichterung und Vorfreude mischten sich mit Neugier. Gespannt dachte sie an die kommenden Stunden. Doch was war das? Ihr Unterbewusstsein signalisierte eine Gestalt, die, wie aus dem Nichts, plötzlich auftauchte. Auf dem unbeleuchteten Parkplatz vor der Kneipe stieg gerade jemand aus dem Wagen aus. Annettes Blick hing magisch an dieser Frau, die auf viel zu hohen Absätzen, fiel ihr ein, über die schwarz asphaltierte nasse Straße stöckelte. Merkwürdig. Ihre Augen suchten angestrengt die Umgebung ab. Urplötzlich war jene Person nämlich wieder in der tiefschwarzen Nacht verschwunden. Annette parkte ihren eigenen Wagen ein Stück weiter, verließ ihn ziemlich ungelenk und war glücklich, dass sie ihre Schuhe für diesen Abend nicht ganz so hoch gewählt hatte. Es befand sich frisch verteilter Split auf dem Platz und sie bemerkte entsetzt, wie sie tief darin versank. Sorgfältig schloss sie ab. Ziemlich beunruhigt blinzelte sie jetzt durch die Dunkelheit, währenddessen ihre Füße vorsichtig, Schritt für Schritt, einen gangbaren Weg auf den ungewohnten Damenschuhen suchten. War da nicht ein Geräusch gewesen? Lag dort nicht etwas? Gerade vor ihr auf den Pflastersteinen? Annette stakste unsicher näher heran. Und sie behielt Recht. Wie ein kleines Häufchen Elend krümmte sich tatsächlich die Frau von eben auf dem Bürgersteig. Eine unscheinbare Kante am Rinnstein war ihr wohl zum Verhängnis geworden. Alles schien verrutscht zu sein. Der Rock, die Bluse, ihre Jacke und die Perücke, die sie auf dem Kopf getragen hatte und diesen nun auf einmal nur noch zur Hälfte bedeckte. Annette eilte dazu, musste höllisch aufpassen, nicht denselben Fehler zu machen und über die gefährliche Kante zu stolpern, beugte sich hinunter. „Kann ich Ihnen helfen?“ Oh, nein, das war wohl völlig daneben, schalt sie sich. Wie konnte man in einer derartigen Situation nur eine so dämliche Frage stellen? Sofort streckte sie die Hand aus und zog die Frau auf. Beide sahen sich überrascht an. Nach der kurzen Schrecksekunde lagen sie einander urplötzlich lachend in den Armen. Annette blickte in ein paar offene und ehrliche Augen, die ihr so vertraut vorkamen und die doch zu einem fremden Menschen gehörten. Das Mädchen vor ihr war anscheinend genau wie sie. „Sind Sie, bist du, auch transsexuell?“, stammelte sie, ungläubig, in der ersten Verwirrung. Die Frage war unhöflich und irgendwie auch vollkommen überflüssig.

