Die Prinzessin ist ein Prinz
von Manuel Magiera
Wie werden wir Junge oder Mädchen?
Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind wieder ein Kind im Alter von drei bis vier Jahren. Die Welt um Sie herum erscheint Ihnen bunt, sehr verwirrend und Erwachsene sind im Gegensatz zu Ihnen, Riesen.
Sie unterscheiden Ihre Eltern von den übrigen Verwandten und von ganz fremden Menschen. Auch die eine oder andere Kindergartentante haben Sie schon kennen gelernt. Man spricht Sie mit einem Namen an. Sie spüren Ihr eigenes Ich und von den anderen Menschen erfahren Sie viel über sich selbst, Schönes und manchmal weniger Schönes: „Was bist du nur für ein hübsches kleines Mädchen!“ Oder: „Martin, du ungezogener Junge, stell die Schüssel hin und lauf nicht ständig weg!“
Sie analysieren die Aussagen. Dass Sie im Gegensatz zu den Großen klein sind, haben Sie bereits bemerkt. Aber hübsch sein, das hört sich nett an. Ungezogen weniger. Doch was ist eigentlich mit Mädchen und Junge gemeint ?, fragen Sie sich überrascht.
Unbewusst beginnen Sie Vergleiche zu ziehen. Sie sehen Ihre Mutter an, denken, ja, so bin ich auch. Oder, Sie begleiten Ihren Vater und merken, der ist wie Sie. Ihr Fazit: Ihre Mutter ist eine Frau, Sie ein Kind, deshalb müssen Sie ein Mädchen sein. Anders herum: Ihr Vater ist ein Mann und Sie sind in der logischen Folge ein Junge. Dabei stellen Sie fest: Die Welt um Sie herum wird viel klarer und Sie blicken immer mehr durch.
Aber was passiert mit Ihnen, wenn Sie sich mit Ihrem Vater identifizieren und somit eigentlich ein Junge sind, die Erwachsenen, allen voran Ihre Eltern, Sie jedoch wie ein Mädchen behandeln? Umgekehrt sehen Sie sich wie Ihre Mutter, sind deshalb ein Mädchen und werden von den Großen ständig für einen Jungen gehalten. Mit all den Konsequenzen, die das für ein so kleines Wesen wie Sie es sind, hat.
Angefangen mit dem Vornamen, gefolgt von der Kleidung, den Spielsachen und der Entscheidung, in welche Dusche oder Umkleidekabine Sie im Schwimmbad gehen dürfen. Die Toilette nimmt ebenfalls einen bedeutsamen Platz in Ihrem Leben ein, sobald Sie sich von Ihren Windeln verabschiedet haben.
Wenn Sie also ein solches Kind sind, herzlichen Glückwunsch. Sie haben die Arschkarte gezogen. Die Welt um Sie herum wird keinesfalls klarer, je älter Sie werden. Nein, sie wird noch verwirrender.
Sie stehen von morgens bis abends neben sich. Die Erwachsenen, denen Sie verzweifelt versuchen, klarzumachen, dass diese mit ihrer Geschlechtszuweisung bei Ihnen völlig auf dem Holzweg sind, ignorieren Ihre vernünftigen Einwände. Für andere Menschen zählt nur das biologische Geschlecht und das ist bei Ihnen nun mal weiblich oder männlich und steht ganz im Gegensatz zu Ihrer eigenen Wahrnehmung.
Es hilft nichts. Sie müssen die Kleidung tragen, die Ihre Eltern Ihnen geben. Wenn Sie als gefühlter Junge Glück haben, dürfen Sie mal eine Hose anziehen. Vielleicht bekommen Sie sogar das gewünschte Auto oder die heißersehnte elektrische Eisenbahn.
Aber als gefühltes Mädchen werden Sie Ihre Eltern mit der Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent vergeblich darum bitten, Ihnen ebenfalls ein so hübsches Kleidchen anzuziehen, wie es Ihre Schwester trägt.
Sie sind ein Mädchen, das sich mit einem Jungenkörper herumschleppen muss. Oder sie sind ein Junge, der in einem Mädchenkörper gefangen gehalten wird. Nichts passt. Psyche, eigenes Gefühl und Erleben und das äußere biologische Geschlecht klaffen kilometerweit auseinander.
Sie fangen an zu glauben, das wächst sich alles noch hin. Sie erzählen Ihren Eltern immer wieder, dass Sie anders sind als die anderen Kinder. Wenn Sie Glück haben, hören die Ihnen irgendwann zu. Und wenn Sie noch größeres Glück haben, werden Sie einem Arzt vorgestellt, der das Dilemma erkennt, in dem Sie stecken.
Nun brauchen Sie nur noch beharrlich zu wiederholen, dass Sie kein Mädchen beziehungsweise Junge sind, sondern im gegenteiligen Geschlecht gefangen gehalten werden.
Lassen Sie sich dabei nicht durch die Großen beirren. Sie haben es erst einmal geschafft, zumindest für den Anfang. Man wird Sie als geschlechtlich gestört, transsexuell, transidentisch oder als alles Mögliche andere bezeichnen.
Das soll Sie aber nicht weiter stören. Es ist nur wichtig, dass man Ihnen erlaubt im selbst erlebten Geschlecht aufzutreten. Ihre Körperlichkeit rutscht damit vorerst in den Hintergrund. Inzwischen gibt es Medikamente, die die Pubertät solange unterdrücken, bis Sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Mit spätestens achtzehn Jahren entscheiden Sie über die Einnahme gegengeschlechtlicher Hormone und operative Maßnahmen selbst.
Kinderzeit- glückliche Zeit?
Ich hatte furchtbare Bauchschmerzen. Nach vorn gebeugt und stöhnend schleppte ich mich zur Toilette. Die Hände drückten auf den verkrampften Unterleib. Irgendwie schaffte ich es, mir die Hosen auszuziehen und mich auf die Klobrille zu setzen. „Oh!“ Der Atem kam nur stoßweise. Solche Schmerzen waren mir in meinem bisherigen zwölfjährigen Leben noch nie untergekommen.
„Maximiliane, bist du da drinnen?“ Mia klopfte gegen die Tür.
Die Antwort konnte ich gerade noch keuchen. „Ja, das tut so weh. Komm bitte herein, es ist auf.“
Unser Hausmädchen stand im nächsten Augenblick neben mir.
„Da läuft Blut zwischen meinen Beinen heraus. Mia, du musst den Arzt holen, ich sterbe“, jammerte ich kläglich.
Sie strich mir zärtlich übers Haar. „Nein, mein Schatz. Du stirbst nicht. Das ist normal und passiert ab jetzt jeden Monat einmal. Du bist nun eine Frau, kleine Prinzessin.“
Sie gab mir Papier zum Abwischen und reichte mir eine dicke Hygienebinde. „Leg dir das in den Slip und geh ins Bett. Ich bringe dir eine Wärmflasche. Wenn deine Mutter von ihrer Besorgung in der Stadt zurück ist, gebe ich ihr Bescheid. Sie muss entscheiden, ob du eine Tablette gegen Regelbeschwerden einnehmen darfst.“
Seufzend schlich ich mich nach dem Toilettengang in mein Kinderzimmer zurück.
Natürlich starb ich nicht. Und doch, in gewisser Weise schon. Heute war nun geschehen, was eines Tages geschehen musste. Nach dem Sexualkundeunterricht in der Schule hatte mich meine Mutter vor einigen Wochen zur Seite genommen und aufgeklärt. Da gab es kein Herumreden über Bienchen oder Blümchen. Irgendwann, so ab dem zwölften Lebensjahr, setzte bei einem Mädchen die Pubertät ein und das bedeutete eine Brust und monatliche Blutungen.
Was für die meisten Mädchen in meiner Klasse völlig normal war, kam bei mir einer Katastrophe gleich. Solange ich denken konnte, wollte ich ein Junge sein. Meine Erinnerung reichte bis ins dritte Lebensjahr zurück.
Ich tobte durchs Schloss, spielte mit Autos, Eisenbahnen und Fußball mit den Söhnen des Hausmeisters. Meine Puppen führten ein bedeutungsloses Leben und lagen in einer fest verschlossenen Kiste in einem Schrank meines Zimmers. Mein Lieblingsspielzeug war der Gameboy, den ich von meinem älteren Vetter abgestaubt hatte, dicht gefolgt von der riesigen elektrischen Eisenbahn meines Vaters, die einen großen Teil des Dachbodens einnahm.
Mein bester Freund Jacob war der Sohn unseres Försters. Wir wuchsen gleichaltrig zusammen auf und ich verstand in den ersten Lebensjahren nie, warum Jacob Hosen trug und ich Kleider anziehen musste. Ich war schließlich wie er.
Im Dorf gehörte ich seit meinem sechsten Lebensjahr dem Fußballverein an und hatte Glück, dass es mangels Interesse keine Mädchenmannschaft gab. Ich kickte inzwischen mit großem Erfolg bei den Buben in der D-Jugend. Ab der C-Jugend müssten meine Eltern ihre schriftliche Einwilligung geben, wie unser Trainer schweren Herzens erzählte. Und nach der A-Jugend durften Mädchen nur noch in Damenmannschaften spielen, so war es Gesetz beim DFB.
Scheißgesetz! Warum machten die Leute so etwas Bescheuertes? Ich war doch ein Junge, auch wenn mein Körper dagegen sprach. Warum ist das Leben so schwer? , fragte ich mich mehr als einmal.
Ich war schließlich privilegiert geboren worden! Jedenfalls hörte ich das stets von meiner Mutter, wenn sie von mir mehr Haltung und Würde erwartete. Mein Benehmen ließ in der Tat manchmal sehr zu wünschen übrig und gehörte keinesfalls zu einer jungen Prinzessin und in meinem Fall zur einzigen Tochter des Markgrafen Maximilian Ernst von Wildenstein.
Ich wünschte mir nichts sehnlicher als ein normaler Junge sein zu dürfen und mir wäre es recht gewesen, wenn mein Vater als Bürgerlicher im Knast sitzen würde. Den adeligen Stammbaum hätte ich sofort mit Freuden gegen ein gewöhnliches Jungenleben eingetauscht.
Mia half mir ins Bett und verschwand gleich darauf. Ich konnte Gerhards Stimme hören. Das Auto mit meiner Mutter hatte vor der Haupttreppe angehalten. Gerhard war unser Chauffeur. Er rief unseren Hausmeister Dietrich herbei und zeigte sicherlich wie immer auf die vielen Taschen und Pakete im Kofferraum. Der alte Dietrich seufzte danach gewöhnlich laut auf.
Wahrscheinlich war er gar nicht so alt. Für mich gab es nur junge Menschen in meinem Alter und Leute über Zwanzig. Die waren in meinen Augen senil und die meisten davon scheintot.
Weitere Stimmen, darunter auch Mias, drangen zu mir ins Kinderzimmer hinauf. Einen Moment später trat meine Mutter an mein Bett. Sie lächelte, nahm meine Hand und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
„Meine kleine Prinzessin. Du bist heute zur Frau geworden. Ich gratuliere dir, meine Süße. Das ist ein bedeutender Tag im Leben eines jungen Mädchens. Bauchschmerzen hatte ich auch immer, als ich in deinem Alter war. Damals gab es bereits gute Tabletten gegen Regelbeschwerden. Mia bringt dir gleich etwas. Ich rufe Doktor Zubrücken an und vereinbare einen Termin für uns. Er soll dich frauenärztlich untersuchen, sobald deine Periode durch ist. Vielleicht kennt er noch andere Mittel gegen die Schmerzen. Eventuell eine niedrig dosierte Pille oder Ähnliches. Wir werden ihn auf jeden Fall konsultieren.“
Ich sparte mir die Antwort. Meine Mutter war eigentlich ganz okay. Sie wollte modern und aufgeschlossen sein und überließ nichts dem Zufall. Und sie hörte gerne auf ärztlichen Rat.
Sie blickte sich um und das Lächeln verschwand augenblicklich. Missbilligend legte sich ihre Stirn in Falten. Ich ahnte den Grund. In meinem Zimmer war wohl seit ewigen Zeiten nicht mehr aufgeräumt worden. Jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern, jemals hier richtig aufgeräumt zu haben. Solange ich fand, was ich suchte, erschien es mir nicht nötig, etwas am Zustand meines privaten Reiches zu ändern.
„Mia wird dir bei nächster Gelegenheit helfen und dann wird dieser Stall mal entrümpelt! Kind, wie kannst du in solch einer Unordnung leben? Wie willst du jemals einen anständigen Mann finden und deinen eigenen Haushalt führen, wenn du nicht einmal in der Lage bist, ein einzelnes Zimmer in Ordnung zu halten? Weißt du, wie viel Arbeit die vielen Räume unseres Schlosses machen?“
Ich stöhnte auf. Eine neue Welle Bauchschmerzen rollte auf mich zu, die allerdings nicht von der Regel herrührte. Nein, bitte nicht! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Nur nicht wieder die alte Leier! Ständig hielt mir meine Mutter meine Unordnung unter die Nase. Ich konnte doch nichts dafür. Ich war halt zum Messi geboren.
„Bei Vater sagst du nie etwas. Er ist genauso ein Chaot wie ich, aber er findet alles wieder, was er braucht und sucht. Und das tue ich auch. Mum, ich bin keine Prinzessin, sieh es endlich ein. Wenn überhaupt, bin ich ein Prinz und mit dem Namen Max ist alles okay. Ich bin ein Junge und ich möchte als Junge leben. Und ich bin unordentlich und ich möchte unordentlich bleiben. Und… ich fühle mich damit genauso wohl wie Dad.“
Meine Mutter schüttelte wie erwartet entnervt den Kopf. Die englischen Bezeichnungen fand ich einfach cool. Weil wir Verwandte in Britannien hatten, bemühte ich mich immer, gebildet zu erscheinen und etwas Englisch in unsere Gespräche einfließen zu lassen.
„Ach, Maxi, was mach ich nur mit dir?“
Ich setzte meine beste Unschuldsmiene auf. „Ich weiß auch nicht, Mami, aber vorhin, als ich das schreckliche Blut aus meinem Körper kommen sah, wäre ich am liebsten gestorben. Mir fehlt das Teil, das zu einem Jungen gehört. Mein Körper und mein Gefühl passen nicht zusammen. Da muss bei meiner Geburt irgendetwas vollkommen falsch gelaufen sein.“
Mutter sah mich traurig an und ging. Am frühen Abend konnte ich mich dank ihrer Medikation wieder etwas bewegen. Also trieb ich mich wie gewöhnlich im Stall herum und besuchte mein Pony Chester. Ich sprach leise mit ihm. Chester und ich waren die dicksten Freunde. Er kannte meine ganze Lebens- und Leidensgeschichte und er besaß, was ich nicht hatte: Einen Penis.
Sicher, er wusste nichts davon, dass er mal als Hengst zur Welt gekommen war und irgendjemand dem armen Kerl im Babyalter die Männlichkeit geraubt und ihn zum Wallach gemacht hatte. Wir beide aber waren auf diese Weise verhinderte und irgendwie auch behinderte Jungen geworden. Und das gemeinsame Schicksal schweißte uns aneinander.
Ein Geräusch, ich zuckte zusammen. Papa stand plötzlich hinter mir in der Box. Schreck lass nach, ich atmete tief durch. Aber es war alles paletti. Ruhe, Max, dachte ich. Es ist seine Zeit. Er machte abends immer seinen Rundgang im Pferdestall, wenn er nicht selbst ritt.
Doch etwas war heute Abend anders mit ihm, das konnte ich deutlich spüren. Er legte nachdenklich den Arm um mich, was er sonst nie tat. Seine Hand drückte dabei fest auf meinen Nacken. Verwundert blickte ich zu ihm hoch.
Mein Vater gab äußerlich tatsächlich das Bild eines Grafen ab, so wie es sich viele Menschen vorstellten. Hochgewachsen, schlank, muskulös, mit einem sonnengebräunten Gesicht durch die viele Arbeit auf den Feldern und in unserem Wald, stand er neben mir in der Haltung eines stolzen Edelmannes, aus der Zeit als Bayern noch Königreich war.
Meine Mutter erzählte mir, dass sie sich auf Anhieb in ihn verliebt hatte, obwohl es eine arrangierte Ehe war. Adel kam in diesem Fall zu verarmtem Adel. Mutter war eine Baronesse von Scheele. Ihr elterliches Gut blieb in Ostpreußen zurück und nach dem Krieg stand die Familie buchstäblich vor dem Nichts. Da kam die Ehe mit meinem Vater gerade richtig.
Entgegen seiner Gewohnheiten schmuste er heute nicht mit mir. Es stand plötzlich etwas Unbekanntes zwischen uns. Respekt, Achtung und… eine besondere Form von Liebe. Das gefiel mir. Ungewohnt, aber schön. Die Art seines Umgangs beschrieb Klarheit, Geradlinigkeit, wie auf einer Offiziersschule. Ich musste unwillkürlich lächeln.
Vater war Hauptmann der Reserve bei der Bundeswehr. Behandelte er mich nicht gerade wie einen Kadetten? Ich versuchte, genauso männlich und gehorsam wie ein junger Rekrut zu wirken.
„Chester ist in guter Form. Wenn wir weiter hart trainieren, werden wir uns auf dem Turnier passabel schlagen. Eine Schleife und Platzierung sollten diesmal drinnen sein“, bemerkte ich siegesgewiss und klopfte meinem Pferd zärtlich den Hintern.
„Komm nach dem Abendessen mit deinem Wochenplan zu mir ins Arbeitszimmer. Wir werden einiges umstellen, du brauchst mehr Zeit mit ihm. Wieweit ist das Taekwondo-Training? Du musst sicher in den Griffen und Tritten sein, damit du dich im Kampf mit anderen Jungen schützen kannst. Etwas Drill und militärischer Gehorsam kann zudem nie schaden. Ich werde dir Unterricht geben, wie ich ihn selbst im Internat erhalten habe. Du wirst als Junge den Titel eines Grafen von Wildenstein tragen. Das ist eine große Verantwortung, denn du erbst die Firma. Du bist dann Arbeitgeber für hundertzwölf Menschen und ihre Familien. Adel verpflichtet, Max. Das ist nicht nur eine hohle Floskel.“
Vater sah mich ernst an. Uff, waren das Töne! So kannte ich meinen alten Herrn gar nicht. Der behandelte mich tatsächlich wie einen Jungen! So sprach ein Vater mit seinem Nachfolger.
Waas? Ich war weiblich, zumindest körperlich, da biss nun mal keine Maus einen Faden ab und unser Hausgesetz erforderte strikt die männliche Erbfolge. Vater war nach unserem Gespräch längst weiter in den Stutenstall gegangen. Da stand ich nun wie vom Blitz gerührt mit großen Augen und offenem Mund.
Ich kämpfte jetzt seit meinem dritten Lebensjahr darum, ein Junge sein zu dürfen, und er hatte das stets ignoriert. Keiner hatte mich bisher ernst genommen. Was war bloß in ihn gefahren? Das unausgegorene Gespräch mit meiner Mutter vom Mittag fiel mir ein. Sollte sich Mutter mit ihm unterhalten haben? Hatte sie ihre Meinung vielleicht geändert? Eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad gemacht?
„Max, du sollst ins Haus kommen und dich waschen. Es gibt Abendessen!“
Ich blickte automatisch in die Richtung, aus der die Stimme kam. Robert rief mir die Botschaft über die Stallgasse zu. Er war einer unserer drei Stallburschen. Ich gab Chester noch schnell einen Kuss auf die Nüstern und warf ihm frisches Heu in die Box.
Eine Viertelstunde später stand ich um sieben Uhr in sauberen Hosen und mit gewaschenen Händen im Esszimmer. Für uns war durch mehrere Raumteiler ein gemütliches Zimmer entstanden, welches trotzdem noch sehr groß erschien. Die lange Tafel erinnerte an Zechgelage auf einer Ritterburg aus längst vergangener Zeit.
Wildenstein war im sechzehnten Jahrhundert von einem meiner Vorfahren als Raubritterburg gebaut worden. Meine Ahnen waren ziemlich blutrünstig gewesen, hatten als Ritter für Könige und deutsche Kaiser gekämpft. Das brachte dem Chef des Hauses im siebzehnten Jahrhundert den Titel eines Markgrafen und Burg Wildenstein als Lehen ein. Nach einem großen Brand 1760, ließen sie das Gut wiederaufbauen.
Aber die einstige Ritterburg wich einem schlossähnlichen Gebäude, das jetzt unter Denkmalschutz stand und Unmengen an Geld verschlang, wie ich meinen Vater oft stöhnen hörte. Der Bankier aus unserer Kreisstadt gehörte fast schon zur Familie.
Gewohnheitsmäßig ging ich erst zu Mutter an den Tisch. Sie sah unauffällig auf meine Finger und nickte mit dem Kopf. Ich durfte mich setzen. Mutter nickte mir abermals zu.
„Herr Jesus, wir danken dir für diese Speisen. Komm, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Und hilf allen Menschen auf der Erde genug Nahrung zu bekommen und satt zu werden. Amen.“
Das Tischgebet gehörte als fester Bestandteil zu unserem Leben. Wir waren katholisch, wie in Bayern üblich. Und es galt als selbstverständlich, dass ich als Kind das Gebet sprach. Wobei ich leider das einzige Kind war und diese Aufgabe nicht weiter nach unten delegieren konnte. Aber ich hatte mich inzwischen damit arrangiert.
Mia kam herein, reichte Vater die Suppe, der die schwere Terrine einen Moment später an Mutter weitergab. Ich hielt ihr, wie immer, meinen Teller vor.
„Nein, Adelheid, lass ihn sich selbst auffüllen. Er ist kein Kind mehr und muss lernen, sich wie ein Erwachsener zu benehmen.“
„Du hast recht, Liebling“, hörte ich meine Mutter antworten. Ich verstand gar nichts mehr. Was in aller Welt war in die Erwachsenen gefahren? Waren meine Eltern auf einmal plemplem geworden? Ich nahm die schwere Schüssel, die ich gerade noch so eben halten konnte und füllte mir eine Kelle köstlich duftender Spargelsuppe auf. Hatte ich mich verhört oder sprach mein Vater tatsächlich in der männlichen Form von mir? Verwirrt aß ich betont konzentriert meinen Teller leer und bemühte mich beim Hauptgang keine unpassenden Geräusche zu machen. Es gab Rehrücken. Vater hatte den Bock bei der letzten Jagd geschossen. Das Wildbret schmeckte ausgezeichnet. Der Nachtisch in Form von Erdbeereis fand schnell seinen Weg in meinen Magen.
Es galt ebenfalls in unserer Familie als selbstverständlich, dass bei Tisch nur das Nötigste gesprochen wurde. Mit mehr als fünf Pfund im Mund sollte man nicht mehr reden, pflegte meine Erzieherin Ludovika immer zu sagen. Ich dachte traurig an das ältliche Fräulein, das mich die ersten Lebensjahre fast noch liebevoller betreut hatte, als meine Mutter. Freiin Ludovika war vor einem halben Jahr gestorben und hatte eine große Lücke in meinem jungen Leben hinterlassen.
„Nun denn. Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Hast du deinen Wochenplan dabei, Max?“ Ich schrak auf. Ja, hatte ich. Mein Stundenplan glich eigentlich dem eines Topmanagers. Freizeit war darauf ein Fremdwort. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Spielen für die kindliche Entwicklung wichtig sei. Bei mir schien in dieser Hinsicht etliches anders zu laufen.
„Ja, Vater. Ich habe ihn hier.“ Ich stand auf und wollte bereits losgehen, als sich meine Mutter zu Wort meldete.
„Maximilian, du willst doch gerne ein Junge sein oder habe ich da etwas falsch verstanden? Als Mann gehört es sich, einer Dame den Stuhl zu rücken. Und Knaben können nicht früh genug damit anfangen, gutes Benehmen zu lernen. Ich warte, mein Sohn.“ Boar! Das war eine Ansage. Was war denn jetzt passiert? Ich schluckte schuldbewusst.
„Ja, Mutter, entschuldige bitte. Ich war unachtsam.“ Wie es sich gehörte, trat ich hinter sie und zog den Stuhl zur Seite, damit sie bequem aufstehen konnte. Nur nichts mehr falsch machen, ratterte es in meinem Kopf. Schnell schob ich mich vor meine Mutter und hielt ihr, wie ein junger Gentleman, die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters auf. Der schmunzelte.
„Geht doch“, meinte er und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. Ich half meiner Mutter in den Sessel. Vater lächelte immer noch. Gespannt setzte ich mich und wartete auf die Dinge, die da kommen sollten. Mutter sah mich liebevoll an.
„Max, wir haben dich sehr lieb und wir wollen nur das Beste für dich. Natürlich haben Papa und ich seit langer Zeit mit Sorge bemerkt, dass du ein Problem mit deinem weiblichen Geschlecht hast. Ich habe nach unserem Gespräch heute Mittag meine Freundin Christine angerufen. Sie ist Psychologin, wie du weißt.“ Ja, wusste ich. Eigentlich ‘ne ganz Nette.
Sie kam uns ein paarmal besuchen und wäre dabei einmal fast in den Schlossteich gefallen, als ich ihr zeigen wollte, wie man die Karpfen mit dem Catcher fangen konnte. Aber sie hatte mich nicht verraten und gesagt, dass sie selbst zu nah ans Wasser gegangen war und dadurch nasse Schuhe bekommen hatte.
„Nun, Christine erklärte mir, dass es eine solche, wie sie sich ausdrückte Geschlechtsidentitätsstörung, tatsächlich gibt und die Ärzte dies in der Regel als Transsexualität oder Transidentität bezeichnen. Es ist das sichere innere Gefühl, im falschen Geschlecht geboren zu sein.“ Ich starrte meine Mutter an.
„Ja, das sag ich doch, Mum!“ Erschrocken schwieg ich im nächsten Augenblick, ich wollte nicht vorlaut wirken. Aber Mutter lächelte. Okay, alles paletti.
„Christine bestätigte mir, dass bereits Kinder in sehr jungen Jahren wissen, dass sie dem anderen, als ihrem Geburtsgeschlecht angehören. Sie gab mir die Telefonnummer einer Kollegin in München, die dort als Kinder- und Jugendpsychologin tätig ist und darüber hinaus eine Nummer aus Hamburg. Dort gibt es eine Praxis, die Kindern und Eltern in solchen Fällen medizinisch hilft. Vater und ich sind übereingekommen, den geraden ärztlichen Weg zu gehen und Hilfe zu suchen, anstatt selbst herumzudoktern. Christine gab mir den Rat, zunächst auf dich einzugehen und deinem Wunsch zu entsprechen. Wir sollen dich ernst nehmen. Das bedeutet also für uns und für dich, dass sowohl Vater als auch ich und alle anderen Personen im Schloss, dich künftig mit männlichem Vornamen ansprechen und dich wie einen Jungen behandeln, wenn du das möchtest. Ich lasse mir so bald als möglich Termine bei den Ärzten geben. Dann sind wir auf der sicheren Seite.“ Mutter blickte Vater zufrieden an.
Der wurde sehr ernst. „Ich denke natürlich genauso wie deine Mutter und bin froh, dass dein Problem, sagen wir‘s mal so, jetzt bei den Hörnern gepackt wird. Alles andere wäre erzieherisch falsch und würde mehr schaden als nützen. Allerdings gibt es einiges zu bedenken. Max, es ist ein Unterschied, ob du mein Sohn oder bitte nicht falsch verstehen, nur meine Tochter bist. Wir sind zwar menschlich nicht anders als alle anderen Leute, dennoch gibt es in Adelskreisen Besonderheiten. Das Hausgesetz gehört dazu. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass nur der älteste Sohn den Titel und das Schloss erbt. Bist du eine Tochter, darfst du dich mit Gräfin ansprechen lassen. Um dich testamentarisch als Schlosserbin einsetzen zu können, bedarf es aber der Zustimmung deines Onkels Ludwig. Als mein jüngerer Bruder würde er sonst Schloss und Titel bekommen, wenn ich kinderlos sterbe, also ohne Sohn und Erben. Onkel Ludwig hat mit deinem Vetter Hubertus einen Sohn, der wiederum in die nächste Erbfolge eintreten kann. Wir haben uns vor langer Zeit über dich und die Nachfolge unterhalten. Damals stand fest, dass deine Mutter keine weiteren Kinder haben wird und mir so ein Sohn verwehrt bliebe. Onkel Ludwig war damit einverstanden, dass du das Schloss erhältst und der Titel verfällt. Es ist in Deutschland so, dass Nobilitierungen nicht mehr vorgenommen werden, denn wir sind keine Monarchie mehr. Damit sterben Adelshäuser oft aus, wenn keine männlichen Erben geboren werden. In unserem Hausgesetz besteht die Möglichkeit, dass der Titel solange ruht, bis wieder ein männliches Kind zur Welt kommt. Du würdest also nicht selbst offiziell Gräfin Wildenstein werden, den Titel aber an deinen Sohn vererben dürfen. Das ist vom Namen des Vaters unabhängig, solange dieser adliger Abstammung ist.“
Meine Augen waren während Vaters Worte immer größer geworden und ich musste mir eingestehen, dass ich ungefähr nur ein Viertel davon verstand. Hubertus war mein Vetter. Sechzehn Jahre alt und ein ganz passabler Typ. Er spielte Fußball wie ich und ritt ganz ordentlich. Mein Onkel Ludwig arbeitete im Management eines bayerischen Autokonzerns. Ich mochte ihn. Die ganze Familie war relativ unkompliziert, nur Tante Friederike übertrieb zeitweilig. Aber mit Hubertus verstand ich mich gut und das schien mir die Hauptsache zu sein. Was das Ganze mit Erbe und Hausgesetze anging, war mir ehrlich gesagt, alles ziemlich Latte.
Ich versuchte dennoch ein interessiertes Gesicht zu machen. Wenigstens rangen sich meine Eltern endlich dazu durch, mich als das anzusehen, was ich war. Ein Junge, und kein Mädchen. Vater verzog die Lippen, als ob er mich verstanden hatte.
„Ich weiß, dass ist alles sehr schwer für dich zu begreifen. Du wirst in ein paar Jahren besser Bescheid wissen. Nur kommt eine Menge Verantwortung auf Dich zu, wenn du tatsächlich mein Sohn werden solltest. Max, das Leben als Mann stellt andere Anforderungen an dich als das Leben einer Frau. Mutter und ich wollen dir zunächst einmal, unabhängig von den ärztlichen Gesprächen, die Gelegenheit geben, herauszufinden, ob du wirklich als Junge leben willst und kannst. Mutter wird zeitgleich Termine bei den Ärzten einholen und wir wollen zuerst nach Hamburg fahren. Ich habe gelesen, dass man heute Kindern dadurch hilft, dass die biologische Pubertät durch eine Spritze unterdrückt wird und sich das Kind im gefühlten Geschlecht erst einmal entwickeln kann, ohne das körperliche Veränderungen in die eine oder andere Richtung geschehen. Wenn du volljährig bist, darfst du dich selbst entscheiden, als was du leben willst. Nur diese Entscheidung ist nicht mehr rückgängig zu machen, wenn du dich zur Operation entschließt. Aber da werden wir mit den Hamburger Fachärzten sprechen. Ich denke, das ist erst einmal alles für heute. Oder, Adelheid?“
Meine Mutter überlegte kurz.
„Ja, Max, dein Geschlechtswechsel wird zunächst nur hier zuhause stattfinden. Du darfst allerdings deine Sporttrainer einweihen. Sie können mich anrufen, wenn sie Fragen haben. Ich werde ihnen alles erklären. Mit der Schule bleibt es vorerst wie es ist, denke ich. Wir müssen zunächst mit den Ärzten sprechen und ich möchte unbedingt, dass dich die Kinderpsychologin sieht und uns berät. Wenn sie meint, dass du als Junge in die Schule gehen sollst, werden wir uns mit dem Direktor unterhalten.“
Vater und Mutter nickten einander zu.
„Darf ich ganz schnell zu Chester laufen und ihm die Neuigkeit erzählen?“, rief ich überglücklich aus.
„Klar“, hörte ich meinen Vater sagen, der mir meinen Wochenstundenplan abnahm, um ihn zu ändern. Ich rannte derweil die Treppe hinunter.
„Chester, ich bin endlich ein Junge!“ Tränen liefen mir übers Gesicht, als ich im Stall mein Pony drückte. Chester stupste mich mit seinen weichen Nüstern an, leckte über meine Wange und ließ seine Zunge in meine Jackentasche gleiten. Ein letztes Leckerli konnte ich ihm noch heraus pulen. Er schnaufte dankbar.
Mit dem Ärmel wischte ich über meine feuchten Augen. Oh shit. Ich war doch ein Raubritter und die kannten weder Schmerz noch Tränen. Mit zwölf Jahren lernte man damals als Knappe bereits Fechten. Ein Junge hatte nicht zu heulen. Okay, das musste ich mir also schnellstens abgewöhnen, wobei ziemlich viele aus meiner Klasse dicht am Wasser gebaut waren und schon bei Kleinigkeiten flennten.
Moritz zum Beispiel, war gestern mit dem Fahrrad auf die Schnauze gefallen und sein Gebrüll konnte man am anderen Ende des Dorfes hören. Der war Dreizehn! Nein, eine Memme würde ich nicht sein. Ich war hart im Nehmen und trug das Blut derer von Wildenstein in mir.
Chester bekam noch eine Handvoll Heu. Eine halbe Stunde später lag ich als der künftige Markgraf Maximilian August Ludwig (ich hieß tatsächlich Auguste Ludovika) im Bett und versprach im Abendgebet, meinem Titel alle Ehre zu machen.
Am nächsten Tag holte mich die Realität ein. Die Mathearbeit kam zwar mit einer zwei Plus zurück und ich freute mich bereits auf das Gesicht meines Vaters, der sich damit immer etwas schwer getan hatte. Ich musste mich zum Sportunterricht wie üblich im Umkleideraum der Mädchen umziehen. Igitt, was für Ziegen und Hennen meckerten und gluckten da um mich herum.
„Maximiliane, du siehst umwerfend aus, in deinem wunderschönen Jungenhemd, du wirst sicher mal Schönheitskönigin“, rief Martina mir hämisch zu. Alle Weiber lachten wie auf Kommando. Nur Daniela saß still auf ihrem Platz. Sie stand mir stets zur Seite. Vielleicht, weil sie selbst sehr pummelig war und mit der Zahnspange nicht gerade zu den hübschesten Mädchen gehörte. Sie wusste, was Mobbing hieß. Ich hatte genug von den Zicken. Groß baute ich mich vor Martina auf.
„Vor ein paar hundert Jahren hätte ich nicht gezögert, eine wie dich als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen. Königin werde ich sicher nie, höchstens König. Du wirst es bereuen, mich heute geärgert zu haben“, erklärte ich erhaben und selbstsicher.
Martina kicherte. „Ich werde dich in einen Regenwurm verwandeln, du edler Prinz. Hex, hex.“ Oh, wie ich die Kuh hasste!
Unsere Sportlehrerin Frau Miersbach, kam herein und scheuchte uns in die Gymnastikhalle an die Keulen. Am liebsten hätte ich so ein Ding der Hexe Martina als Stolperfalle zwischen die Beine geworfen. Und die Jungs durften nach den Übungen am Barren Fußballspielen. Wie ungerecht das war! Aber auch der schlimmste Schulvormittag geht einmal vorbei und nach den Hausaufgaben stand von 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr das Training mit Chester an.
Er sprang wie eine Eins und gab mir mein angeknackstes Selbstvertrauen zurück. Eine halbe Stunde später saß ich auf dem Rad und fuhr ins Dorf. Beim Kampftraining war ich endgültig wieder der Alte. Und als ich nach dem Abendessen mit Mutter Klavier übte, hatte ich den ersten Tag als Junge relativ gut überstanden. Mutter überraschte mich mit einem Termin in Hamburg in einer Woche. Ich würde dafür vom Unterricht befreit werden, sagte sie.
Am nächsten Morgen sah ich, wie sie im Zimmer des Schuldirektors verschwand. In der großen Pause kam ein Junge aus der Oberstufe zu mir, als ich mit zwei Freunden aus meiner Klasse Autoquartett spielte. Ich sollte zum Direx kommen. Auch das noch. Ich war stinkig, denn ich hatte gerade eine Glückssträhne gehabt. Auf dem Zahnfleisch kriechend klopfte ich an der Höhle des Löwen an, weil ich beim besten Willen nicht wusste, was ich nun wieder ausgefressen haben sollte. Schreck! Mum war immer noch da. Aber sie lächelte und der Direx sah freundlich aus.
„Max, komm näher. Deine Mutter hat mir eben von deinem Problem erzählt. Eine Ahnung hatte ich bereits. Aber als Lehrer mischen wir uns selten in familiäre Belange, passen nur bei körperlicher oder seelischer Misshandlung auf. Ich habe deiner Mutter erklärt, dass wir uns jedem ärztlichen Attest fügen werden. Falls die Ärzte dich also als Jungen einstufen, werden wir dich entsprechend hier führen, auch wenn du noch nicht operiert bist. Bayern bedeutet nicht automatisch von vorgestern zu sein. Wie das in der Praxis aussehen wird, beim Sport hauptsächlich, bespreche ich zu gegebener Zeit mit den Fachlehrern. Also, wenn es an dem ist, erwarte ich von meinem dann männlichen Schüler, Graf Maximilian von Wildenstein, entsprechend gräfliches Verhalten und weiterhin gute Leistungen. Du weißt: Adel verpflichtet. Und der Bonus, den Mädchen nun mal haben, weil sie Mädchen sind, der ist bei Ihnen futsch, mein Prinz. Haben wir uns verstanden?“
Meine Mutter konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Ich spielte freudestrahlend mit.
„Ja, Herr Direktor. Ich werde mich bemühen, denselben Blödsinn zu machen, wie alle anderen Jungen. Und mit der Strafe zu leben wie die anderen.“
„Raus, ab in deine Klasse!“ Ich hörte nur noch, wie die beiden in schreiendes Gelächter ausbrachen.
Geil! Endlich war ich am Ziel! Überglücklich ließ ich die kommende Woche vergehen. Am Dienstag fuhren wir alle drei mit dem ICE nach Hamburg. Wir mussten zunächst nach München. Mit dem Auto wären das 180 km gewesen. Vater beschloss, den Regionalzug zu nehmen und Gerhard mit dem Auto wieder zum Schloss zu schicken. Der ICE stand auf dem Münchner Hauptbahnhof bereit. War das aufregend! Den Bahnhof hatte man vollständig überdacht, so dass bei Regen niemand nass werden konnte. Es liefen ganz viele Menschen an uns vorbei. Mutter behielt den Überblick. Sie lotste uns zum richtigen Zug. Beinahe hätte sie sich mit Vater gestritten, der meinte, wir wären auf dem falschen Bahnsteig. Mum hatte Karten für die erste Wagenklasse bestellt. Als ich endlich auf meinem Platz saß, fragte ich den Schaffner, was das für ein komischer Kasten war, der am Sitz vor mir hing. Er erzählte es mir lachend. Mutter kaufte bei ihm Kopfhörer und ich durfte den Film ‚Findet Nemo‘, darin sehen. Die Reise war echt super. Nach dem Film wurde ich ziemlich müde und schlummerte vor mich hin, bis Mum mich weckte.