Annette schalt sich erneut selbst, aber sie spürte trotz ihrer äußeren Unsicherheit ein wohliges Gefühl von Erleichterung. Das Empfinden, sie würde von nun an nie wieder allein sein, war so real, wie die tiefe innere Gewissheit, kein Mann, sondern eine Frau zu sein. Die junge Frau lächelte, stellte sich als Lisa vor und erzählte, sie wäre schon öfter in der Gruppe gewesen, kannte sich deshalb im Lokal gut aus. Notdürftig half ihr Annette, die Kleidung zu ordnen. Zusammen schlichen sich die beiden in die Damentoilette. Annette glaubte, ihr Herz würde jeden Moment stehen bleiben. Sie japste nach Luft und konnte nur noch piepsen: „Aber, wir können doch nicht hier rein? Oh Gott, wenn uns jemand sieht!“ Lisa schüttelte lachend den Kopf. „Hab keine Angst. Dies ist unser Reich. Jeder weiß hier Bescheid und niemand kümmert sich um uns. Meine neuen Nylons sind zerrissen. Die haben mich ein Vermögen gekostet. Der Absatz ist auch wieder hin. Warum erfindet die Industrie für uns Frauen bloß solche Mordwerkzeuge? Irgendwie bin ich über die Sch… Kante gestolpert und plötzlich lag ich flach. Gut, dass du kamst! Du bist neu hier? Wie heißt du eigentlich?“ Lisa hatte ihren Redeschwall kurz unterbrochen. Typisch Frau! Reden ohne Punkt und Komma, dachte Annette. Leicht amüsiert antwortete sie: „Ich bin Annette, Studentin der Jurisprudenz in Köln.“ „Der was?“ Huch! Lisas Augen wurden immer größer. Plötzlich lachte sie los. Annette hatte schon geglaubt, sich mit Frauen auszukennen. Aber ein solch schrilles Gelächter, das in undefinierbarem Glucksen endete und dem unbedarften Beobachter signalisierte, dass sich hier gerade eine Person dem Erstickungstod näherte, war ihr noch nie untergekommen. „Ich will Anwältin werden“, ergänzte sie ratlos. „Ach so, eine Rechtsverdreherin. Warum sagst du das nicht gleich?“ Lisa schüttelte erneut den Kopf, um im nächsten Augenblick wieder loszuprusten, während sie den gesamten Inhalt ihrer roten Lacklederhandtasche über dem Waschbecken auskippte. „Schick ist die, oder? Habe ich vor ein paar Tagen für zehn Euro bei meinem Stammkaufhaus ergattern können!“ Ihre langen knallrot lackierten Fingernägel stocherten in dem Sammelsurium an Schminkutensilien und Kleinteilen einen Augenblick lang suchend herum. Dann jauchzte sie vor Entzücken und griff nach einem abgewetzten Lippenstift, den sie mit gekonntem Schwung aus dem Handgelenk öffnete. Ihr linker kleiner Finger spreizte sich dabei soweit ab, dass es fast aussah, als würde er im nächsten Augenblick nach hinten abbrechen. Geschickt zog sie die helle rote Farbe auf ihren Lippen nach, schmatzte Ober- und Unterlippe zusammen und nickte befriedigt. Annette staunte. Lisa füllte ihre Handtasche und nachdem ihre Siebensachen wieder in dem knallroten Beutel verschwunden waren, schob sie ihre neue Freundin lächelnd aus dem Klo. Einige Minuten später standen die beiden jungen Frauen in der kleinen Kneipe. Lisa packte ihre Begleiterin sanft am Arm und zog sie bis zur hintersten Ecke weiter zu einer Bank, wo sich zwei andere Frauen konzentriert mit der bunten Speisekarte beschäftigten. „Hallo, ihr beiden Süßen, ich hatte gerade einen Unfall auf der Straße und wenn Annette hier nicht gewesen wäre, dann könntet ihr mich morgen früh wohl als Eisteddybärin vom Asphalt abkratzen“, begrüßte sie die beiden. „Also, das sind Arabella und Jule. Ich kann erst mal eine heiße Schokolade vertragen. Wo bleibt überhaupt Ines?“ Puh! Annette hatte schon befürchtet, Lisa würde wieder kein Ende finden, doch die stoppte ihre Worte so plötzlich, wie sie mit dem wasserfallgleichen Redefluss angefangen hatte. „Juliane“, stellte sich die rothaarige kräftige Dame im bunten blumengemusterten Chiffonkleid mit tiefem Bass vor. „Also, ich nehme eine Gulaschsuppe“, meinte ihre Nachbarin, deren Stimme sich ebenfalls sehr dunkel gefärbt anhörte. Sie hatte sich sorgfältig geschminkt, doch ihre Finger ließen nur einen derben Beruf im Bauhandwerk vermuten. Ihr schwarzer Rock und die dunkelrote Bluse standen ihr ansonsten sehr gut, stellte Annette fest. „Annette macht in Pudenz“, sagte Lisa erhaben. „Ich studiere Jura und ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn ich mich zu euch setze.“ Annette lächelte. „Es ist mein erstes Mal in der Gruppe. Ich bin so fürchterlich aufgeregt“, ächzte sie anschließend verlegen. „Das wird auch bestimmt nicht das letzte Mal sein, Kindchen. Hier macht sich fast jede erst in den Schlüpfer, aber das gibt sich, glaub mir, Herzchen.“ Arabella legte die Speisekarte zur Seite und sah Annette mitleidig prüfend an. „Du bist also noch ganz am Anfang?“, fragte sie mehr oder weniger beiläufig. Eine wirklich wahrheitsgemäße Antwort erwartete Arabella sichtlich nicht. „Hast noch einen weiten Weg vor dir, je nachdem. Psychotherapie, Gutachter und wenn du endlich durch bist, die große OP. Dann ist auch alles weg und kommt nie mehr wieder. Überlege es dir gut. Es gibt Leute, die das heulende Elend überkommt, wenn sie feststellen, was einmal ab ist, bleibt auch ab. Nun, wie gefällt dir denn mein Oberteil? Hab ich als allererstes machen lassen. Untenrum ist noch alles da. Mal sehen, im Sommer vielleicht. Hab noch nicht den richtigen Operateur. Der Franzose ist zu teuer, den zahlt die Kasse nicht und die anderen, na ja… Es ist einfach zum Heulen. Wenn du Knete hast, kriegst du alles.“ Arabellas Augen hatten plötzlich einen eigenartigen traurigen Glanz angenommen. Ihr fröhlicher Blick war tiefer Melancholie gewichen. „Nicht alle halten dem Druck während des Geschlechtswechsels stand. Viele von uns sind mit der Situation überfordert und nicht wenige nehmen sich in dieser Zeit sogar das Leben. Es hängt auch viel von den Gutachtern ab. Nicht alle von denen behandeln uns gut. Für einige sind wir lediglich mysteriöse, wissenschaftliche Objekte, bizarr und unheimlich und natürlich mit einer großen Portion Perversion. Wer dann nicht wirklich selbstbewusst und stark ist, der geht unter. Ich kenne schon drei, die inzwischen durch eigene Hand auf dem Friedhof liegen“, erzählte Juliane, während sie ihre Freundin mit ängstlichem Blick zu mustern schien.

„Arabella ist Gott sei Dank hart im Nehmen. Sie hat das Gutachterverfahren hinter sich. Nun kämpft sie nur noch mit der Krankenkasse. Als gesetzlich Versicherter hast du ja auch keine Wahl. Die schicken dich einfach irgendwo hin. Eigentlich kann man da auch gleich wie früher auf einen Seelenverkäufer steigen und nach Casablanca fahren“, setzte sie nach. Annette schluckte. So hatte sie sich das erste Gruppentreffen nicht vorgestellt. Diese beiden transsexuellen Frauen waren natürlich Urgesteine, das merkte sie sofort. Aber wer waren sie wirklich? Lagen hinter der äußeren harten Fassade nicht sehr verletzliche Seelen? Ihre Ansprechpartnerin aus der E-Mail hieß Ines. Sie hatte ihr den Ort und die Zeit des monatlichen Treffens genannt, ein bisschen etwas zur Selbsthilfegruppe geschrieben und wollte ebenfalls kommen. Diese Gruppe bestand bereits seit gut acht Jahren. Damals gab es in der Stadt einen Gynäkologen, der Menschen mit abweichender Geschlechtsidentität behandelte. Dort trafen sich ein paar der Frauen mehr oder weniger zufällig während der Sprechstunden im Wartezimmer. Sie stellten dann rasch die Gemeinsamkeiten in ihren Lebensschicksalen fest und verabredeten sich an einem neutralen Ort. Das Lokal sprach sich herum und schnell fanden die Treffen regelmäßig einmal im Monat statt. Annette war sich jetzt gerade nicht ganz sicher, ob sie das hier auch brauchte oder besser gesagt, überhaupt gebrauchen konnte. Sie war seit vielen Jahren ein erfolgreicher, gut betuchter Anwalt in Köln mit einer eigenen Kanzlei und vorwiegend im Wirtschaftsrecht tätig. Sie konnte ihre Neigungen, die sie seit frühester Kindheit in sich spürte, nicht offen leben, denn das hätte ihre Klienten, die allesamt aus der obersten Gesellschaftsschicht kamen, sofort auf ewig verschreckt. So war sie gezwungen, nur heimliche Schritte zu unternehmen, um ihrer wahren Identität auf die Spur zu kommen. Die Familie stammte aus Hamburg und die Eltern lebten dort im besten Stadtteil in einer großen Villa. Der Vater, Friedrich von Wichern, hatte die