Der Hauptbahnhof in Hamburg erschien noch gigantischer als der in München. Mutter sagte, wir müssten bis Altona durchfahren. Vater nahm mich sicherheitshalber an die Hand, als wir aus dem Zug stiegen. Die Arztpraxis lag nahe am Bahnhof, wir mussten also nicht weit laufen.
Die Anmeldung und der erste Kontakt zu Doktor Reimers, der mich von nun an für viele Jahre durchs Leben begleiten sollte, verliefen null Problemo. Mir wurde Blut abgenommen, ich musste in ein Glas pinkeln und wurde gemessen und gewogen. Zwischendurch sollte ich Tests machen, Bilder beschreiben, was ich in den Klecksen sah und so, und am Schluss saßen wir alle zusammen bei Dr. Reimers im Sprechzimmer. Der war wirklich nett.
„Also, Max. Du wirkst auf mich nicht wie ein Mädchen. Aber der Reihe nach. Du bist körperlich und geistig kerngesund. Es gibt keine Auffälligkeiten im Blut und die körperliche weibliche Entwicklung ist völlig altersgemäß. Normalerweise erwarten die Patienten vom Arzt nicht nur die Diagnose, sondern einen Vorschlag zur Behandlung, also Medikamente oder den Rat zu einer Operation. Bei Transsexualität ist das etwas anders. Wir müssen deine Entwicklung abwarten. Du zeigst zwar untrügliche Anzeichen einer Frau zu Mann transsexuellen Prägung, aber wie wirst du mit achtzehn Jahren darüber denken? Wir können dir jetzt damit helfen, dass wir die biologische körperliche Entwicklung nicht noch schlimmer werden lassen. Deine Brust ist noch wenig entwickelt und die Regel hat gerade erst eingesetzt. Es gibt die Möglichkeit, deine weibliche Pubertät zu stoppen. Das bedeutet, du bekommst keine Blutung mehr und das weitere Brustwachstum wird verhindert. Dazu erhältst du in regelmäßigen Abständen von mir eine Spritze. Dann lassen wir die Jahre vergehen. Du, Max, entweder als gefühlter Maximilian oder als gefühlte Maximiliane, bestimmst dabei den Weg. Willst du als Junge leben, kleidest du dich entsprechend und bittest deine Eltern, dich wie einen Jungen zu behandeln. Willst du wieder ein Mädchen sein, teilst du uns das mit und lebst dein körperlich angeborenes Geschlecht. Du entscheidest, und niemand anderes. Niemand darf dich deswegen mobben. Es gibt auch beim Schwimmen oder in der Umkleidekabine keine Veranlassung in dir keinen Jungen zu sehen, wenn du es so willst. Das Leben ist allerdings kein Ponyhof, denn die gesellschaftlichen Anforderungen an einen Jungen sind andere als an ein Mädchen. Aber ich glaube, das Problem haben deine Eltern bestens im Griff.
Die gegengeschlechtliche Hormonbehandlung mit Testosteron beginne ich frühestens ab dem siebzehnten Lebensjahr, wenn eine gewisse geistige Reife vorhanden ist. Die hat wenig oder gar nichts mit der pubertären körperlichen Reife zu tun. Unser Gehirn besteht aus vielen Teilen. Kinder leben aus dem sogenannten limbischen System heraus, in dem die Gefühle liegen. Vorne am Kopf beginnt der Vordere Cortex, da sitzt das schlussfolgernde Denken. Zwischen dem dreizehnten und dem einundzwanzigsten Lebensjahr verbinden sich beide Teile miteinander. Die Gefühle werden also an die Einsichtsfähigkeit gekoppelt. Ein Erwachsener weiß, dass er niemanden ungestraft verhauen darf, nur weil er sauer auf ihn ist. Mit der biologischen körperlichen Entwicklung hat das überhaupt nichts zu tun. Wenn es anders wäre, dürfte keiner, bei dem Hormonstörungen auftreten, mit Achtzehn den Führerschein machen. Ich gebe dir die nächsten Jahre Zeit, dich zu finden und werde dich nach deinen Wünschen fragen. Zwischen uns beiden wird ein Vertrauensverhältnis wachsen. Bist du mit siebzehn Jahren der Auffassung, dass du den Rest deines Lebens als Junge verbringen willst, setzen wir die Spritze ab und du bekommst männliche Hormone, die du nach der geschlechtsangleichenden Operation lebenslang einnehmen musst. Darüber sprechen wir aber ausführlich, wenn es soweit ist. Hast du noch Fragen?“
Nein, hatte ich nicht. Das war alles zu schön um wahr zu sein. Ich war endlich ein Junge geworden. Mehr wollte ich nicht. „Ich hätte da noch etwas“, sagte mein Vater. „Wenn sich Max später entscheidet, doch lieber als Frau leben zu wollen, kann er dann trotz der Spritzen noch Kinder bekommen?“ Dr. Reimers lächelte. Er schien über die Frage hoch erfreut zu sein. „Ja, selbstverständlich. Die Spritze verhindert, dass die biologische Entwicklung beginnt. Wird sie abgesetzt, erfolgt die normale Pubertät im somatischen Geschlecht. Erst die Gabe gegengeschlechtlicher Hormone bewirkt bleibende körperliche Veränderungen, wie Bartwuchs und Stimmbruch, also die Ausprägung sekundärer männlicher Geschlechtsmerkmale.“
Er schaute von einem zum anderen. „Weitere Fragen?“ Meine Eltern sahen einander an. „Wann bekommt Max die erste Spritze und können Sie mir eine Bescheinigung darüber ausstellen, die ich der Schule vorlegen kann?“, fragte meine Mutter. Dr. Reimers nickte. „Die gibt Ihnen gleich meine Sprechstundenhilfe. Die Spritze kann ich ihm sofort geben. Sie erhalten den nächsten Termin in drei Monaten.“ Ich war hellwach. Das fühlte sich an wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag. „Whow, danke!“ Mehr brachte ich im Überschwang meines Glückes nicht heraus. Die plötzliche Unruhe meiner Mutter bemerkte ich nicht. Erst als mein Vater seine Hand auf die ihre legte und fragte: „Liebling, ist noch etwas?“, drehte ich mich zu ihr um. Mutter sah mich zärtlich an. „Maximilian, da gibt es in der Tat eine wichtige Sache, die wir jetzt noch mit dem Doktor besprechen müssen.“ Sie atmete tief ein. „Mein liebes Kind. Wenn dir Dr. Reimers hilft und deine weibliche Pubertät mithilfe von Medikamenten unterdrückt, bedeutet das, dass du dich nicht weiter zur Frau entwickeln wirst. Wenn du eines Tages männliche Hormone erhältst, müssen im Anschluss deine weiblichen Organe, also deine Eierstöcke und deine Gebärmutter entfernt werden. Der Operateur wird dir einen Penis sowie Hoden formen und dein Körper wird sich demjenigen eines jungen Mannes stark annähern, so dass niemand im normalen Leben merkt, dass du körperlich als Mädchen geboren wurdest. Doch eines wirst du nie können: Max, du wirst nie eigene Kinder haben.“
Liebevoll strich sie über mein Haar und legte ihre Hand danach auf den Arm meines Vaters. Den Kopf senkend fuhr sie leise fort. „Max, du bist unser einziges Kind. Ich bekam kurz nach deiner Geburt Krebs und meine Gebärmutter musste entfernt werden. Somit konnte ich deinem Vater keinen Sohn und Erben mehr schenken. Du wirst als unser Sohn vielleicht den Titel eines Grafen von Wildenstein tragen dürfen, aber unser Adelsgeschlecht wird mit dir aussterben.“ So bewegt hatte ich meine Mutter noch nie erlebt. Ihre bedeutungsvollen Worte hallten in meinem Kopf nach und lösten eine Lawine von Gedanken aus.
Daran hatte ich nie gedacht. Ich werde nach meiner Operation der letzte Graf Wildenstein nach der vierhundertjährigen Geschichte unseres Hauses sein. Langsam wurde mir die Tragweite der Entscheidung bewusst, die ich vor wenigen Minuten bedenkenlos getroffen und die mich bereits in den Olymp hinaufgehoben hatte. Ich war sehr erschrocken. Dr. Reimers schien einen Augenblick konzentriert nachzudenken. Mein Vater wollte etwas erwidern, doch der Doc kam ihm zuvor.
„Gräfin, Sie ahnen gar nicht, was Sie angestoßen haben. Ich habe schon öfters Gespräche mit älteren operierten Transidenten geführt, die, als sie mit allem durch waren, ihre Unfruchtbarkeit bedauerten. Die Geschlechtsanpassung hat einen hohen Preis. Aber es muss eine Lösung geben. Ich habe da eine Idee!
Von unserem Gynäkologen hier im Haus, Herrn Dr. Malinka, weiß ich, dass er Ehepaaren hilft, die mit unerfülltem Kinderwunsch zu ihm kommen. Es gibt viele Ursachen dafür. Manchmal entnimmt der Kollege den Frauen Eizellen und bringt sie außerhalb des Körpers in der Reagenzschale mit dem Samen des Ehemannes zusammen. War dies erfolgreich, setzt er der Frau das befruchtete Ei ein und in den meisten Fällen wird eine normale Schwangerschaft daraus. Die überzähligen Eizellen friert er ein und kann später ein weiteres Kind auf diese Art zeugen. Es gibt auch junge Frauen, die ihre Eizellen einfrieren lassen, weil sie wissen, dass sie aufgrund ihres Studiums und Berufs erst spät Mutter werden können. Wenn wir Max Eizellen entnehmen könnten und einfrieren, dann wäre er in der Lage, sie in vitro befruchten zu lassen und seiner Ehefrau einzusetzen. Das Kind wäre zwar nicht aus seiner Samenzelle, sondern aus seiner Eizelle entstanden, aber er kann als Vater angesehen werden. Die Frauen machen das häufig. Sie lassen ihre Spermien noch vor der Hormonbehandlung einfrieren und da die meisten in lesbischen Beziehungen leben, trägt die Partnerin den Nachwuchs aus. Das Problem wird die rechtliche Anerkennung sein. Doch das müsste von einer Familie zu gegebener Zeit durchgeklagt werden. Die Ehefrau ist rechtlich die Mutter, auch wenn das Ei nicht von ihr stammt. Transidenten haben meines Erachtens nach dem Grundgesetz dasselbe Recht Eltern zu werden und sich fortzupflanzen, wie alle anderen auch.“
Ich hatte mit großen Augen zugehört. Das meiste verstand ich sogar. Meine Mutter und mein Vater blickten sich erstaunt an. Mein Vater legte seinen Arm um mich. „Max, was meinst du? Wollen wir mit diesem Arzt sprechen?“ Ja, die Idee klang gut. Ich nickte erleichtert mit dem Kopf. „Ich rufe eben oben an, dann können Sie sich möglicherweise gleich bei Dr. Malinka vorstellen. Ich kann dir aber unter diesen Umständen heute noch keine Spritze geben, Max“, meinte Doktor Reimers und griff zum Telefonhörer. Mein Vater lächelte zufrieden. „Das wäre großartig. Max, du merkst wahrscheinlich gar nichts davon, weil sie dir eine Kurznarkose geben. Und später stehen dir alle Optionen offen.“
Das Telefonat überstieg leider meine bisherigen Lateinkenntnisse. Herr Reimers legte auf. „Du hast gehört, Max. Du darfst mit deinen Eltern einmal die Treppe hochgehen und zu Dr. Malinka in die Praxis kommen. Wir sehen uns danach und besprechen das weitere Vorgehen.“ Er stand auf und brachte uns zur Tür. Mutter steuerte auf den Fahrstuhl zu. Ich fühlte viel zu viel Kraft in mir und war wohl mit Vater auf einer Wellenlänge. Wir nahmen die Treppe und machten einen Wettlauf draus. Oben angekommen ordneten wir uns beide, schnauften aus und spazierten mit Mutter durch die Glastür zum Tresen. Wir brauchten gar nicht viel sagen. „Einen kleinen Moment, noch. Nehmen Sie kurz im Wartezimmer Platz. Ich rufe Sie gleich rein“, meinte die dunkelhaarige Sprechstundenhilfe und lächelte mich freundlich an. Nach zehn Minuten saßen wir vor Dr. Malinka. Er war genauso nett wie Dr. Reimers. Ich fühlte mich wohl und gut aufgehoben. Meine Eltern ließen sich beraten, während ich zu träumen anfing und aus dem Fenster sah. Hamburg war schon eine aufregende Stadt. Ich wusste, dass es Eisbahnen gab und einen riesigen Hafen. Aber auch einen berühmten Zoo. Ich erwachte erst, als meine Mutter mich kurz an stupste. „Max, ich weiß, du bist müde. Aber, du musst jetzt ein wenig zuhören, was Herr Doktor Malinka uns erzählt. Es geht ja um dich!“ Japp, das war klar. Wir waren nicht zum Spaß mit dem Zug nach Hamburg gefahren. „Möchtest du etwas trinken, Max? Einen Orangensaft vielleicht? Schau mal, da drüben stehen ganz viele kleine Flaschen.“ Dr. Malinka schmunzelte.
Wirklich, in der Sitzecke hinter mir standen umgedrehte Gläser und sechs bunte kleine Flaschen auf einem Glastisch. Hach! Zweimal brauchte mich niemand zu bitten. Der Kirschsaft hatte es mir angetan. Ich schraubte sofort den Deckel auf. Herrlich, das Getränk rann meine trockene Kehle hinunter. Aber die Fläschchen waren sehr klein. Da war gleich die Zweite fällig. Diesmal musste der Apfelsaft dran glauben. Ich spürte einen wohl bekannten Blick auf mir ruhen. Okay, Mum, ich weiß was sich gehört. Artig setzte ich mich wieder auf meinen Platz. Der Doktor lächelte verständnisvoll. „Es gibt zwei Möglichkeiten“, begann er zu erklären. „Wir können Eizellen aus dem vorpubertären Körper entnehmen oder aus dem bereits entwickelten. Normalerweise haben die Patienten Blutungen, so dass reife Eier in die Eileiter wandern. Wir entnehmen die Zellen während einer kurzen Narkose mit einer kleinen Kanüle durch die Bauchdecke. Es ist völlig schmerzlos und ungefährlich. Die Zellen werden mikroskopisch untersucht und in Amsterdam eingefroren. Die Kosten sind geringer als hier in Deutschland. Das Problem bei Max ist, dass wir nicht wissen, wie er sich später entwickeln wird. Wenn er mit einer Frau zusammenleben will, kann sie nach künstlicher Befruchtung das Kind austragen. Das geht auch hier in Deutschland. Falls Max aber mit einem Mann zusammen lebt, werden beide eine Leihmutter brauchen. Das ist bei uns noch nicht erlaubt und deshalb nimmt unser Labor in Holland die weitere Betreuung vor. Dort ist die nichtkommerzielle Leihmutterschaft möglich. Darüber müssen wir uns heute noch keinen Kopf machen. Wir brauchen für die Entnahme ungefähr 25 Eizellen. Dazu gebe ich den Frauen ein spezielles Medikament, welches mehrere Eisprünge auslöst. Nach der letzten Regel wäre es bei dir in vierzehn Tagen soweit. Ich mache das in meiner Klinik und du kannst gleich im Anschluss wieder nach Hause fahren. Die erste Spritze gebe ich dir dann auch. Die Folgetermine hast du bei Dr. Reimers.“
Meine Eltern sahen mich an. „Max, es liegt bei dir. Ich übernehme die Kosten und muss ohnehin Rücksprache mit unserer Krankenversicherung nehmen. Du entscheidest und niemand anders“, sagte mein Vater ernst. Schade, dann wurde es heute noch nichts, mit dem neuen Leben als Junge. Aber ich hatte bereits eine gefühlte Ewigkeit darauf gewartet, dass mir weitere vierzehn Tage erträglich erschienen. „Ja, das machen wir so.“ „Gut, ich spreche gleich mit Dr. Reimers und den Termin sowie alle Unterlagen erhaltet ihr von meiner Sprechstundenhilfe.“ Dr. Malinka stand auf, gab erst mir und danach meinen Eltern die Hand. Wenig später trafen wir Dr. Reimers auf dem Flur seiner Praxis. Er wünschte uns Glück und überreichte meiner Mutter eine Karte, auf der der erste richtige Spritzentermin bei ihm vermerkt war. Als wir draußen vor der Tür waren, fühlte ich trotzdem, wie sich mein Leben zu verändern begann.
Ich drückte meine Eltern fest und Tränen schimmerten plötzlich in meinen Augen. „Danke, Mum. Danke, Dad. Ihr habt mir ein neues Leben geschenkt. Ich bin endlich ich selbst.“ Wortlos nahmen sie mich in die Mitte, einer hielt meine linke Hand, der andere die rechte. Das Gefühl war unbeschreiblich schön. Ich stand so viele Jahre neben mir und nun hatte sich endlich mein Herzenswunsch erfüllt. Mein Vater bemerkte, dass er Hunger habe. Ja, den hatte ich inzwischen auch.
Zu Hause erzählte ich jedem, der es hören wollte und auch denjenigen, die es weniger interessierte, dass ich ab sofort nur noch Max hieß und ein Junge war.
In der Schule lief es wider Erwarten recht unproblematisch. Mum hielt Wort und sprach mit dem Direx. Sie besaß wirklich einen ziemlich guten Draht zu ihm. Das einzige zu lösende Problem war der Sportunterricht. Der Direktor kam extra deshalb in unsere Klasse, erklärte den anderen, um was es ging und erwartete, dass ihm keiner widersprach. Ich sollte mich bei den Jungs ganz normal wie jeder andere umziehen. Die Angelegenheit war also von höchster Stelle geklärt.
Mit einem recht mulmigen Gefühl betrat ich trotzdem am nächsten Tag die Umkleide vorm Sportunterricht. Mit den meisten Jungs spielte ich schon am Nachmittag im Fußballverein und dort zogen wir uns immer zusammen um. Allerdings duschten wir zu Hause. Hier in der Schule duschten wir nach dem Sportunterricht, wenn danach noch andere Stunden auf dem Plan standen. Ich schmiss bewusst cool meine Sporttasche auf die nächste freie Bank.
Andreas war zwei Köpfe größer als ich, kam auf mich zu und baute sich wie ein Schrank vor mir auf. „Du, Graf, wehe du fasst mich nachher beim Duschen an!“
Ich blickte überrascht hoch und konterte: „Andy, was soll ich denn da anfassen? Da ist doch nichts!“ Die ganze Klasse begann zu grölen. Alarmiert von unserem Krach kam Herr Schaaf hereingestürzt.
„Was ist hier los! Zack, Zack, meine Herren, an die Ringe. Ihr wollt doch noch Fußballspielen.“ Er sah auf mich herab und witzelte: „Ihr habt ja nun den künftigen Star von Bayern München in der Mannschaft. Max, ich will nachher Tore von dir sehen. Und wenn möglich, mehr Ruhe bitte. Die anderen Klassen möchten noch etwas vom Unterricht mitbekommen!“
Ich sah Andy an und flüsterte: „Das glaubt auch nur der!“
Er grinste. „Hast du das eben ernst gemeint? Das da bei mir nichts ist?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ne, da ist bestimmt alles okay bei dir“, und setzte traurig nach: „Ich wollte, ich wäre schon so weit!“
Andreas legte mir spontan seinen Arm um die Schulter. Was dann kam, war das Krasseste, was ich bisher in der Schule erlebt hatte. Ich war an den Ringen besser als alle anderen. Herr Schaaf nickte mir wohlwollend zu und beim Fußball stand es am Schluss Sechs zu Eins für meine Mannschaft. Drei Tore hatte ich davon geschossen. Es gab zwei Eigentore und der Gegentreffer rutschte Frank durch. Frank war unser Torwart und musste hinterher getröstet werden. Aber wir gönnten den anderen den Ehrentreffer.