beiden Söhne konservativ erzogen. Martin, der ältere Bruder, sollte die Reederei und die Konservenfabrik übernehmen und war bereits nach abgeschlossenem BWL Studium und einem einjährigen Aufenthalt in den USA in die elterliche Firma eingetreten. Annettes Mutter, Magda, studierte im letzten Semester Medizin, als sie den reichen Kaufmannssohn kennenlernte. Ihre Eltern zeigten sich von ihrer Wahl begeistert. Die von Wicherns gehörten schließlich seit Jahrzehnten zu den alteingesessenen besten Familien der Stadt und stellten auch immer wieder Senatoren. Magda von Wichern wurde die Mutter zweier Jungen und ging in dieser Rolle auf. Als Jürgen, der Jüngere, irgendwann merkte, dass er anders war als die übrigen Männer, bekam er Angst vor dem strengen Vater und wählte die Universität in Köln für sein Jurastudium. So war es ein Leichtes, den Vater davon zu überzeugen, dass er dort in der Rheinmetropole auch die besten Chancen hätte, seine Anwaltskanzlei zu etablieren. Eine Freundin gab es in Jürgens Leben nicht. Er versuchte sich einige Male mit mäßigem Erfolg in der Schwulenszene der Domstadt. Zwar verliebte er sich auch stets in Männer, erlebte sich aber in der Beziehung selbst nicht als solcher. Während der Liebesakte erschien es ihm regelmäßig, als wäre er eine Frau. Es fühlte sich so real an, dass Jürgen bereits fürchtete, an einer geistigen Störung zu leiden. Dann kam ihm der Zufall zu Hilfe. Eines Abends lernte er im Szenelokal einen jungen BWL-Studenten kennen. Nach einer Weile erzählte ihm dieser von seinem Geheimnis. Er hieß jetzt Tim und war Frau zu Mann transsexuell. Noch während des Studiums machte er von einem im Jahre 1980 eingeführten Gesetz Gebrauch und stellte beim Amtsgericht den Antrag auf Vornamens- und Personenstandsänderung. Danach suchte er sich im Kölner Schwulen- und Lesben-Milieu eine Selbsthilfegruppe für Transsexuelle. Sein Studentenpsychologe von der Uni half ihm dabei, die erforderlichen medizinischen Gutachten zu bekommen und durch die Freunde aus der Gruppe wusste er auch sehr schnell, wer die knifflige Operation von Frau zu Mann vornehmen konnte. Nachdem sich Tim dem medizinischen Dienst seiner Krankenkasse vorgestellt hatte, bekam er die Kostenzusage und fuhr zur Operation nach Frankreich. Sein Psychologe war eng mit dem Leiter der Kasse befreundet, welcher auch gar keine Schwierigkeiten darin sah, dem erfolgversprechenden Studenten im vorletzten BWL-Semester diese Operation zu genehmigen. Im Gegenteil. Der welterfahrene Mann verstand sofort, wie ernst es für Tim war und zeigte großes Verständnis für dessen Schicksal. Jürgen von Wichern lud den neuen Freund zu sich ein und erfuhr auf diese Weise alles über sein eigenes Problem. Nach den Gesprächen lag er noch lange im Bett wach. Er dachte an sein bisheriges Leben. Was ihm Tim erzählte, konnte er fast eins zu eins auf sich selbst übertragen. Jürgen wollte plötzlich nur noch Abstand von seinem Beruf und auch von Köln. Kurzerhand packte er die Koffer, fuhr drei Wochen an die kroatische Adria in den Urlaub und war sich, als er heimkam, sicher, ebenfalls transsexuell zu sein. Er hatte sich zwischenzeitlich Informationen darüber aus dem Internet geholt und besorgte sich, wieder zuhause in Köln, Fachbücher. Seine merkwürdigen unergründlichen Gefühle und Wünsche, die er seit frühester Jugend in sich verspürt und die ihn oft sehr geängstigt hatten, bekamen auf einmal einen Sinn. Tim beendete das Bachelor-BWL-Studium mit guten Noten und schrieb Jürgen vor einigen Monaten eine begeisterte Mail von seinem neuen Arbeitsplatz. Er hatte sich alle Zeugnisse umschreiben lassen und arbeitete nun erfolgreich in männlicher Rolle für eine Ratingagentur im Banken- und Geschäftsviertel von New York. Jürgen schluckte schwer, als er die Mail las. Er hatte sich zwar schon Gedanken über einen Geschlechtswechsel gemacht, es aber noch nicht gewagt, Schritte dazu auch in die Realität umzusetzen. So beließ er es zunächst dabei, nur davon zu träumen. Doch vor zwei Monaten hatte er sich einen Ruck gegeben und war zum Shoppen nach Dortmund gefahren.