Endlich ein Junge
Freitags erhielten wir am späten Nachmittag Besuch. Unser Dorfpfarrer bat darum, meine Eltern sprechen zu dürfen. Anfangs saßen die drei allein in der Bibliothek und tranken Tee. Ich hatte erst gar nichts von seiner Ankunft mitgekriegt, denn ich büffelte gerade für die nächste Lateinarbeit, als Mia zu mir ins Zimmer kam und sagte, ich möchte zu meinen Eltern kommen. Immerhin durfte ich jetzt das doofe Lateinbuch einen Augenblick zur Seite legen. Nicht schlecht, dachte ich.
„Max, wir haben Besuch von Pfarrer Lüders.“ Mein Vater nickte mir zu. Ohne mir etwas dabei zu denken, streckte ich Hochwürden die Hand aus und begrüßte ihn, wie es sich gehörte. „Ich hab den Messdienerunterricht letzten Donnerstag vergessen und bitte um Entschuldigung. Die Schule und das Reitturnier, wissen Sie. Aber ich will mich bessern und komme morgen zur Beichte. Ich hoffe, Sie und unser Herr Jesus können mir noch einmal verzeihen.“
Der Pfarrer lächelte. „Es geht nicht um den Unterricht, Maximiliane. Ich verstehe nicht, warum dich dein Vater jetzt geholt hat, das Gespräch hier ist rein erwachsener Natur.“
Hä? Ich verstand wieder nur Bahnhof. Würde mir mal einer erklären, was los ist?
Meine Mutter reagierte prompt. „Wir haben vor Max keine Geheimnisse, Hochwürden, und ich denke, es geht doch um ihn. Es geht Ihnen um unseren Sohn? Oder habe ich den Grund Ihres Besuchs missverstanden?“ Boar! Meine Mutter hatte ihrer Stimme einen Klang gegeben, der signalisierte, das mit ihr nicht gut Kirschen essen war. Auch mein Vater zog die Augenbrauen hoch.
Der Pfarrer atmete aus. „Es geht nicht, dass ein Mädchen wie ein Mann behandelt wird. Wir sind alle auf unseren Platz in der Welt gestellt worden und müssen das sein, als was Gott uns erschaffen hat. Die Bibel duldet keine Abweichungen. Alles andere ist Ketzerei!“ Stille. Mein Vater hatte sich während der Rede unseres Priesters immer weiter gestreckt. Er stand auf und trat ans Fenster. „Herr Pfarrer, mein Geschlecht, und ich meine das der Wildensteiner Grafen, lebt seit mehr als vierhundert Jahren hier. Wir waren und sind katholisch und unterstützten alle bayerischen Herzöge und Könige. Wie auch den Deutschen Kaiser. Ketzerei ist ein Wort aus einer Zeit, die wir längst hinter uns gelassen haben. Es gehört hier und heute nicht mehr in unseren Sprachgebrauch. Ich bin nicht so bibelfest wie meine Frau und ich denke, dass diese Ihnen zu den anderen Vorwürfen mehr sagen kann.“
Meine Mutter stellte ihre Teetasse ab. Eine geradezu übermenschliche Kraft schien sie zu stärken und zu führen.
„Ja, das will ich gerne. Als was hat uns Gott denn erschaffen? Nun, er hat am Anfang ein Stück Lehm genommen und nach seinem Ebenbild einen Menschen geformt. Damit hatte er aber nur einen Klumpen Erde vor sich und seine Meisterleistung bestand darin, diesem Klumpen, dem er den Namen Adam gab, Leben einzuhauchen. Adam wurde ein Mensch aus Fleisch und Blut. Aber was war zuerst da? Doch der Klumpen Lehm. Erst mit dem Leben, wurde ein Mensch daraus. Und was macht uns zum Menschen? Der Körper, der nur eine Hülle für unsere inneren Organe ist und allein gar nicht existieren kann? Oder das, was wir Gehirn nennen, dort wo unser Verstand sitzt? Das Gehirn steuert Hände, Arme, Beine, alle Funktionen des Körpers. Nur dadurch können wir unsere Gliedmaßen gebrauchen und denken, fühlen, lernen, sprechen. Der wichtigste Teil des Körpers ist das Gehirn und das hat Gott zum Leben erweckt. Er hat also alles richtig gemacht. Im Gehirn sitzt das Zentrum unseres Selbst und es bestimmt auch, ob wir uns als Männer oder Frauen sehen. Wer sagt überhaupt, dass ich vor einem Löwen fliehen sollte und ein Wildschwein ein leckerer Braten für mich wäre? Wer teilt mir mit, wann es Zeit ist, etwas zu essen, zu trinken oder wann ich mich ausruhen muss? Das ist einzig und allein die Leistung unseres Gehirns.
Gott hat noch etwas Schönes erschaffen. Er hat uns als Kinder auf die Welt kommen lassen. Unschuldig und in ihrer Ursprünglichkeit rein. Sündenfrei, Herr Pfarrer! Ein Kind sagt frei heraus, was es denkt. Und wenn ein kleines Kind meint, dass es ein Junge ist und dies im Widerspruch zu seinen körperlichen Geschlechtsmerkmalen steht, hat dieses Kind trotzdem erst einmal Recht. Cogito, ergo sum. Das brauche ich Ihnen sicher nicht zu übersetzen. Der Kopf bestimmt das Denken und der Kopf bestimmt das Geschlecht. Mein Sohn ist allem Anschein nach als Junge geboren worden, obwohl sein körperliches Geschlecht weiblich ist. Solange Max sagt, dass er ein Junge ist, solange wird er für mich ein Junge bleiben. Ändert er seine Meinung, soll‘s mir auch recht sein. Und niemand wird mein Kind dafür ächten. Wer das tut, bekommt es mit mir zu tun. Und glauben Sie mir, Herr Pfarrer, ich bin tatsächlich, als was ich nach außen erscheine, nämlich eine Frau. Und jetzt kommt das Wichtigste: ich bin zudem eine Mutter! Jesus hat uns alle durch sein Opfer von unseren Sünden befreit und Liebe gepredigt. Gott ist Liebe. Darf ich Ihnen noch einen Tee einschenken?“
Uff. Wenn ich nicht schon meine Mutter über alles lieben würde, hätte ich es jetzt getan. Das war superaffengeil, Mum! Du bist wirklich die Größte. Auch Vater, der sich sichtlich baff inzwischen wieder hingesetzt hatte, war etwas in seinem Sessel zusammengesunken und blickte sie bewundernd an. Es knisterte in der Luft. Ich konnte die Spannung spüren. Der Pfarrer überlegte offensichtlich seine nächsten Worte gut.
„Danke, nein. Ich muss gehen. Ich werde die Angelegenheit mit dem Bischof besprechen. Solange Maximiliane nicht als Mädchen am Messunterricht teilnehmen will, ist sie beurlaubt. Der Bischof und vielleicht Rom, wer weiß, haben das letzte Wort in dieser Angelegenheit. Auf Wiedersehen. Bemühen Sie sich nicht, ich finde selbst hinaus!“ Er stand auf und ging aus der Tür, ohne sich umzudrehen. Mutter und Vater sahen sich sprachlos an.
„Du, ich glaube, wir sind gerade exkommuniziert worden“, meinte mein Vater sarkastisch. „Trotzdem, Adelheid, komm zu mir, mein Schatz. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Eine bessere Frau und Mutter meiner Kinder hätte ich mir nicht wünschen können.“
He, und was ist mit mir? Kein Messdienerunterricht vorerst? Geil, Chester!! Ich hatte noch mehr Zeit zum Reiten. Ich denke, also bin ich. Wer sagte das noch? Das steht doch ganz vorne in meinem Lateinbuch. N‘ Franzose, glaub ich. Muss ich gleich nachsehen. Mein Vater zeigte jetzt aber wirklich Gefühle. Und da standen die beiden in der Bibliothek und knutschten sich, als ob es ums Leben ging. Pfarrer hin, Pfarrer her, unser Herr Jesus war nicht der Pfarrer. Den Verdacht hatte ich jedenfalls schon lange. Jesus dachte anders. Der hatte nämlich gesagt, man solle die Kindlein zu ihm bringen, und etwas von Nächstenliebe erzählt. Ich werde mich in Zukunft mehr an Jesus halten und nicht so sehr an den Pfarrer. Ach, und Latein können war wirklich nicht schlecht. Ich beschloss, mich von meinen immer noch knutschenden Eltern zu verabschieden. Die Lateinarbeit morgen war nicht unwichtig. Zu Chester konnte ich nach dem Lernen gehen und heute Abend wollte ich mich mal beim Gebet mit meinem neuen Kumpel Jesus unterhalten.
Am Sonntagmorgen fuhr die ganze Familie wie üblich zur Kirche. Pfarrer Lüders predigte vom verlorenen Sohn und ich freute mich in meiner Bank zusehen zu dürfen, wie die doofe Martina ihm als Messdienerin das Wasser zum Händewaschen reichen musste. Eigentlich wäre ich diese Woche damit dran gewesen, aber das wollte er ja nicht und hatte mir damit einen riesigen Gefallen getan. Nach der Messe mussten wir nämlich mit ihm über die Messe sprechen und das dauerte in der Regel sehr lange. Er fand immer wieder etwas Neues und kam selten vor halb ein Uhr zum Ende. Heute fand unser jährliches Reitturnier statt. Und ich sollte schon um zwei Uhr mit Chester abreiten. So konnte ich wenigstens gleich nach der Messe um halb zwölf Uhr nach Hause fahren und noch etwas essen. Chester war bereits eingeflochten und geputzt.
Meine Reitkleidung hatte ich auf meinem Bett zurechtgelegt, damit ich mich schnell zu Hause umziehen konnte. Robert und die anderen im Stall arbeiteten Hand in Hand, wenn Vater und ich auf Turniere fuhren. Ich sollte im Pony E und Pony A starten und Vater ging heute Abend im Springpferde S und danach im S zwei Sterne Springen an den Start.
Ich war wirklich sehr aufgeregt und dankte meinem Kumpel Jesus, dass er Martina zu Recht fürs Mobbing bestrafte. Ich kniete und betete sehr inbrünstig. Wenn er noch etwas Zeit hatte, sollte er mir eine gute Platzierung sichern, bat ich ihn. Das Lamm Gottes war zu Ende gelobt worden und wir durften wieder aufstehen. Martina strauchelte. Die Hexe war nach dem Kniefall auf ihr Messkleid getreten und buchstäblich über sich selbst gestolpert. Meine Liebe und Achtung für Jesus kannte keine Grenzen mehr!
Die Eucharistiefeier begann. Oh je. Ob der Pfarrer jetzt mitspielte? Mein Vater ging nach vorne, kniete vor ihm und einen Moment lang sah es aus, als zögerte Hochwürden, aber er gab ihm die Hostie in den Mund. Auch meine Mutter kniete vor ihn nieder und bekreuzigte sich, nachdem sie die Hostie empfangen hatte. Gottseidank erhielt ich auch eine Hostie, nahm sie aber in die Hand. Der Pfarrer machte mir das Kreuzzeichen auf die Stirn.
Er flüsterte mir zu: „Komm morgen Abend um fünf Uhr in die Kinderbeichte.“
Ich musste mit dem Kopf nicken. Die Geschichte mit Martina und meine Schadenfreude kämen wohl zur Sprache. Da waren noch Sachen aus der Schule, wo ich ziemlich Bockmist gebaut hatte. Die Beichte würde nicht einfach werden, aber okay, ich sah zum Kreuz. Wenn Jesus es wollte, tat ich ihm den Gefallen und hoffte, dass er heute Nachmittag auf dem Turnierplatz Wort hielt.
„Hast du gesehen, wie der Pfarrer zögerte?“, fragte meine Mutter meinen Vater, später im Auto. Der lächelte.
„Ich bin nicht nur Schlossherr, sondern auch im Gemeinderat und im Kirchenvorstand. Der riskiert keinen Eklat. Außerdem hast du ihm sämtlichen Wind aus den Segeln genommen. Du solltest fürs Amt der Bürgermeisterin kandidieren. Bei dir würden alle stramm stehen“, lachte er.
„Mir reicht der Landfrauenverein und der Chor. Meine Klavierstunden mit den Kids und alle anderen ehrenamtlichen Aufgaben sind genug. Macht ihr das mit der Politik unter euch Männern aus. Allerdings ist Frauke Lange ziemlich aktiv, sie wäre eine gute Wahl für das Amt.“
Ich hörte dem Gespräch meiner Eltern nur noch mit halbem Ohr zu. Meine Gedanken kreisten um das Turnier unseres Reitvereins. In Windeseile hatte ich mir in meinem Zimmer meine Reithosen übergezogen und musste mir beim Essen eine Ermahnung von Mum anhören.
Dad lächelte verständnisvoll. Er war mindestens genauso gespannt wie ich und sollte selbst reiten. Unser siebenjähriger Hengst Apatchi wurde in der Springpferdeprüfung vorgestellt. Wenn Appi dabei gut abschnitt, käme er in drei Wochen mit zur Auktion. Mit der Pferdezucht hatte sich mein Vater ein weiteres finanzielles Standbein aufgebaut. Mir tat es immer leid, wenn ich mich von unseren Fohlen oder Junghengsten verabschieden musste. Aber das war nun mal das Leben, sagte Vater. Wir mussten mit der Zucht Geld verdienen und die Besten wurden halt verkauft. Gut, dass ich kein Pferd war. Wer weiß, was den Erwachsenen noch alles eingefallen wäre.
Robert holte mich aus meinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Mein Handy summte einmal kurz in der Hosentasche. Ich hatte es auf Vibrieren gestellt, damit Mutter nichts merkt. Einmal vibrieren hieß, alles paletti, Chester steht auf dem Hänger. Das war nämlich nicht so leicht, denn er wollte nicht immer, wie wir wollten. Robert und die anderen Stallburschen hatten ihre Tricks. Ich rutschte unruhig auf meinem Platz hin und her.
„Du darfst ausnahmsweise aufstehen, Max. Sag Robert, ich komme gleich. Er soll alles für die Abfahrt vorbereiten“, sagte Papa und erlöste mich. Ich lief gleich los. Als Vater endlich kam, brauchte er nur noch in den Transporter zu steigen. Ohne Probleme parkten wir eine Viertelstunde später auf dem Turnierplatz.
Robert schickte mich zur Meldestelle. Janina, ein Mädchen aus dem Reitverein, saß am Computer, als ich an der Reihe war. Sie ging schon in die Zwölfte und lachte mich fröhlich an.
„Hi, Maxi…miliane! Startbereitschaft erklären?“
„Japp, auch für meinen Dad. Springpferde S und S zwei Sterne, ich Pony E und Pony A. Chester ist in Höchstform, ach so. Und ich bin ab sofort ein Jungeee!“
Sie stutzte. „Wie hast du das denn hingekriegt?“, fragte sie mit großen Augen.
„Ganz einfach, wir waren in Hamburg beim Arzt. Ich bekomme jetzt alle drei Monate eine Spritze und keinen Busen mehr. Gottseidank. Wenn ich Siebzehn bin, kann ich Bescheid sagen und kriege männliche Hormone. Aber ich darf bereits heute als Junge zur Schule gehen und mich überall wie ein Junge anmelden. Also auf der Nennung streichst du bitte das e weg und machst Maximilian daraus. Aber nur das. Den zweiten Namen Auguste lass bitte ganz weg, sonst lachen die anderen mich wieder als den dummen August aus, wie beim Fußball, als der Trainer mich fragte, welchen Namen er denn nun auf die Spielerliste schreiben sollte.“
„Schon geschehen, soll ich den Richtern etwas dazu notieren? Die kennen dich ja alle als Mädchen?“
„Kannst du gerne, danke. Und die Daumen kannst du mir drücken.“
„Ne, geht nicht. Meine kleine Schwester startet auch beim Pony E. Du hast also ernst zu nehmende Konkurrenz!“
„Anita? Reitet sie etwa ihr dickes Shetty? Wie hieß der noch gleich?“
„Bronko, und ich hoffe, er kommt wenigstens über ein oder zwei Hindernisse mit ihr. So fett wie der ist, kann der eigentlich nicht springen.“
„Okay, wir sehen uns, Janina.“
Schnell lief ich zum Hänger, half Chester runterzuholen und begann ihn zu satteln. Es wurde Zeit. Auf dem Abreiteplatz war schon einiges los. Das Pony E begann und Robert deutete mir mit den Fingern an, dass ich drei Reiter vor mir hatte.
Der große Moment kam. Ich ritt ein und direkt auf den Richterwagen zu. Zum ersten Mal grüßte ich wie ein Junge, in dem ich die Hand an meinen Helm legte und kurz mit dem Kopf nickte. Die Richter kannte ich. Frau Behrens und Herr Weidenstock kamen immer zu uns, wenn ein Turnier stattfand. Ich sah, wie Frau Behrens mit Bernd, dem Ansager, sprach.
„Kommst du mal bitte näher zum Richterwagen“, sagte er. Ich tat, was er wollte und ritt so nahe heran, dass ich mit den Richtern sprechen konnte.
„Hier steht Maximilian, ist das richtig? Du bist doch ein Mädchen?“, fragte mich Frau Behrens.
„Nein, ich war in Hamburg beim Arzt, ich bin transsexuell und ein Junge. Ich darf als Junge leben, bis ich alt genug bin, um operiert zu werden. Ich gehe auch als Junge in die Schule.“
„Rufen Sie mal bitte den Vater aus“, bat Frau Behrens.
„Einen kleinen Augenblick, mein Kind. Ich muss mich vergewissern, dass alles seine Richtigkeit hat, sonst bekommen wir unnötige Proteste“, meinte sie zu mir.
„Herr von Wildenstein, bitte einmal zum Richterwagen“, hörte ich Bernd sagen. „Einen Moment, bitte, meine Damen und Herren, es geht gleich weiter.“
Mein Vater lief über den Platz.
„Bleiben Sie ruhig, Herr Graf. Wir haben Zeit genug. Als was sollen wir Ihre Tochter ansagen? Sie meint, sie wäre ein Junge und hieße Maximilian. Ich muss das aus rechtlichen Gründen mit Ihnen klären und darf mich da nicht auf die Aussage eines Kindes verlassen.“ Frau Behrens sah Vater fragend an.
„Ja, das ist richtig. Natürlich muss alles seine Ordnung haben. Wir sind in Hamburg bei einem Kinderarzt gewesen und der hat uns bestätigt, dass unsere Tochter nur äußerlich ein Mädchen ist. Sie ist vom gefühlten Geschlecht her ein Junge. Meine Frau war in großer Sorge und sah es als notwendig an, ärztlichen Rat einzuholen. Herr Direktor Schmidt führt Max als Jungen in der Schule. Wir wollen ihm die Gelegenheit geben, in der gefühlten Rolle zu leben und warten ab, wie er sich mit siebzehn Jahren entscheidet. Hormonelle und operative Maßnahmen sind erst im Erwachsenenalter möglich und bis dahin wird die Pubertät unterdrückt. Ich wäre Ihnen in Maximilians Namen sehr dankbar, wenn Sie ihn in der männlichen Rolle ankündigen“, sagte mein Vater.
„Das ist selten und ich habe selbst einen solchen Fall noch nicht erlebt, aber ich weiß natürlich, dass es das gibt. Gut, das reicht uns, oder Herr Weidenstock?“ Der nickte.
„Keine Bedenken. Wenn der Vater einverstanden ist, haben wir nichts dagegen. Aber ich denke, wir fangen erneut an. Max, du reitest bitte raus und kommst noch einmal zur Grußaufstellung herein. Dann starten wir und Herr Schade wird dich mit deinem männlichen Namen ankündigen.“ Frau Behrens war sofort einverstanden.