In den Kaufhäusern erwarb er völlig unerkannt Damenunterwäsche und Kleidung in seiner Größe. Das Schicksal war ihm gnädig, denn mit 1,75 m Körpergröße würde er in weiblicher Rolle kaum auffallen. Jürgens Hobbys lagen sehr im sportlichen Bereich. Er ruderte im Sommer und gehörte dem Verein bereits seit seiner Studentenzeit an. In den Wintermonaten trainierte er begeistert Eiskunstlauf. Sein schlanker durchtrainierter Körper wies kein Gramm Fett zu viel auf. Zu Hause warf er die Einkaufstüten aufs Bett und danach wurde aus dem Staranwalt Jürgen die hübsche Studentin Annette. Er brauchte nicht lange, um einen weiblichen Namen auszuwählen. Seine Mutter hatte ihm vor vielen Jahren erzählt, dass sie sich nach seinem Bruder Martin sehnlichst ein Mädchen gewünscht hätte und es auf die Namen Annette Christin taufen lassen wollte. Nach vierzig Lebensjahren im falschen Geschlecht könnte sich dieser Wunsch nun endlich erfüllen, wenn er den Mut aufbrächte, sein bisheriges Leben zu beenden, um als Annette noch einmal ganz von vorn anzufangen. Das Transsexuellengesetz bereitete ihm keine Sorgen. Schließlich war er Rechtsanwalt von Beruf. Jürgen überlegte, ein Doppelleben zu beginnen und sich irgendwo in einer anderen Stadt im Ruhrgebiet eine zweite Wohnung zu kaufen. Eine Wohnung, in der er am Wochenende nur als Frau lebte. Innerhalb der Woche würde er dann wieder in Köln sein und als Jürgen seine Kanzlei führen. Er dürfte sich in der Zweitwohnung weiblich kleiden, schminken, vielleicht zur Sicherheit, um nicht erkannt zu werden, eine Perücke tragen und in der Öffentlichkeit als Frau am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Zu mehr war Jürgen noch nicht bereit. Die Kanzlei aufzugeben, sein Lebenswerk zu beenden, dazu fehlte ihm die Kraft. Sich als Frau zu outen und zu versuchen, mit der Kanzlei einfach weiterzumachen, war nicht möglich und hätte den gesellschaftlichen Abstieg zur Folge gehabt. So entschied Jürgen sich dafür, seine weibliche Seele vorerst nur Schritt für Schritt zu leben. Nachdem er sich das entsprechende Outfit zugelegt hatte, suchte er im Internet nach Selbsthilfegruppen. Natürlich konnte er keine in seinem Wohnort in Köln nehmen. Aber die Entfernungen im Rhein-Ruhrgebiet ließen sich mit dem Auto schnell überbrücken. Er schrieb die erste Mail an Ines. Diese leitete die Gruppe in Duisburg. Die war weit genug weg von seinen Geschäftspartnern und doch noch relativ unproblematisch mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Annette schmunzelte. Schön! Bislang war alles gut gegangen. Ihr erster Auftritt als Frau in der Öffentlichkeit verlief hervorragend, auch wenn es sich um eine eigens als Treffpunkt für Transsexuelle bekannte Gaststätte handelte. Mit Lisa hatte sie sogar auf Anhieb eine nette Freundin gefunden. Ihr Lächeln verschwand von den Lippen.