Mein Vater nickte ihr dankbar zu und kletterte unter die Absperrung durch, damit die Reitbahn frei wurde. Ich atmete einmal kurz ein und trabte mit Chester zu Robert, der am Einritt wartete. Er ahnte wohl schon etwas.
„Cool bleiben, Junge, ruhig angaloppieren, gleichmäßiges Tempo und immer zum nächsten Hindernis schauen.“ Chester wollte aus der Bahn laufen, aber Robert nahm ihn am Zügel und drehte ihn herum. Der arme Kerl hatte wohl gedacht, heute gäbe es kein Springen mehr und er könnte in seinen gemütlichen Stall zurück. Doch erst kam die Arbeit und danach bekam er eine Extraportion Futter.
„Wir begrüßen die Kopfnummer 12, passend zum Alter des Reiters, Maximilian von Wildenstein, mit seinem Pony Chester. Der Start ist frei.“ Ich grüßte noch einmal und zog meinen Helm ein wenig nach vorne. Die Zuschauer sollten alle wissen, dass hier kein Mädchen vor ihnen stand. Vollste Konzentration. Chester gehorchte jedem Schenkeldruck und flog über die Hindernisse. Ich ging mit der Hand vor und meine Schenkel klebten am Pferdeleib.
Null Fehler in einer passablen Zeit, aber auf die kam es nicht an. Das Ponyspringen war ein Stilspringen und die Leistung des Reiters sowie die Harmonie zwischen Reiter und Pferd wurden bewertet. Robert empfing mich bereits mit sehr zufriedener Miene. Vater kam angelaufen und klopfte mir aufs Bein.
„Für die Nummer 12, Maximilian von Wildenstein, gibt es für diese schöne Vorstellung die Traumnote von 8,8“, hörte ich Bernd sagen.
„Wow“, ich sprang fröhlich ab und drückte Chester fest an mich. Als ich ihn zum Hänger führte, spürte ich die Blicke der Zuschauer auf mir. Irgendetwas war anders. Viele tuschelten und sprachen miteinander. Ich konnte aber nicht hören, was sie sagten. Stolz und überglücklich sattelte ich Chester ab.
Das Pony Stil A stand erst um vier Uhr auf dem Programm. Vorher kamen noch die Führzügelwettbewerbe und die Siegerehrungen. Das A würde auf dem großen Platz stattfinden, wo gleich nach uns die Erwachsenen mit der Springpferdeprüfung starten sollten.
Ich vertrieb mir die Zeit auf dem Dressurplatz und besuchte danach die Pommes Bude. Sheila, die dicke Angestellte des Schlachters, bediente dort, brutzelte leckere Pommes und Bratwurst. Sie kam aus Äthiopien und besaß eine so dunkle Haut, dass sie nie einen Sonnenbrand bekommen konnte. Ihr Mund verzog sich zu einem breiten fröhlichen Lachen, als ich vor ihr stand.
„Na, da brat mir einer einen Storch. Dann bist du jetzt also der Junior Graf“, meinte sie und warf noch ein paar Pommes mehr in den Korb. Aber das war normal. Wir Kinder bekamen immer einen Zuschlag von ihr, denn wir mussten noch wachsen, meinte Sheila stets.
„Ja, Sheila, ich bin endlich ein Junge und es hat lang genug gedauert, bis meine Eltern das eingesehen haben. Aber nun wird alles gut. Was sagst du zu Chester?“
„Der ist toll in Form, Rot-weiß wie immer?“
Nickend kam meine Zustimmung. Es duftete köstlich. Das Wasser lief mir im Mund zusammen, als der Überzug an Ketchup und Mayo Gestalt annahm. Eine fremde Frau hatte sich hinter mir angestellt. Ich beachtete sie nicht und trat ihr mit meiner Schale Fritten in der Hand auf den Fuß.
„Entschuldigung“, sagte ich artig. Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.
„Du solltest dich was schämen. Ein Mädchen, das vorgibt ein Junge zu sein, pfui, wie gottlos ist das! Mädchen, die pfeifen und Hennen, die krähen.“ Sie kam nicht weiter. Sheila fiel ihr ins Wort.
„Denen soll man wie alten Weibern, die totalen Blödsinn reden, den Kopf abdrehen. So, wer meine Kids beleidigt, beleidigt mich. Also, was soll‘s sein und dann schleich di.“ Die Frau starrte Sheila an und verstand anscheinend gar nicht, was diese gemeint hatte.
„Eine Bratwurst bitte, mit Senf.“ Ich zwinkerte Sheila zu. Die wusste sofort Bescheid und griff unter ihre Theke. Sie hatte nämlich eine Geheimwaffe gegen die großen Jungs, die sie zu gerne ärgerten und manchmal mussten auch Männer dran glauben, wenn sie ihr zu anzüglich wurden.
„Macht 1,80 Euro“, sagte sie und schmunzelte, als sie die Bratwurst mitsamt Senf auf den Tresen legte. Die Frau ging, ohne sich umzusehen.
Später sah ich sie am Getränkestand stehen. Die hatte vielleicht einen Durst. Aber das war kein Wunder. Sheila bewahrte nämlich unter der Theke ihres Pommes Wagens immer einen Topf mit echtem Düsseldorfer Löwensenf auf. Der war sehr scharf und wer nicht ahnte, in was er biss… oh je, dem tränten die Augen.
Ich mochte Sheila sehr. Sie war ein Original im Dorf und ein Pfundskerl. Ein paar Mal wurde ich auf meinen Geschlechtswechsel angesprochen. Als ich mir als Wegzehrung eine Naschtüte aus dem Kaffeezelt holte, hielt mich unsere Bäckersfrau am Hemd fest. Sie nahm mich besitzergreifend in den Arm und an Entkommen war nicht mehr zu denken. Allerdings bekamen wir von ihr immer Kuchenreste umsonst, wenn wir nach der Schule in die Bäckerei stromerten und für die Eltern am nächsten Tag Bestellungen aufgaben. Manchmal schenkte sie uns einen Lolli extra.
„So, mein Kleiner, nun erzähl mal. Du warst in Hamburg? Hast du den berühmten Hafen gesehen? Und du bist jetzt also ein richtiger Junge?“ Sie saß nicht allein am Tisch. Der halbe Landfrauenverein war anwesend und die Frauen sahen mich neugierig an.
Ich erzählte meine Geschichte. Und sagte ihnen, dass ich erst mit achtzehn Jahren operiert werden durfte, aber nun erst mal keine Brust und keine Regel mehr bekam. Sie fragten mir ein Loch in den Bauch, bis meine Mutter am Tisch erschien. „Adelheid, das trifft sich gut. Wir quetschen gerade deinen Junior aus. Erzählst du uns mehr über Transsexualität? Das ist sehr interessant. So etwas hatten wir hier ja noch nicht“, rief Frauke Lange aus. Sie war im Gemeinderat tätig. Die beiden duzten einander seit langem. Ich stand auf und bot meiner Mutter den Platz an.
„Wenn das dabei herauskommt, soll meine Ina aber auch schnellstens ein Junge werden“, meinte eine der Frauen verblüfft. „Das nenne ich Erziehung.“ Alle lachten in meine Richtung. Ich wurde rot im Gesicht und lief schnell wieder zum Hänger. Das Pony A begann bald.
Am Abend lag ich zufrieden im Bett. Das E Springen hatte ich haushoch gewonnen, im A war ich drittplatziert. Appi hatte den Zweiten gemacht und war so gut wie verkauft, erzählte Papa. Ein Käufer bot ihm mehr, als er auf der Auktion bekommen würde. Im zweiten S kam Papa unter die ersten Zehn und wurde platziert. Der Tag konnte nicht besser gelaufen sein. Mir fiel die komische Frau wieder ein. Ich erzählte Mutter davon. Sie gluckste, als ich ihr von Sheila und dem Senf berichtete. Sie wollte Sheila fragen, wer die geheimnisvolle Frau war und gab mir einen Gutenachtkuss.
Nach dem Turnier war bekanntlich vor dem Turnier. In den kommenden Wochen trainierte ich mit Chester, schrieb Klassenarbeiten und spielte Fußball. Das normale Leben hatte mich voll im Griff. Die ominöse Frau war vergessen. An einem Dienstag fuhren wir nach Hamburg. Die Eizellenentnahme spürte ich nicht und die Narkosespritze war nicht schlimm. Dr. Malinka hielt Wort. Es tat nichts weh und hinterher bekam ich eine Spritze in den Po. Damit war mein Leben als Mädchen endgültig beendet. Ich hielt wie ein junger Gentleman meiner Mutter die Türen auf und bestellte das Essen in der Gastwirtschaft. Sie erzählte meinem Vater am Handy davon. Er lachte und meinte, dass er nun wohl mein Taschengeld erhöhen müsste, denn der Mann bezahlt selbstverständlich auch für die Dame.
Unsere Sommerferien brachen an. Blutungen hatte ich keine mehr bekommen und meine Brust war als solche kaum noch erkennbar. Im Freibad trug ich nur noch eine Badehose. Dort wusste wie im ganzen Dorf jeder Bescheid, kein Mensch nahm von mir Notiz. Bis zu dem Tag, als ich aus der Jungsumkleide im Schwimmbad kam und wieder diese Frau fast umgerannt hätte. Sie schimpfte gleich los.
„Kannst du nicht aufpassen, du Bengel!“ Ihre Augen weiteten sich. „Du?“ Sie blickte auf meine nackte Brust und auf die Wölbung in meiner Badehose. Ich hatte mir ein kleines Sockenknäul hineingesteckt um wie ein Junge zu erscheinen. „Du ziehst dir sofort etwas an, du schamloses Kind“, schrie sie. Einige Mütter drehten automatisch den Kopf zu uns hinüber und ich starrte die Person völlig perplex an.
Der Bademeister war wie immer sofort zur Stelle. „Was gibt es?“ Er sah auf mich. „Hast du Blödsinn gemacht, Max?“ Ich schüttelte energisch den Kopf. „Ab zu den anderen und haltet euch von dem Wäldchen fern, damit ich euch Banditen immer im Auge habe. Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er die Frau.
„Das wird ein gerichtliches Nachspiel haben“, hörte ich sie sagen. Grußlos ließ sie unseren altgedienten Bademeister stehen. So überrascht sah ich den selten.
Zuhause brauchte ich gar nichts mehr zu sagen. Meine Mutter wusste bereits Bescheid. Die Frau des Försters war mit ihrem zweijährigen Sohn im Schwimmbad gewesen und hatte das Desaster mitbekommen. Ihre beiden älteren Jungen, mein Freund Jacob und sein zehnjähriger Bruder Mario, blieben mit mir im Bad, als sie mit dem kleinen Sven in die Försterei nach Hause fuhr und beunruhigt erst mal am Schloss anhielt, um mit meiner Mutter zu sprechen. Sie verabschiedeten sich gerade, als wir auf unseren Rädern ankamen.
„Vielen Dank, Roswitha, ich werde mich der Sache gleich annehmen. Wir müssen herausfinden, wer die Frau ist und was sie hier macht.“
„Keine Ursache, Adelheid, wir sind doch eine große Familie. Uns kann so leicht nichts erschüttern“, antwortete Jacobs Mutter und zeigte ihm mit dem Finger den Heimweg.
„Na denn, Max.“
„Na denn, Jacob.“
Ich brachte mein Fahrrad in die Remise und folgte meiner Mutter ins Schloss, wo sie schnurgerade auf das Arbeitszimmer meines Vaters zusteuerte.
„Es gibt Sorge“, sagte sie und ließ mich erzählen.
„Was ist ein gerichtliches Nachspiel, Dad?“, fragte ich, als ich fertig war. Vater überlegte. Wohl weniger, um mir meine Frage richtig beantworten zu können, als umso mehr er die Identität der Frau noch nicht kannte.
„Wenn man ein rechtliches Problem hat oder sieht, kann man sich vor Gericht melden und von einem Richter, der streng nach dem Gesetz urteilen muss, ein ebensolches Urteil verlangen. Das ist für die beteiligten Menschen bindend, kann aber von einem höheren Gericht wieder aufgehoben werden.“
„Und wie hoch geht das?“
„Das geht bis zum Bundesverfassungsgericht in Deutschland, in Karlsruhe, oder in Europa bis zum Europäischen Gerichtshof nach Luxemburg. Max, du lässt dich mit dieser Frau auf keine Diskussion ein und sagst uns sofort Bescheid, wenn sie dich wieder angreift“, meinte mein Vater.
„Hm.“ Meine Mutter schien sich zu beruhigen. „Diskussion nein, aber du kannst sie ruhig nach dem Namen fragen und wer sie eigentlich ist. Aber versuche dabei nicht frech rüberzukommen, nur wie ein Naseweis und Lausejunge. Das sollte dir nicht schwerfallen. Diese Person muss ja etwas darstellen, sonst würde sie den Mund nicht so voll nehmen. Ich versuche über die Landfrauen etwas über sie herauszufinden“, sagte sie entschlossen.
Erleichtert atmete ich aus. Mir war die Szene im Schwimmbad sehr unangenehm und peinlich gewesen. Wenn das einer meiner Kumpels mitbekommen hätte!
„Danke, Mum. Ich hab mich scheußlich gefühlt. Die Frau ist echt doof“, setzte ich nach.
„Wir wollen nicht voreilig über einen Menschen urteilen, Max. Sie wird Gründe haben, die wir im Augenblick noch nicht kennen. Mutter wird sich darum kümmern. Du hast ansonsten keine Probleme im Dorf oder in der Schule. Ich verstehe deinen Unmut über diese Frau, mir würde es ebenso ergehen. Trotzdem kannst du mit der Toleranz der Menschen hier sehr zufrieden sein.“ Die Worte meines Vaters klangen verständnisvoll, duldeten aber keine Widerrede. Er hatte im Grundsatz recht. Mutter lächelte und ging. Dad und ich wechselten das Thema. Wir unterhielten uns über Chester, das nächste Turnier und Appi, der übermorgen abgeholt werden sollte.
In den nächsten Tagen lief alles wie gewohnt weiter. Ich genoss zusammen mit Jacob und meinen Freunden die Ferien. In der letzten freien Woche stand eine Reise nach München an. Ich sollte mich der Kinderpsychologin vorstellen und fuhr mit Mutter im Zug in die Landeshauptstadt.
Die Ärztin war sehr nett. Sie sprach mich gleich so an, wie ich es wollte. Außerdem kannte sie Doktor Reimers. Ich sollte erzählen, wie ich die Zeit, bevor ich als Junge leben durfte, erlebt hatte und wie es mir jetzt ging. Mutter verließ nach einer Weile das Zimmer. Sie hatte verstanden. Frau Michelsen wollte mit mir allein reden.
„Max, als du klein warst und deine Mama dir Kleider anzog, woher wusstest du, dass du ein Junge warst?“ Ich brauchte nicht lange zu überlegen.
„Ich wusste es einfach. Ich war wie mein Vater, wie Robert oder die anderen Männer. Jacob spielte mit mir und er trug Hosen. Ich wollte genauso angezogen werden wie er. Ich war wie er. Ich wusste gar nicht, was Mädchen sein sollten. Ich war jedenfalls keines.“
„Wie alt warst du damals?“
„So um die drei oder vier Jahre. An meinem dritten Geburtstag kam Mama mit einer Kinderpost die Treppe herunter. Daran erinnere ich mich gut. Ich stand immer neben mir und war wütend, wenn ich ein Kleid anziehen sollte. Ich schrie einmal so lange, bis Mama mir endlich Hosen holte. Schon krass, wenn ich mir das vorstelle. Da ist man ein kleiner Mensch und die Umgebung erscheint einem total verwirrend. Es passte einfach nichts zusammen. Mein Kindermädchen war nicht besser als Mama. Sie versuchte auch ständig mir Kleider anzuziehen und ich schrie und boxte sie. Sie starb letztes Jahr. Ich denke manchmal, ich hätte artiger sein müssen.“
Frau Michelsen machte sich Notizen, die sie jetzt zur Seite legte. „Max, du bist nicht schuld am Tod deiner Kinderfrau. Sie hat dich sehr lieb gehabt, so wie du warst. Sie war alt und wurde krank. Sie ist auf eine ganz natürliche Weise gestorben. Bestimmt wollte sie nicht, dass Du glaubst, Du hättest etwas mit ihrem Tod zu tun. Ich möchte nur wissen, wie weit deine Erinnerung zurückreicht. Es gibt die sogenannte genuine Transsexualität und die Sekundäre. Beim ersten ist der Wunsch und das Gefühl dem anderen Geschlecht anzugehören, bereits als Kleinkind vorhanden. Je älter du wirst, umso weiter entwickelt sich dein Gehirn. Irgendwann erlebst du dich als eigenständige Person. Das ist der Beginn der Feststellung deiner Geschlechtszugehörigkeit. Unbewusst identifizierst du dich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Wir gehen davon aus, dass dir dein Gehirn sagt, was du bist: Junge oder Mädchen. Insofern passt man später das biologische Geschlecht dem Gefühlten an. Umgekehrt funktioniert das nicht. Man kann einem Menschen dieses tief empfundene Geschlechtsgefühl nicht nehmen. Und Kinder wie du, bestätigen diese Annahme. Ich denke, wir holen deine Mutter wieder rein.“
Ich stand auf und kam einen Moment später mit ihr zurück.
„Ja, Frau von Wildenstein, ich bin ähnlicher Meinung wie der Kollege in Hamburg. Es liegt wahrscheinlich eine genuine Transsexualität vor. Das bedeutet, Ihr Kind ist mit dem falschen Geschlecht geboren worden. Alles natürlich unter Vorbehalt. Wir müssen gerade bei Kindern immer die Entwicklung abwarten, bevor Maßnahmen ergriffen werden können, die irreversibel sind, wie Stimmbruch oder sogar Operationen. Die geschlechtliche Ausrichtung wird sich noch einstellen. Wir wissen jetzt schlicht nicht, in welche Richtung Max wirklich strebt. Deshalb und weil es bis zum achtzehnten Lebensjahr und darüber hinaus zu vielen Schwierigkeiten mit der Umwelt kommen kann, wollen wir die Kinder psychologisch begleiten. Meistens sind die Eltern dankbar, wenn sie kompetente Ansprechpartner haben. Ich werde Max aufnehmen, jedoch nur insoweit, als wir uns über seinen Lebensalltag und seine Erlebnisse unterhalten und Sie mir über Ihre Sorgen berichten können. Auf keinen Fall wollen wir Max beeinflussen. Er allein bestimmt, wie er oder sie leben möchte. Ich denke alle drei Monate sind für unsere Treffen ausreichend. Max schreibt sich auf, wenn etwas passiert ist, über das er mit mir sprechen muss. Darüber reden wir dann und suchen Lösungen.“
Meine Mutter war beruhigt. Die beiden vereinbarten den nächsten Termin und ich zog sie danach ins angrenzende Eiscafe. Das konnte nicht besser für mich laufen.