Vater! Es gab noch einen weiteren, gewichtigen Grund, der es ihr unmöglich machte, sich als Frau zu outen: Ihre Familie. In diesem Fall war es ihr Vater Friedrich, dem sie schon als Kind nichts recht machen konnte. Er hatte ihr stets den ein Jahr älteren Bruder Martin vorgezogen. Martin war ein Junge, wie ihn sich der konservative Vater wünschte. Hart und männlich. Jürgens weibliche Züge irritierten den Fabrikbesitzer, Reeder und Senator. Für den Vater verbog sich Jürgen. Er lernte Klavier spielen, obgleich er nicht musikalisch war und studierte dann Jura, obwohl er eigentlich Englisch- und Geschichtslehrer werden wollte. Für Friedrich von Wichern spielte er den harten Kerl, segelte Regatten und verzichtete auf seine große Liebe: Den Pferdesport. Als kleiner Junge wünschte er sich ein Pony und bekam es. Allerdings mit der Auflage, Springreiten zu trainieren, um als junger Mann später am Deutschen Springderby in Hamburg teilnehmen zu können. Jürgen weinte sich nächtelang in die Kissen. Er hatte Angst vor den hohen Sprüngen und sein Talent, welches auch seine Tante erkannte, die sehr erfolgreich in Dressurprüfungen war, lag viel mehr in der Dressur. Als der Vater davon hörte, ärgerte er sich derart, dass er das Pony gleich wieder verkaufte. Sein Sohn würde sich entweder im Springsport einen Namen machen und ein richtiger Mann werden oder er könne sich die Reiterei gleich aus dem Kopf schlagen. Selbst Jürgens Mutter schaffte es nicht, den Vater umzustimmen, trotz namhafter großer männlicher Dressurreiter, von denen einer sogar Olympiasieger geworden war. Der Einzug in das Kölner Studentenzimmer stellte Jahre später eine große Erleichterung für Jürgen dar. Annette schüttelte sich und das Bild des Vaters verschwand wieder aus ihrem Kopf. Ein leichter Luftzug wehte durch die kleine Damenrunde in der Duisburger Kneipe. Es hatte draußen etwas zu schneien angefangen. Eine junge Frau, die für das kurzzeitige Öffnen der Tür und die dadurch hereinströmende Kälte verantwortlich war, betrat das Lokal. Sie zog ihren Mantel aus, hängte ihn an die Garderobe gleich neben dem Eingang, nahm ihre Handtasche und grüßte freundlich den ältlichen, adipös wirkenden Wirt, während sie zielsicher auf die Damenbank zustrebte. Das muss Ines sein, schoss es Annette durch den Kopf. Wie leicht und locker sie sich in ihrem Rock doch bewegte! Eine Frau und Dame vom Scheitel bis zur Sohle. Annette schluckte wieder. Man sah Ines überhaupt nichts an. Und ihre Stimme? Jetzt fühlte sie eine Spannung in sich, gegen die die Ziehung der Lottozahlen bei inzwischen fünf Richtigen und der Aussicht auf einen Millionengewinn zur unwichtigsten Nebensache der Welt wurde. „Einen schönen guten Abend alle miteinander. Wer hat denn dieses furchtbare Wetter mitgebracht?“ Die junge Frau klopfte einmal mit der Hand auf den Tisch, um sie dann Annette freundlich entgegenzustrecken. „Hallo, ich bin Ines und du musst Annette sein. Ich freue mich sehr, dich hier bei uns begrüßen zu dürfen!“ Annette erwiderte den Gruß völlig apathisch und hauchte nur ein leises: „Ja, die bin ich, vielen Dank für die Einladung.“ Mehr brachte sie im Augenblick nicht heraus. Ines war einfach faszinierend! Ihre Stimme klang hell und warmherzig, wie die einer völlig normalen Frau. Kein einziger verräterischer Ton lag darin.