Nach den Sommerferien erhielt ich einen Dämpfer. Papa berichtete von einem Telefonat, das er mit dem Bischof persönlich geführt hatte. Pfarrer Lüders tritt aus gesundheitlichen Gründen zurück und ein neuer junger Pfarrer wird sich schon bald in der Gemeinde vorstellen. Ich durfte ab sofort selbstverständlich als Junge zum Messdienst kommen, wenn ich es denn wollte. Der Bischof fragte nach meiner Firmung. Vater legte den Termin auf das nächste Jahr fest, so wäre ich dreizehn Jahre alt und genau im richtigen Alter. Der Bischof wollte sie selbst vornehmen. Ich war nicht der einzige und unsere Firmung sollte ein großes Fest für die Gemeinde werden. Das Problem war allerdings die Eintragung der Firmung in den Taufschein. Die konnte aus rechtlichen Gründen erst nach der amtlichen gerichtlichen Vornamensänderung erfolgen. So müssen sie mich wohl oder übel noch als Mädchen eintragen. Mein Vater meinte, dass das vollkommen in Ordnung sei. Man könnte alles umschreiben lassen, wenn ich erwachsen bin. Hauptsache, der Bischof sprach mich bei der Firmung mit Max an. Das war für den überhaupt kein Problem. Er hob die Bedeutung unserer Familie für die Region und die Gemeinde hervor und welche ruhmreiche Vergangenheit auf Schloss Wildenstein in den vergangenen Jahrhunderten lag, sowohl weltlich als auch katholisch. Mein Vater war nach dem Telefonat sehr zufrieden. Ich weniger. Ahnte ich doch, dass meine Beurlaubung vom Messdienst damit ein jähes Ende fand.
Wie Recht ich damit hatte, merkte ich bereits eine Woche später. Der neue Pfarrer machte uns seine Aufwartung und lud mich gleich als künftigen Erben des Hauses zum Dienst am Sonntag ein. Und ausgerechnet an dem Tag stand wieder ein Turnier in einer Nachbargemeinde an. Vater lächelte und sprach für mich. Natürlich käme ich meiner Pflicht gerne nach und meine stolzen Eltern freuten sich bereits auf die erste Predigt des neuen Pfarrers. Bäh, schleimiger ging‘s wirklich nicht. Mir blieb also nichts erspart.
Am Dienstag war die nächste Reise nach Hamburg geplant. Wir flogen diesmal und ich musste noch bis elf Uhr in den Unterricht. Meine Eltern hatten sich also nicht nur mit dem Pfarrer gegen mich verschworen, sondern auch mit dem Direx.
Trotzdem war die Reise sehr aufregend und ich freute mich, Doktor Reimers zu sehen. Wir unterhielten uns eine ganze Stunde. Anschließend gab er mir die neue Spritze und ich war entlassen.
Die folgenden Wochen vergingen ohne besondere Vorkommnisse, außer dass sie sehr arbeitsintensiv wurden. Für mich hatte sich eigentlich gar nicht so viel geändert, aber mein Leben kam mir jetzt ein gewaltiges Stück eindeutiger und klarer vor. Ich musste niemandem mehr beweisen, dass ich ein Junge war und meine Geschlechtlichkeit nahm immer weniger Platz im Alltag ein, umso normaler dieser wurde.
Meine Mutter versuchte herauszufinden, um wen es sich bei der geheimnisvollen Frau handelte und fragte überall bei ihren Bekannten und in ihren Vereinen nach. Im Nachbardorf wurde sie endlich fündig. Die Fremde war die Tante eines jungen Bauern, dessen Hof etwas außerhalb lag. Sie lebte eigentlich in Köln und führte dort einem Pfarrer den Haushalt. Die junge Bauersfrau, Mutter zweier kleiner Kinder von einem halben Jahr und vier Jahren, war an Krebs erkrankt und musste oft ins Krankenhaus. Die Tante war gekommen, um der jungen Familie zu helfen.
Meine Mutter fuhr sofort auf den Hof. Als Vorsitzende des Landfrauenvereins gehörte es zu ihren wichtigsten Aufgaben, sich um die anderen Frauen zu kümmern und Hilfe zu organisieren, wo Hilfe gebraucht wurde. Georg Zander, der Bauer, arbeitete im Stall, als meine Mutter eintraf. Sie stellte sich gleich vor und berichtete, dass sie von dem Unglück der Familie gehört hatte und die Landfrauen einen Hilfsdienst für ihn organisieren würden. Egal, ob seine Frau Mitglied im Landfrauenverein war oder nicht.
Georg bat sie mit Tränen in den Augen dankbar herein. Seine Frau hatte Brustkrebs und war erst achtundzwanzig Jahre alt. Meine Mutter versprach ihm einen Arbeitsdienst für den Haushalt und eine Kinderbetreuung, bis seine Frau wieder gesund war. Sie wollte gleich am Nachmittag zu ihr ins Krankenhaus fahren, um alles Wichtige mit ihr selbst zu besprechen.
Georg freute sich sehr, denn er teilte die Ansichten seiner Tante nicht immer und die älteste Tochter, die schon in den Kindergarten ging, litt bereits unter deren strengem Regiment. Andererseits war er auf sie angewiesen, aber das änderte sich dank der Landfrauenhilfe nun.
Meine Mutter berichtete ihm von mir und den beiden etwas merkwürdigen Begegnungen. Sie wollte seine Tante gerne kennenlernen. Er versprach, mit ihr zu telefonieren. Die Hilfsaktion startete bereits am selben Nachmittag. Eine der alleinstehenden älteren Frauen packte ihre Sachen und zog ins Gästezimmer des Hofes. Meine Mutter hatte ihren Verein im Griff. Aber die Frauen arbeiteten gerne mit, sie profitierten alle davon. Ich war gespannt auf die Reaktion der Tante, wenn sie erfuhr, dass meine Mutter der Familie nun half.
Eine Woche später saßen wir beim Abendessen und entgegen der üblichen Tischregeln, berichtete meine Mutter von ihrem Gespräch mit Klara Warnke. „Also, die Dame ist dreiundsechzig Jahre alt, Haushälterin bei einem Pfarrer in Köln und wollte zuerst keine Hilfe, weil sie sich wohl für unentbehrlich hält. Georg war da anderer Ansicht. Schließlich lebte sie in Köln und hatte immer eine mehrstündige Zugfahrt zu bewältigen. Natürlich ist sie gerne willkommen und darf helfen, meinte er. Aber die ortsansässigen Landfrauen können viel flexibler reagieren und die Last ist auf viele Schultern verteilt, so dass die Frauen Freude an ihrer Aufgabe haben, weil jede gerne etwas beitragen will. Nachdem ich ihr das erklärt hatte, wurde sie zugänglicher. Ich sprach sie auf ihre Arbeit im Pfarrhaus an und erzählte ihr von dir. Klara hatte ihrem Pfarrer davon berichtet und nicht unbedingt Zustimmung erhalten. Formal ist die Kirchenlehrmeinung auf ihrer Seite. Dennoch muss sich die Kirche dem tatsächlichen Leben stellen, weil es zum Beispiel gerade in Köln viele Homosexuelle gibt. Da ist Toleranz und Respekt gegenüber Menschen mit ihren Problemen gefragt. Niemand außer Gott ist perfekt, meinte der Pfarrer. Daran kaute die Ärmste ziemlich lang. Ich habe sie zum Adventsfest zu uns aufs Schloss eingeladen. Dort könnt ihr euch näher kennenlernen und bitte versuchen, Frieden zu schließen. Sie hat zugesagt und ich hoffe, das leidige Thema ist damit vom Tisch. Du wirst ihr freundlich entgegentreten.“
Ich seufzte nur: „Okay, Mum.“ Mir war das egal.
Das Adventsfest gab es jedes Jahr vor Weihnachten. Der Schlossplatz wurde weihnachtlich geschmückt, einen großen Baum schlug Vater regelmäßig selbst und meistens durfte ich mit in den Wald fahren und ihn aussuchen. Viele Leute kamen, die an Ständen Selbstgebasteltes oder Strickwaren anboten. Natürlich gab‘s Kaffee und Glühwein für die Großen und das ganze Schloss duftete herrlich nach Lebkuchen und Bratwurst. Der Weihnachtsmann kam am Abend, nachdem wir Kinder alle zusammen mit den Erwachsenen Weihnachtslieder gesungen hatten. Meistens fuhr er in der Ponykutsche vor und ganz selten, wenn Schnee lag, kam er im Pferdeschlitten. Ich wusste sehr früh, wer sich hinter dem weißen Bart verbarg. Es war Robert.
Die anderen Jungen grinsten immer, wenn die jüngeren Kinder sich respektvoll seiner Rute näherten. Aber alle bekamen eine Naschtüte aus seinem Sack. Nur die frechsten Jungen erhielten einen Klaps mit der Rute. Für uns war das vom zehnten Lebensjahr an eine Ehre und wir hielten ihm unsere Hintern freiwillig vor. Diesmal wollte ich auf jeden Fall dazugehören und hatte mir ein ordentlich freches Gedicht ausgedacht.
Nichts als Streiche
Der große Tag war gekommen. Wir Jungen warteten schon sehnsüchtig auf den Weihnachtsmann und fanden uns am Naschtütenstand zusammen. Andy wollte ihm eine Gummispinne in den Mantel stecken und Bernd einen Pupssack unter sein Kissen in die Kutsche legen.
Schnee gab es leider keinen und so würde der Weihnachtsmann, also Robert, mit der Ponykutsche kommen. Erst wollten wir ihm noch einen Knaller hinterherwerfen, aber ich wiegelte ab. Die anderen ritten nicht und das war keine gute Idee für mein altes Shetty Pünktchen, das den Weihnachtsmann ziehen musste. Die Schlossuhr schlug fünf Uhr.
Mein Vater stand wie immer auf der Schlosstreppe und bedankte sich bei allen Besuchern fürs Kommen. Wir sollten singen, um dem Weihnachtsmann den Weg hierher zu zeigen. Meine Mutter kam mit Klara auf mich zu. Ach, Shit, das war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. Sie gab mir die Hand und entschuldigte sich für ihre Worte. Ich erwiderte die Entschuldigung und versprach, beim nächsten Turnier besser aufzupassen und ihr nicht wieder auf die Füße zu treten. Meine Mutter nickte zufrieden. Ich nahm die Beine in die Hand, um mich rechtzeitig vor Roberts Ankunft neben die anderen ungezogenen Jungen stellen zu können.
Pünktchens Glöckchen an der Kutsche bimmelte. Die kleinen Kinder sahen mit großen Augen zu dem Miniaturpferdchen, das den dicken Weihnachtsmann scheinbar mühelos zog. Robert hatte sich den Bauch mit Kissen ausgestopft und machte eine ziemlich stattliche Figur. Ich grinste. Andy auch. Pünktchen hielt ich kurz am Halfter, damit es stehen blieb.
Der Weihnachtsmann bedankte sich bei mir. „Wie heißt du denn, mein Junge?“
„Max, heiße ich, Weihnachtsmann, mit dem Sack, stehst hier ‘rum in deinem roten Frack. Äpfel, Nüss‘ und Mandelkern, essen Kids heute nicht mehr gern. Computerspiele und Handys, davon träumen wir und nehmen auch ein kühles Bier. Hasch und Zigaretten können wir zum Rauchen ebenso gebrauchen. Steck die Rute ein, denn Angst haben wir Jungen davor keine. Und wenn du nichts Ordentliches für uns hast, zieh ganz schnell Leine! “
Den begehrten Schlag mit der Rute erhielt ich nicht mehr. Mein Vater hatte mich bei den letzten Worten am Kragen gepackt und ins Haus verfrachtet. Einen Moment später saß ich allein in meinem Zimmer. Der Adventsabend war vorbei und das Fußballtraining fand in den kommenden Tagen ohne mich statt.
Meine Kumpels kamen und fragten, warum ich nicht rauskäme.
Lakonische Antwort von Mia: „Der junge Herr Graf hat Stubenarrest.“
Natürlich hatte ich mich längst bei Robert und meinen Eltern entschuldigt. Vater erzählte, dass er sich fast vergessen und mir am liebsten den Hintern versohlt hätte, wie früher üblich.
Mein Gedicht brachte allerdings das ganze Dorf zum Lachen. Vor allem die Männer, die sich regelmäßig am Stammtisch in der Dorfkneipe trafen, lobten meine Bodenständigkeit in puncto Bier. Schließlich gehörten uns eine Brauerei und eine Schnapsbrennerei.
Der Wirt grinste meinen Vater an, als wir nach dem wöchentlichen Samstagseinkauf wie immer zum Essen reinkamen und meinte: „Der kommt ganz nach dir, Herr Graf. Erinnerst du dich an den Blödsinn, den wir damals verzapft haben?“
Vater tat, als hätte er nichts gehört und schob mich rasch ins Nebenzimmer der Gaststätte, damit ich mir mein Mittag und meine Cola bestellen konnte. Ich wollte protestieren und den Wirt nach Details fragen, aber Vater gab ihm ein Zeichen. Aha, dass mein alter Herr in jungen Jahren seinem Namen alle Ehre gemacht hatte, wusste ich schon von meiner Mutter. Auch Dietrich deutete hier und da etwas an. Zu meinem Leidwesen erfuhr ich jedoch von niemandem Genaueres darüber.
Stattdessen ließ mich unser Deutschlehrer das Gedicht an die Tafel schreiben, berichtigte die Fehler und zeigte uns schönere Weihnachtsgedichte, die wir auswendig lernen und interpretieren sollten. Meine Mitschüler waren stinksauer.
Andy nahm mich sogar auf dem Schulhof in den Schwitzkasten. Deutsch war nicht seine Stärke und eine Klassenarbeit über Weihnachtsgedichte wollte er auf gar keinen Fall schreiben müssen.
Der Direx bemerkte die Rauferei, kam locker auf unsere Gruppe zu und trennte Andy und mich, ohne sich dabei körperlich anstrengen zu müssen. „Gedichte wären ohnehin demnächst drangekommen, meine Herrschaften. Das hat mit den geistlosen Ergüssen unseres jungen Werther, Ähm, Grafen, nichts zu tun. Ihr zwei meldet euch in der Laienspielgruppe, da könnt ihr eure künstlerischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Das kann auch dir nicht schaden, Andreas.“
Ach herrje, das hatte ich nun davon. Ich schluckte, jetzt musste ich nicht nur für das Weihnachtskrippenspiel in der Kirche Rolle und Text lernen, sondern auch noch in der Schulaufführung mitspielen.
Am Heiligen Abend saßen meine Eltern auf unseren gräflichen Stammplätzen in der Kirche. Ich spielte brav den Joseph, die Gemeinde klatschte hinterher Beifall und alles war wieder in Butter. Meine Eltern trugen mir nichts nach. Sie hatten sich damit abgefunden, einen frechen Jungen aufziehen zu müssen.
An Sylvester schneite es. Wir tobten mit dem Schlitten den Schlossberg hinunter und am 2. Januar fuhr ich mit meinen Eltern nach Reit im Winkl. Wir hatten dort ein kleines Hotel gebucht und wollten, wie jedes Jahr, ein paar Tage Ski laufen. Der Hotelangestellte fragte nach meinem Kinderausweis. Meine Mutter erklärte ihm, dass der Mädchenname falsch sei, da ich transsexuell und ein Junge bin. Es gab ein kurzes Gelaber, bis der Hotelmanager meinen Eltern Recht gab und ich als Maximilian einchecken durfte.
Ich verstand deshalb sehr schnell, dass ich Papiere auf meinen männlichen Namen brauchte und fragte meine Eltern, ob man so etwas nicht früher kriegen konnte. Mein Vater versprach, zu Hause unseren Hausanwalt anzurufen. Das war eine blöde Welt, in der die Erwachsenen lebten. Alles musste seine Ordnung haben und Stempel und so. Auf den Menschen kam es nicht an. Es war doch viel wichtiger, gut zu sein, anderen zu helfen und nicht zu viel Blödsinn zu machen.
Nun ja, ich konnte mich nicht immer dran halten und ein paar Ausrutscher unterliefen mir schon. Aber es blieb im Bereich des Erträglichen und ich machte nie etwas kaputt. Am schönsten war es, wenn andere Jungen dabei mitspielten. Zu zweit oder zu dritt machten Streiche einfach viel mehr Spaß. Ich hatte mich zum Beispiel mit Alois, einem dreizehnjährigen Gast aus Garmisch, spät in der Nacht ganz leise auf dem Flur getroffen. Die Hotelgäste durften ihre Schuhe, die geputzt werden sollten, vor die Tür stellen.
Alois und ich vertauschten die Schuhe, so dass der Schuhputzer am nächsten Tag, ohne es zu wissen, alle Schuhe falsch zuordnete. Nur bei unseren Familien machten wir nix. Es fiel nicht auf, aber Dad sah mich mit seinem besonderen Blick an. Er ahnte wohl, wer hinter dem Schabernack steckte. Als ich am nächsten Morgen zu früh wach wurde und um kurz vor sechs Uhr aufstand, wollte ich mir nur etwas zu trinken aus dem Speisesaal holen. Die Bedienung hatte schon angefangen, das Büfett aufzustellen. Ich versteckte mich hinter einem Vorhang. Auf den Tischen lagen die Servietten der Gäste, deren Namensschilder daneben standen. Ich vertauschte die Namensschilder und die Servietten.
Beim Frühstück gab es lautstarke Diskussionen um die richtigen Plätze und manche Gäste baten um neue Servietten, weil ihnen die Flecke auf der angeblich eigenen
nicht geheuer vorkamen. Ich erzählte Alois davon und wir lachten uns zusammen kaputt. Vater sagte nichts. Aber er war sehr froh, als wir endlich nach einer Woche wieder nach Hause mussten. Meine Mutter und er warfen sich vielsagende Blicke zu.
Ende Januar stand Vaters fünfzigster Geburtstag an. Die ganze Familie war eingeladen und Mia hatte zusammen mit der Köchin und einer zweiten Hilfskraft namens Alina alle Hände voll zu tun, um die Vorbereitungen zu treffen.
Ich musste mein Zimmer aufräumen und konnte nicht verstehen, warum. Außer Hubertus und meiner Cousine Beatrix kamen keine anderen Kinder. Beatrix war erst sieben. Und den beiden war es ziemlich schnuppe, wie es in meinem Zimmer aussah. Mum duldete kein Aufbegehren.
Ihre Schwester und ihr Schwager waren eingeladen. Meine Oma natürlich auch, darüber freute ich mich am meisten. Oma war schon ziemlich alt, aber im Oberstübchen noch topfit. Sie konnte herrlich Geschichten erzählen und ich erfuhr auf diese Weise, wie sich das Leben der Leute damals vor und nach dem Krieg in Ostpreußen abspielte. Ihr elterliches Gut gehörte nun dem polnischen Staat. Damit konnte sich Oma nicht abfinden. Sie suchte immer wieder mit den anderen Erwachsenen nach Wegen, wie man den Besitz zurückbekommen konnte.
Mit den Geschäftspartnern von Dad wurden es 120 Gäste. Die Meisten kamen von außerhalb und mussten im Schloss untergebracht werden. Ich hatte angeregt, Hubertus bei mir schlafen zu lassen. Er war älter als ich und ich konnte viel von ihm lernen, vor allem jeden erdenklichen Blödsinn. Als Onkel Ludwig und Tante Friederike ankamen, begrüßte ich sie artig. Sie wussten bereits von mir. Mama hatte mit ihnen telefoniert.
Onkel Ludwig schlug mir auf die Schulter. „Na, also wirst du unser neuer Graf Wildenstein, Max. Ich muss ehrlich sagen, es überrascht mich nicht. An dir ist tatsächlich ein Junge verloren gegangen und ich denke, die Entscheidung deiner Eltern war richtig.“ Er lachte gut gelaunt.
„Wo ist Hubertus?“, fragte ich.
„Er kommt nach, Max. Er hat noch Klausuren zu schreiben“, antwortete meine Tante nicht ohne Stolz. „Aber er freut sich auf dich und will dir viel erzählen, was du als Junge wissen musst.“
Shit und gut. Beatrix war auch noch nicht da. Ihre Mama war die Schwester meiner Mutter. Tante Alexa konnte sehr gut singen. Sie trat in der Oper auf und die Erwachsenen nötigten sie immer, ihnen etwas vorzusingen. Beatrix wollte deshalb ebenfalls Opernsängerin werden. Sie verkleidete sich gerne als Diva und übte fleißig. Wir sahen uns zu den Geburtstagen unserer Eltern öfter. Ich zog sie immer auf und tat erst, als ob ich ihren Gesang schön fände. Sie merkte es und wurde richtig wütend, wenn ich ihr mein selbstverfasstes Gedicht aufsagte: „Frau Königin sind die schönste Vogelscheuche der Welt und Euer Gekreische vertreibt alle Vögel auf dem Feld!“ Aber wir mochten uns trotzdem und sie fehlte mir.
Ich stromerte in die Küche. Am Abend kämen die Gäste zum Essen und die Tafel im großen Festsaal war bereits gedeckt. Die Köchin lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch ihr Refugium und selbst Mia hatte keine Zeit für mich. Andererseits durfte ich das Schloss nicht mehr verlassen, denn ich trug meinen neuen Anzug und Mutter bat mich inständig, mich nicht mehr schmutzig zu machen. So war mir der Ausweg in den Pferdestall versperrt.
Ich schaute mich um. Irgendwie meldete sich mein Magen. Auf dem Tisch standen noch halbwarme Puddingschalen.
„Max, Finger weg vom Nachtisch! Am besten, du verschwindest ganz aus der Küche und lässt dich hier nicht mehr sehen“, rief mir Mia im Vorübereilen wohlweislich zu.
Ich lächelte sie an und machte offiziell Anstalten, wegzugehen. Der Vanillepudding duftete herrlich. Als Mia außer Sichtweite war, steckte ich einen Finger an den Rand einer der Schüsseln. Hm, das schmeckte echt gut. Eigentlich merkt doch keiner was, wenn ich nur am Rand bleibe. Den Rest kann ich ja wieder schön zusammenschmieren, dachte ich mir so. Ich arbeitete mich also durch die Schüsseln. Vanille- und Schokopudding wechselten sich mit Zitronenspeise ab. Als ich durch war und die letzte Schüssel einer Inspektion unterzogen hatte, schlich ich mich aus der Küche.
Lisa, die Köchin, kam gerade wieder mit neuen Köstlichkeiten herein und ahnte etwas.
„Max, was hast du auf der Backe, du Nichtsnutz von Lausebengel? Hast du vom Pudding genascht?“ Mit geschultem Blick sah die alte Lisa die Bescherung.
„Ich, ich hatte Hunger und dein Pudding schmeckte so toll. Wirklich, man sieht nichts, ich bin immer am Rand geblieben.“
Lisa war wie alle Köchinnen eitel, was ihren Beruf anging, und mein Lob traf sie am richtigen Fleck. „Komm, du Lümmel.“ Sie nahm einen Topf vom Herd, in dem sich eine Menge Puddingreste befanden. „Nimm einen Löffel und schmier‘ dich um Himmelswillen nicht voll, sonst bekomme ich Ärger mit der Gräfin.“
Ich nickte. „Nicht nur du, Lisa.“
Als der Topf sauber geleckt war, sah mein neuer Anzug trotzdem entsprechend aus, aber ich war restlos satt geworden. Mia stöhnte auf, als sie mich sah und schickte mich zum Reinigen sofort auf mein Zimmer. Auf keinen Fall sollte ich in dem Zustand meiner Mutter unter die Augen treten.
Auf dem Weg nach oben, hörte ich Hubertus’ Stimme. Er erkundigte sich nach mir. Der Wasserhahn war prompt vergessen, ich stürzte zur großen Eingangshalle und hätte fast Tante Friederike über den Haufen gerannt. Hubertus riss mich hoch und starrte mich an.
„Wow, Maxi, du bist ja ein richtiger Kerl geworden. Du siehst gut aus, Räuber!“
„Du auch, ich bin fast ein bisschen neidisch. Du bist ja schon ein Mann“, sagte ich mit leichtem traurigen Unterton.
„Das kommt bei dir auch, Kleiner. Wann kriegst du deine Hormone?“
„Wenn ich so alt bin wie du. Bis dahin muss ich körperlich Kind bleiben. Aber das hat was Gutes. Man kann länger Streiche machen, ohne richtig bestraft zu werden. Obwohl ich sicher bald wachse. Das hat mir Doktor Reimers jedenfalls erzählt.“
Ich zog Hubertus von Tante Friederike fort nach oben in mein Zimmer. „Leider musste ich aufräumen, Mum war nicht zu bremsen. Sorry, es stinkt nach Putzmittel und sieht echt ätzend aus. Ich fühl mich sehr unwohl. Aber du kannst entweder auf dem Sofa oder auf der Luftmatratze im Zelt schlafen.“
Ich hatte ein Zweimannzelt in der Mitte des Zimmers aufgestellt.
Hubertus lachte. „Ich würde sagen, wir packen dein Bettzeug ins Zelt und pennen beide drin. Hast du eine vernünftige Taschenlampe?“
„Klar und zur Not geht mein Handy. Das macht ebenfalls Licht.“
Die Puddingflecken auf der Jacke fielen mir wieder ein. Ich ging kurz ins Bad.
„Erzähl mir noch mal dein Gedicht. Onkel ist wohl völlig ausgerastet, hab ich von meiner Mutter gehört“, forderte er mich auf.
Natürlich stellte ich mich gleich in Positur.
„Du solltest Schriftsteller werden, so etwas kann nicht mal ich mir ausdenken und das reimt sich alles.“
Hubis Blick verriet Bewunderung.
„Es ist nicht ganz okay. Unser Deutschlehrer hat es noch mal auseinandergenommen und uns die Versmaße erklärt.“
„Trotzdem, für einen Zwölfjährigen eine Meisterleistung. Zeig mal deinen neuen Reitpokal.“
Ich holte ihn und einen zweiten, den ich vor drei Wochen gewonnen hatte. „Hier, das ist der E-Pokal von unserem Turnier und dieser ist aus Siebenstetten, Pony E Stil. Zweimal 8,8. Was sagste?“
„Super, ich bin dreimal im L gestartet. Wurde aber nie platziert. Mein Pferd hat ‘ne Menge Kleinholz hinterlassen.“
Die Tür ging plötzlich auf. Mia stand im Zimmer. „Ach, hätte ich es mir denken können. Ihr zwei Spitzbuben. Herr Hubertus, Sie sind kein Kind mehr. Also, ich sehe Sie jetzt als jungen Mann an. Lassen Sie sich bitte nicht von Max zu Blödsinn verleiten“, sagte sie und setzte nach: „Die Frau Gräfin bittet euch beide herunter zukommen, vor allem Max. Einige Gäste haben Süßigkeiten für ihn dabei. Hast du gar nicht verdient!“
I
ch sprang auf. „Hab ich immer verdient. Ich bin der bravste Junge der Welt.“
Mia tat, als ob sie sich verschluckte. Wir ordneten unsere Kleidung und liefen runter in die Empfangshalle. Mutter kam gleich auf mich zu und musterte meinen Anzug mit kritischem Blick. Ihr entging nichts.
„Komm, der Bürgermeister will dir guten Tag sagen und da sind noch mehr Leute, die du kennen lernen musst.“
Ich setzte mein artigstes Gesicht auf. Nach einer halben Stunde Smalltalk besaß ich so viel Naschis, dass ich einen Süßwarenladen damit hätte eröffnen können. Die Nacht mit Hubertus im Zelt war gerettet. Ich musste nur noch ein paar Flaschen Cola organisieren und überlegte, wie ich an etwas Schnaps kommen konnte. Die Getränke wurden von Dietrich und seinem jungen Kollegen Fritz ausgeschenkt. Die passten mit Argusaugen auf, dass ich nicht etwas Hochprozentiges klaute. Sogar das Bier war tabu.
Um 19 Uhr saßen alle auf ihren Plätzen. Ich war zwischen Vater und Mutter an die Spitze der Tafel platziert worden und hatte somit keine Chance an Blödsinn und Streiche nur zu denken. Hubertus saß neben seinem Vater und Beatrix, die inzwischen angekommen war, musste neben ihrer Mutter sitzen. Einen Kindertisch wie früher, gab es nicht.
Ich war allerdings von meiner Mutter instruiert worden, eine kleine Laudatio auf meinen Vater zu halten, um mich auf diese Weise den Geschäftspartnern und Honoratioren der Gemeinde als Erben vorzustellen. Mutter berührte unauffällig meine Hand und schlug mit dem Löffel an ihr Glas. Augenblicklich wurde es mucksmäuschenstill im Festsaal.
Ich stand auf und wandte mich meinem Vater zu. Das Herz rutschte sofort in Richtung Hose. Die Buchstaben auf dem Blatt Papier, das vor mir auf dem Tisch lag, verschwammen vor meinen Augen und erinnerten mich an mein letztes Erdkundereferat. Unser Lehrer hatte uns geraten, in so einem Fall nicht an den Text zu denken, sondern den Anwesenden einfach zu sagen, wie man sich fühlt. Ein ehrliches Wort lockert auf und schafft eine familiäre Atmosphäre, meinte er. In der Schule hatte es sehr gut funktioniert. Okay, ich beschloss, den Rat zu befolgen.
„Liebe Gäste, liebe Familie und natürlich lieber Papa! Letzte Woche musste ich ein Erdkundereferat halten und ich war ziemlich aufgeregt. Das bin ich jetzt auch. Wenn ich selbst Geburtstag habe, genügt ein ‚Danke, dass ihr alle gekommen seid, ich wünsch euch ein schönes Fest und guten Appetit. ‘ Das ist heute sicher zu wenig, denn ich habe keinen Geburtstag, sondern mein Vater. Und der ist der beste Vater der Welt, jedenfalls meistens. Dad, ich hab dich lieb und ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag. Ein Geschenk hab ich natürlich auch für dich. Deine Reithandschuhe sind kaputt und Mum hatte letzte Woche mein Taschengeld erhöht, damit ich dir ein paar Neue kaufen konnte.“
Während die Gäste lachten, hob ich das Päckchen, das unter meinem Stuhl lag auf und gab es meinem Vater, der gerührt aufgestanden war und mich fest in die Arme nahm. Hach, das war geschafft. Meine Augen streiften die meiner Mutter. Sie sah mich durchdringend an. Fehlte noch etwas? Sie blickte zu meinem Glas, welches inzwischen mit Apfelsaft gefüllt war. Natürlich.
„Bitte nehmt jetzt alle eure Gläser und steht auf und dann singen wir das Geburtstagslied.“ Ich war noch nicht am Ende, da sangen schon alle Happy Birthday. Das Lied dauerte, die Gäste kannten Strophen, die ich noch nie gehört hatte. Meinen Vater brachten sie zum Schmunzeln. Den folgenden Applaus konnte ich für mich einheimsen. Vater meinte, dass er vor Stolz gleich platzen könnte. Hatte er damit die Urlaubsstreiche endgültig vergessen?
Im Laufe des Abends gab es viele Vorführungen und Gratulationen. Auch Beatrix brachte ein Geschenk und sagte ein Gedicht auf. Hinterher gab sie eines ihrer Liedchen zum Besten. Sie vermied es allerdings, mich dabei anzusehen, denn meine Lippen formten bereits den Spruch, den ich nur für sie gedichtet hatte. Sie kam mir später zuvor. Als der offizielle Teil vorbei war und die Ehrentänze stattgefunden hatten, konnten wir uns leger unters Volk mischen. Hubertus nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss. Sie hielt mir ihre Wange hin. Ich schmatzte ihr die Lippen drauf und wollte gerade leise meinen Spruch loslassen, da knuffte sie mir in den Magen.
„Heute ärgerst du mich nicht, du ärgerst mich ab sofort überhaupt nicht mehr. Meine Mama hat mich nämlich zum Taekwondo angemeldet“, gab mir meine kleine Cousine keck zu verstehen. Oh, interessante Neuigkeiten.
„Ihr bleibt ja noch ein paar Tage. Trainieren wir zusammen und ich zeig dir ein paar tolle Tritte. Also, das heißt: Frieden auf ewig zwischen uns!“ Beatrix schlug in meine Hand.
„Frieden, und wenn du Blödsinn machen willst, sag Bescheid. Ich bin jetzt alt genug für Streiche.“
Hubertus hatte alles mitbekommen. „Schön, ihr zwei, dann wird die Tradition der Raubritter von Wildenstein ja fortgesetzt. Ich bin nun leider etwas zu alt und muss mich wie ein Erwachsener benehmen. Aber ihr beide werdet das schon machen.“
„Max“, meine Mutter zog mich mit sich. „Das ist Frau Baronin Schönefels. Sie ist Eventmanagerin und ich möchte dich ihr vorstellen.“
„Max von Wildenstein, guten Abend, Baronin.“ Ich gab ihr die Hand und verbeugte mich, wie es sich für einen jungen Grafen gehörte. Irgendwie fand ich gar nichts mehr dabei. Es war beileibe keine Dressur. Wenn ich nicht will, kann sich meine Mutter auf den Kopf stellen und die Zähne ausbeißen. Das wusste sie. Nein, ich fand unsere Festlichkeiten einfach schön und begann, die alten Traditionen und das Standesverhalten gerne zu pflegen. Allerdings nur in der männlichen Rolle.
„Na, das nenne ich aber galant. Du bist ja bereits ein richtiger Charmeur. Kannst du schon tanzen?“, fragte sie.
Das machte mich etwas verlegen. „Nein, leider nicht. Aber ich denke, meine Mutter wird mich sicher bald zum Tanzkursus in der Stadt anmelden. Ich werde demnächst dreizehn Jahre alt. Einige Mädchen in meiner Klasse sind schon dabei. Jungen, die nicht auf einem Schloss leben, halten in der Regel nicht so viel davon. Ich spiele Fußball und reite sehr gut. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen die Ställe und mein Pony.“
So, die hatte ich um den Finger gewickelt und meine Mutter schien genau wie mein Vater vorhin bei der Tischrede gleich vor Stolz und Überraschung zu platzen. Auf diese Weise hatte ich einige Pluspunkte eingeheimst und war auf der sicheren Seite. Man konnte nie wissen, wofür so etwas gut war. Ich gehörte nicht gerade zu den Unschuldslämmern. Die Baronin schien begeistert.
„Gerne, ich reite auch. Allerdings Dressur und ich war ein paarmal bei den Deutschen Meisterschaften dabei. Ein guter Freund von mir managt das Internationale Turnier in Aachen. Warst du schon einmal da?“ Hui, die hatte tatsächlich Ahnung und war mir sofort sympathisch.
„Nein, aber das wäre im Herbst mal ein schöner Ausflug. Da muss ich mit meinem Vater sprechen. Er sucht die Turniere für uns aus und hat mir versprochen, dass wir irgendwann nach Hamburg zum Derby fahren. Ich muss dort immer zum Arzt.“
Ich zeigte ihr den Weg über einen Verbindungsgang vom Schlossgebäude zum Stall.
„Gibt es hier richtige Geheimgänge?“, fragte sie. „Du darfst übrigens Maren zu mir sagen. Reiter sollten sich duzen.“
„Schön, ja, es gibt mehrere Geheimgänge. Einige davon kenne ich, aber zwei sind nur auf der Karte eingezeichnet und nicht mehr zu finden. Die ursprüngliche Burg ist im achtzehnten Jahrhundert abgebrannt und beim Wiederaufbau hat man sie sicherlich zugeschüttet. Wir haben auch zwei Schlossgespenster. Aber du bleibst heute Nacht nicht hier, sonst könntest du sie kennen lernen.“
„Oh, wie schade. Ich schlafe im Hotel, weil ich morgen früh ganz schnell nach Düsseldorf muss. Ich richte Sport- und Musicalevents aus. In Hamburg betreue ich den König der Löwen. Soll ich euch Karten besorgen?“
Wir waren vor Chesters Box angekommen. „Ja, das wäre toll. Und hier ist Chester, mein bester Freund.“
Wow, da hatte sich das gute Benehmen mal gelohnt. Wenn wir eine Nacht in Hamburg blieben, könnten wir den nächsten Termin bei Herrn Reimers dazu nutzen. Maren entpuppte sich wirklich als ganz Nette. Sie erklärte mir die Hilfen bei verschiedenen Dressuraufgaben, aber Chester war zur hohen Schule nicht zu bewegen. Solange er springen konnte, machte er willig mit. Dressur war nicht sein Ding. Ich überlegte, wie alt Maren wohl war. Sie sah jünger aus als meine Mutter. Die hatte im letzten Jahr ihren fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Daran erinnerte ich mich noch sehr gut. Mir war nämlich der volle Bowlentopf vom Tisch gefallen, als ich heimlich versucht hatte, mir ein Glas davon einzuschenken. Das war ein Aufstand gewesen.
Nach dem Rundgang verabschiedete ich mich von Maren. Es war mittlerweile elf Uhr. Ich spürte meine Müdigkeit und konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.
Vater kam, brachte mich noch zu zwei Geschäftspartnern und stellte mich einem Politiker vor, der im bayerischen Landtag saß. Nach dieser Pflicht fragte er, ob ich mich verabschieden wollte. Ich bejahte und wurde mit großem Applaus und vielen Gutenachtwünschen ins Bett geschickt.
Beatrix lag schon im Tiefschlaf im Nebenzimmer, als ich mich auszog. Einen Moment später kam Hubertus ‘rauf. Er hatte zwei Flaschen Bier dabei und grinste.
„Es geht doch nichts über ein schönes Wildensteiner Pils.“ Lachend schob er sie ins Zelt.
„Ich putz nur schnell Zähne, Hubi. Danach erzählst du mir alles über Mädchen. Darüber weiß ich nämlich noch gar nichts oder besser gesagt, nicht viel“, sagte ich.
Ich fühlte mich wie ein Mann, als wir unsere Bierflaschen aneinanderschlugen. Der bittere Biergeschmack begann mir langsam zu gefallen. Ich hatte bereits klamm heimlich ein paar Flaschen für meine Kumpels und mich aus unserer Brauerei gestibitzt. Leise erzählte ich Hubertus von dem alten Bootshaus am See, in dem wir uns immer trafen, wenn wir etwas aushecken wollten. Meine erste Zigarette hatte ich dort geraucht. Wir beschlossen, morgen im Lauf des Tages hinzugehen und Vaters alter Segeljolle einen Besuch abzustatten. Als ich Hubertus nach seinen Erfahrungen mit Mädchen fragte, zeigte er mir seine neue Freundin auf dem Handyfoto.
„Habt ihr schon geknutscht und mehr?“ Hubi grinste und trank sein Bier in einem Zug aus. Er nahm meinen Laptop und gab mir sein Passwort für eine Website, auf der er sich angemeldet hatte.
Die erste richtige Aufklärungsstunde als Junge konnte nicht besser gelaufen sein. Bei Männern funktionierte das einfach anders. Da nahm der Vater den Sohn in der Regel erst zur Seite, wenn der durch Freunde, ältere Brüder oder Vettern bereits informiert war und im Grunde mehr wusste als der Vater. Es wurde ein toller Abend und eine ebensolche Nacht. Das Bier machte müde. Irgendwann schlief ich leicht benebelt ein.
Mia weckte uns am nächsten Morgen und fand… die Bierflaschen. Entsetzen machte sich breit. Doch sie verzog nur das Gesicht, sammelte die beiden Flaschen schnell ein und drohte mir mit dem Finger. Ich wusste, sie würde dicht halten. Auf Mia war immer Verlass.
Die ganze Familie genoss das Frühstück am großen Tisch. Stimmungsmäßig waren vor allem meine Eltern aufgekratzt. Alle Gäste, die bei uns geschlafen hatten, lobten das gelungene Fest und schwärmten in den höchsten Tönen. Onkel Ludwig erzählte ihnen von unseren beiden Schlossgespenstern, die ausnahmsweise nicht aufgetreten waren. Bedauernd blickte ich zu Hubertus. Ja, das war schade. Aber wir waren diesmal zu müde gewesen um die zwei wieder zum Leben zu erwecken.