Lisa verzog unmerklich die Mundwinkel. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie und begann sein Eigenleben zu entwickeln. Ines war perfekt, das merkte jeder, der sie zum ersten Mal erlebte und von ihrer Vorgeschichte wusste. Ich bin doch nicht etwa eifersüchtig? Ungläubig lehnte sich Lisa zurück und betrachtete die erstaunte Annette. Sie steht erst am Anfang, dachte Lisa, und sieht jetzt schon so gut aus. Wie würde das in zwei oder drei Jahren sein, wenn sie ihre ersten Berührungsängste verloren hätte und in psychotherapeutischer Behandlung wäre?, überlegte sie. Das Gefühl, diese tiefe innere Gewissheit, kein Mann, sondern eine Frau zu sein, würde ihr kein Psychologe der Welt nehmen können. Es war das untrügliche Anzeichen einer transsexuellen Prägung. Die Therapie zielte somit auch nicht darauf ab, den Patienten wieder „umzukehren“, ihn also mit dem biologischen Geschlecht auszusöhnen. Solche Versuche endeten regelmäßig in einem Fiasko. Der Therapeut sollte deshalb nur eine geistige Erkrankung ausschließen und schauen, ob vielleicht eine Psychose vorlag, in deren Verlauf der Patient plötzlich glaubte, eine Frau zu sein. Nähme er dann eine Geschlechtsanpassung vor und erwachte nach einiger Zeit wieder, würde er feststellen, was inzwischen geschehen war. Für einen gesunden Mann könnte eine Operation in so einem Fall natürlich das Todesurteil bedeuten. Ein guter Therapeut würde, wenn er als Mediziner, studierter Psychologe oder als Psychiater arbeitete, derartige Erkrankungen erkennen. Bei Mann zu Frau Transsexuellen waren Transvestismus und weibliche Homosexualität von Transsexualität abzugrenzen. Niemand, der sich als Mann erlebte und mit seinem männlichen Geschlechtsteil zufrieden war, käme auf die Idee, sich dieses entfernen zu lassen. Nur wirkliche Transsexuelle waren in der Lage, derartige Gedankenspiele in die Realität umzusetzen. Aber der Weg dahin gestaltete sich schwer und lag mit Steinen und Tränen gepflastert vor dem Patienten. Wer sich zu diesem letzten unwiderruflichen Schritt entschlossen hatte, lief Gefahr, alles zu verlieren. Lisa wusste genau, was solch nüchternes medizinisches Fachwissen für das Leben einer Transsexuellen bedeutete. Sie durfte ihre Erfahrungen im familiären Bereich bereits machen. Ihre Eltern und der Bruder hatten ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie einen derartigen Weg aufs Schärfste verurteilen würden. Lisas Bruder Dirk hatte ihr Prügel angedroht, für den Fall, dass sie es jemals wagen sollte, in Frauenkleidern zu Hause aufzutauchen. Lisa lebte, ganz auf sich allein gestellt, in einer billigen Zweizimmerwohnung im ärmsten Stadtteil Duisburgs. Ihr Job als Lagerarbeiter im Getränkegroßhandel sicherte ihr ein geringes Einkommen. Niemand in der Firma ahnte freilich etwas von ihrem Problem und das aus gutem Grund. Lisa war sich voll bewusst, dass ihr Outing die sofortige Kündigung am Arbeitsplatz zur Folge haben musste. Still saß sie neben Annette und hörte ihr zu. Die Lebensschicksale gestalteten sich doch bei den meisten ähnlich, erkannte Lisa. Sie konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken. Das Leben war schon ungerecht. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn sie ohne männliche Geschlechtsteile geboren worden wäre und die Männer fuhren für die Operation sogar bis nach Frankreich, um welche zu bekommen. Verrückte Welt! Gefährliche Welt, dachte sie und atmete aus.