„Sie wollten den schönen Abend sicher nicht stören“, beeilte er sich zu sagen. Onkel Ludwig lächelte wissend.
„Dann werden wir uns mal auf den Frühschoppen im Weinkeller freuen. Und heute Nachmittag sind hoffentlich die obligatorischen Besichtigungen der gräflichen Spirituosenbetriebe vorgesehen?“, fragte er augenzwinkernd meinen Vater, der auf die Frage gewartet hatte und schmunzelte.
„Aber sicher, frühstückt gut und schafft euch eine feste Unterlage“, kam seine prompte Antwort.
Mein Vater war sehr stolz auf unser Unternehmen. Augenblicklich sprachen alle durcheinander und wollten mehr über den geplanten Tagesablauf wissen. Das kam uns ebenso gelegen wie das Büfett. Jeder konnte aufstehen und sich nehmen. Meine Eltern waren mit den Gästen beschäftigt. Es wird niemandem auffallen, wenn wir uns aus dem Staub machen. Hubi warf mir einen aufmunternden Blick zu. Jetzt oder nie.
Während die Schlacht am kalten Büfett durch die Erwachsenen weiter tobte, standen wir rasch auf und schlichen uns gesättigt aus dem Schloss. Draußen schrieb ich SMS an Andy und zwei weitere Freunde aus dem Dorf sowie Jacob, Mario und die beiden Jungen von Dietrich: Martin und Carsten. Die zwei lebten mit ihren Eltern im renovierten Gesindehaus auf dem Schlossgelände und waren schon fünfzehn bzw. siebzehn Jahre alt.
Ich bestellte alle zum Bootshaus, sobald sie konnten. Martin schrieb gleich zurück, dass sie etwas später kommen. Sie mussten ihrem Vater helfen, der wegen der Geburtstagsgäste viel Arbeit hatte und zudem für die Parkplätze der Autos zuständig war. Als wir uns auf den Weg zum See machten, kamen uns deshalb zuerst Mario und Jacob freudestrahlend entgegen gelaufen. Sie hatten es nicht weit vom Försterhaus zum See.
„Das war eine gute Idee, unsere Eltern wollten uns nämlich schon Aufgaben verpassen, weil sie auf dem Schloss gebraucht werden. Wir sind gerade noch rechtzeitig getürmt“, rief Jacob aus.
Ein schmaler verschlungener Pfad führte einige hundert Meter durch den Wald. In der Zwischenzeit war der meiste Schnee wieder weggetaut, aber etwas Raureif umgab noch die Pflanzen am Wegesrand. Es war knapp unter null Grad und der Boden gefroren. Unser privater See lag versteckt. Ein Mischwald säumte das Ufer, welches von Schilf bewachsen war. Unter den Strahlen der Morgensonne glitzerte das ruhige Wasser. Dünne Eisplättchen schwammen darauf. Der See bot zu jeder Jahreszeit einen herrlichen Anblick. Vater wollte, dass Unterholz und die Zuflüsse sich selbst überlassen bleiben sollten. Der ganze Bereich war ein Biotop und Eingriffe in die Natur kamen für ihn nur im äußersten Notfall in Frage. So hatte sich ein wunderschönes Kleinod bilden können, welches nicht nur seltenen Pflanzen, sondern auch unzähligen Tieren einen perfekten Lebensraum bot.
Ich nahm deshalb nicht ohne Stolz den großen verrosteten Schlüssel vom Haken und schloss die Tür zum Bootshaus auf. Sie knirschte laut. Zwei Enten, die es sich in Ufernähe gemütlich gemacht hatten, schreckten auf und flatterten davon. Vaters Jolle und das alte Ruderboot lagen aufgebockt über dem Wasser, um den Winter unbeschadet überstehen zu können. Wir hatten die letzten Jahre wenig Eis gehabt und Vater ließ die Boote aus reiner Gewohnheit zur Vorsicht aus dem Wasser holen.
Jacob und Mario kletterten lachend ins Ruderboot. „Wir haben geholfen, sie aus dem Wasser zu ziehen und schon einiges repariert, Hubi. Im Sommer können wir wieder segeln“, erzählte Jacob.
„Kommst du in den großen Ferien?“, fragte Mario.
Hubertus nickte. „Ich hoffe sehr, denn ich soll Ende des nächsten Schuljahres Abi machen und etwas Erholung davor kann wirklich nicht schaden. Es ist so schön hier.“ Füße stampften draußen, als ob eine Elefantenherde auf dem Vormarsch war.
„Hallo, miteinander. Hubertus, lange nicht gesehen!“ Fröhlich nahm Martin seinen gleichaltrigen Freund in den Arm. Carsten klopfte diesem auf den Rücken. Er freute sich ebenfalls sichtlich über das Wiedersehen. Ich sprang zwei Stufen nach oben und öffnete die Tür zum angrenzenden Aufenthaltsraum. Es war kalt darin, doch als der Heizlüfter lief, breitete sich schnell wohlige Wärme aus. Jeder suchte sich einen gemütlichen Platz auf der Couch oder in den alten Sesseln, die ich vor dem Sperrmüll retten konnte, als das Gesindehaus umgebaut wurde. Dietrichs Söhne hatten einen Rucksack dabei.
„Voila!“ Carsten zog die erste Bierdose heraus und stellte sie auf den Tisch. Er spielte den Zauberer und nach jedem Abrakadabra stand eine weitere Dose daneben. Draußen polterte es erneut. Andy, Marlon und unser Torwart Frank schubsten sich gegenseitig zur Tür rein.
„Hi Hubertus, alles gut? Was sagst du zu Max? Er ist jetzt einer von uns!“ Andy grinste und gab Hubi fünf.
„Das war er eigentlich schon immer. Aber wir haben es nicht besser gewusst. Ich freu mich jedenfalls. Hemd und Hosen stehen ihm wesentlich besser als Kleider“, antwortete er.
„Ja, das stimmt. Beim Fußball hatte ich nie das Gefühl, von einem Mädchen besiegt zu werden“, erzählte Jacob lachend und boxte mir übermütig in die Seite.
Es war ein grandioses Gefühl, als Junge mit den anderen Jungen hier zu sitzen und ihnen zuzuhören, vor allem den Älteren. Sie begannen von Mädchen zu erzählen. Andys Augen quollen fast über. Ich überlegte später, ob die drei großen Jungs uns nicht einen Bären aufgebunden hatten. Konnte das alles wahr sein? Mir kamen echte Zweifel.
Um halb zwölf Uhr beendeten wir unseren Stammtisch. Hubertus und ich machten uns mit Martin und Carsten in Richtung Schloss auf. Unsere Väter hatten ihren Frühschoppen im Weinkeller gehabt und wollten am Nachmittag zur Brauerei runterfahren. Robert sollte alle mit der Kutsche dorthin bringen, damit niemand nach der Verköstigung ins Auto steigen konnte. Zu unserem Besitz gehörten neben dem Schloss und den Wäldern, ein Sägebetrieb, eine Brauerei und eine Schnapsbrennerei. Vater hatte alles von meinem Großvater geerbt, der vor meiner Geburt gestorben war. Eines Tages sollte ich das Familienimperium übernehmen.
Wenn ich Zeit hatte, begleitete ich meinen Vater zu Horst, dem Braumeister. Beim Probieren schlürfte man das Getränk in den Mund, spuckte aber danach alles wieder aus. Was für eine Verschwendung! Aber das gehörte sich so.
Hubertus und ich saßen am frühen Nachmittag bei Robert auf dem Kutschbock. Beatrix kam angerannt und ich zog sie auf meinen Schoß. Unser Familienanhang, zwei Geschäftspartner und weitere Bekannte meines Vaters tummelten sich alsbald auf dem Kutschwagen.
Meine Mutter war zu Hause geblieben. Sie wollte die Kaffeetafel herrichten und machte sich nichts aus dem schrecklichen Gelage, wie sie sich immer ausdrückte. Vater erklärte ihr stets, dass die Brennerei und die Brauerei unseren Lebensunterhalt absicherten und sie schwieg daraufhin.
Allerdings sah sie heute missbilligend, dass ich ebenfalls auf der Kutsche saß. Vater sollte unbedingt auf mich aufpassen. Er versprach es und ich versprach ihm im Stillen, dass er es nicht schaffen würde. Ich wollte nach Möglichkeiten Ausschau halten, an Trinkbares heranzukommen. Nicht für mich. Der Doppelkorn hatte viel Alkohol und schon der Geruch löste Übelkeit bei mir aus. Um den gut zu finden, musste ich wirklich noch älter werden.
Aber für Streiche war es nicht schlecht, eine geheime Quelle zu haben. Außerdem gab es viele Leute, die man damit schmieren konnte. Dass das nicht in Ordnung war, wusste ich.
Aber der Laden gehörte mir irgendwann sowieso. Warum sollte ich nicht jetzt schon von Zeit zu Zeit etwas abzweigen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot? Dass meine Unbekümmertheit fast ein Menschenleben ruinieren sollte, ahnte ich zu dem Zeitpunkt nicht. Sonst hätte ich mich sicher eines Besseren besonnen.
Der Nachmittag war für unsere Gäste nicht nur von der alkoholischen Seite der Höhepunkt ihres Besuchs bei uns. Auch die Interessierten, die sich bei Schnaps und Bier zurückhielten, kamen voll auf ihre Kosten. Die Braumeister aus beiden Betrieben erklärten haargenau, wie aus Hopfen, Malz und Wasser Bier entstand und wie man aus Kartoffeln Schnaps herstellte. Ich wurde bei jedem Vortrag klüger und konnte sogar schon selbst einiges dazu erzählen. Beatrix und ich bekamen nur Brause, aber ich fand während der Führung, wonach ich suchte und war mir sicher, unbemerkt an Hochprozentiges kommen zu können, wenn ich es wollte.
Der Tag hatte sich gelohnt. Zumal sich Hubertus mit ein paar Bierflaschen im Rucksack eindeckte und ich wusste, dass wir diese heute Abend im Zelt tranken. Dabei konnten wir uns auf die Dinge einstimmen, die auf dem Laptop zu sehen waren.
Leider überraschte uns meine Mutter bei unserer Rückkehr mit der freudigen Nachricht, dass sich Tante Alexa bereit erklärte, etwas aus ihrem Opernrepertoire zum Besten zu geben. An Abhauen war also für Hubertus und mich vorerst nicht zu denken. Wir mussten uns notgedrungen einige Arien anhören.
Hubertus hatte Glück, denn er durfte offiziell schon Wein und Bier trinken. Aus harten Sachen machte er sich nichts. Allenfalls in Verbindung mit Cola, die Beatrix und ich erhielten, wobei meine kleine Cousine viele Säfte von ihrer Mutter bekam. Die sind gesünder als Cola, meinte Tante Alexa. Einige Erwachsene erklärten, dass Bier ebenfalls gesund für die Nieren wäre. Die Diskussion wurde lautstark den halben Abend geführt und immer leidenschaftlicher, je mehr Bier floss.
Irgendwann witterten Hubertus und ich unsere Chance. Beatrix half uns ungewollt. Sie wurde sehr müde und musste um halb zehn Uhr ins Bett gebracht werden. Hubi und ich begleiteten sie und schlichen uns danach in mein Zimmer.
Am übernächsten Morgen war der schöne Spuk Geschichte. Um halb Eins fuhren die letzten Gäste nach Hause. Ich drückte Hubertus zum Abschied. Er versprach, in den Sommerferien ein paar Tage Urlaub bei uns zu machen. Beatrix musste auch wieder mit ihren Eltern zurück.
Einzig Oma blieb. Sie hatte zwei Wochen Ferien bei uns eingeplant und wollte mal wieder richtig mit Mum quatschen. Toll! Ich hatte in den letzten zwei Tagen kaum Zeit für Oma gehabt und freute mich auf ihre Geschichten. Sie nahm mich an die Hand. Wir gingen wieder ins Haus, nachdem das Auto mit Beatrix den Schlosshof verlassen hatte.
„So, Maxi, jetzt wollen wir beide es uns gemütlich machen. Aber erst einmal helfen wir der Mama, alles in Ordnung zu bringen.“ Mia, meine Mutter und die Köchin packten in der Küche Speisen und Getränke ein, um sie in die Gefriertruhen und Speisekammern zu lagern. Der Festsaal musste aufgeräumt werden, ich trug Stühle in die oberen Räume und half Dietrich, die Tische wieder ordentlich zusammenzuschieben.
Am Nachmittag saßen wir alle im Wohnzimmer. Der Kuchen schmeckte jetzt am nächsten Tag noch viel besser und ich langte ordentlich zu.
„Max“, fragte Oma. „Willst du wirklich wie ein Junge leben? Hast du keine Angst vor der Operation, das wird doch bestimmt wehtun?“ Ich schüttelte energisch den Kopf.
„Nein, Oma, ich hab gar keine Angst. Ich bekomme ja eine Narkose und selbst, wenn nach der Operation noch Schmerzen da sind, will ich die gerne aushalten. Ich bin ein Junge und ich möchte so leben und von anderen Menschen wie ein Junge behandelt werden.“
Oma seufzte tief. „Was es heute alles gibt. Das war zu meiner Zeit nicht möglich, Adelheid. Damals wären solche Kinder weg gekommen und man hätte nie wieder etwas von ihnen gehört. Weißt du, Max, wir mussten noch gehorchen. Unsere Eltern waren sehr streng und die Regierung auch.“
Ich hing an Omas Lippen. Wir hatten gerade in der Schule vom zweiten Weltkrieg und von Hitler gehört. Da waren viele furchtbare Sachen passiert.
„Unser Lehrer hat berichtet, dass sie die Juden umgebracht haben“, konnte ich deshalb erzählen.
Oma nickte sehr traurig. „Nicht nur die, mein Kind. Alle, die nicht ins Regime passten, kamen in Konzentrationslager und wurden dort gequält und getötet. Wenn ich es so bedenke, ist es gut, dass wir den Krieg verloren haben. Nur unser schönes Schloss ist weg. Weißt du, als ich so alt war wie du, da sind wir…“
Ich hörte Oma zu und legte mich lang aufs Sofa. Mum schmunzelte. Sie nahm ihr Strickzeug in die Hand. Draußen hatte es zu schneien angefangen und hier bei uns knisterte ein helles flackerndes Feuer im Kamin. Oma erzählte und erzählte. Irgendwann schlummerte ich vor mich hin und träumte von Ostpreußen, von den masurischen Seen und von Pferdeschlitten.
Omas Gut muss riesig gewesen sein. Tante Alexa wollte mit ihr dorthin fahren. Es war seit langem möglich. Aber Oma lehnte das immer ab. Sie wollte ihr Zuhause in Erinnerung behalten, wie es damals war, als sie Hals über Kopf mit dem Pferdewagen fliehen musste. Es war sehr kalt gewesen im Winter 1945.
Ich malte mir aus, wie ich mich fühlen würde, wenn Mama plötzlich käme und mich ins Auto packte und wir unser Schloss für immer verlassen müssten. Oma tat mir unendlich leid. Und ich beschloss, was ich ohnehin stets tat, sehr brav bei ihr zu sein. Wie werde ich einmal denken, wenn ich fast neunzig Jahre alt bin? fragte ich mich.
In den nächsten Tagen zog der Winter wieder richtig ins Land. Robert brachte mich mit dem Pferdeschlitten zur Bushaltestelle. Auf dem Weg dorthin hielten wir am Försterhaus an und nahmen Jacob und Mario mit. Der Schlossteich war zugefroren. Papa erlaubte uns darauf Schlittschuh zu laufen. Er kam oft am Nachmittag und spielte mit uns und den Stallburschen Eishockey. Die Großen tranken Glühwein, den Mia ihnen aufs Eis brachte und wir Kinder bekamen heißen Kakao.
Ende der Woche hieß es im Wetterbericht, es würde noch mehr Schnee fallen. Das konnte uns nur recht sein. Bislang schaffte es der Schulbus nämlich immer noch. Aber am Montag kam die erlösende Nachricht durchs Radio: Endlich schneefrei! Zwar blieb dabei das Fußballhallentraining auf der Strecke und zum Kampfsport konnte ich ebenfalls nicht kommen. Aber die Reitstunden fanden in unserer eigenen Reithalle statt und liefen wie gewohnt weiter. Mit Jacob und Mario baute ich Unmengen Schneemänner in den Schlosshof.
Anfang März war das herrliche Wetter allerdings vorbei und alles normalisierte sich, nachdem der Schnee abgetaut war. Wir bereiteten uns mit dem Pfarrer auf unsere Firmung vor. Sie sollte am 2. Mai stattfinden. Der Pfarrer war eigentlich ganz okay. Er bestand nur auf Anwesenheitspflicht. Wir mussten regelmäßig am Sonntag zur Messe und in die Beichte kommen, doch der Unterricht war nicht so schlimm wie bei Pfarrer Lüders. Ich sollte oft als Messdiener helfen und hatte mich dafür mit Andy zusammengetan.
Der neue Pfarrer war mit seiner Haushälterin, einer ältlichen dicken Frau namens Mathilde ins Pfarrhaus eingezogen. Mathilde kochte sehr gut und wir beobachteten sie, wenn sie in die Kirche ging und aus dem Schrank, in dem der Messwein aufbewahrt wurde, die angebrochenen Flaschen herausnahm. Sie kippte das meiste davon in das Essen für den Pfarrer, trank aber immer ein Gläschen beim Kochen.
Andy und ich waren uns einig. Da musste etwas getan werden. Der Weinschrank stand offen, so kamen wir ungehindert dran. Ich hatte eine Idee. Andy und ich identifizierten uns gerne mit Max und Moritz. Die gute Mathilde sollte merken, welche Wirkung Wein haben konnte.
Es war ganz einfach. Ich fuhr in die Schnapsbrennerei und tat so, als ob ich meinen Vater suchte. Außerdem kümmerte sich dort eh niemand um mich, ich war ja der Junior. Manchmal gingen Flaschen kaputt und der Schnaps wurde in einem gesonderten Bottich zur Vernichtung aufbewahrt.
Die Frauen, die an der Abfüllmaschine standen, durften nicht raus. Das hatte steuerliche Gründe, denn der Schnaps musste vom Zoll mit einer Plombe verschlossen werden. Sie nahmen sich oft eine Wanne davon aus dem Bottich mit in ihren Aufenthaltsraum, der ebenfalls während der Arbeitszeit nur von innen zugänglich war, und badeten ihre Füße darin. Das kühlt schön und durchblutet die Füße, hörte ich sie sagen.
Die vollen Wannen blieben nach der Pause im Aufenthaltsraum stehen. Ich hatte mir eine Brauseflasche mit heller Zitronenlimo eingesteckt und zeigte sie dem Zöllner, als ich ins Innere der Fabrik ging. Auf dem Klo kippte ich den Rest, den ich nicht ausgetrunken hatte, weg. Die Flasche füllte ich mit dem Schnaps aus der Fußwanne, nachdem die Frauen wieder an die Arbeit gegangen waren. Unbekümmert zeigte ich dem Zöllner meine Flasche vor. Der drohte mir mit dem Finger, weil er glaubte, ich wollte ihn veräppeln.
Andy wartete schon in der Sakristei. Schnell präparierten wir die angebrochenen Weinflaschen zusätzlich mit 38 prozentigen Doppelkorn.
Am Sonntagmorgen achteten wir darauf, dass nur erwachsene Helfer den Wein in den Kelch für den Pfarrer füllten oder er dies selbst tat. Andy und ich machten uns fast in die Hose, als er seelenruhig seinen Wein austrank und an seinem Minenspiel sahen wir, dass es ihm allem Anschein nach mundete.
Igitt, da hatten sich die Frauen die Füße drin gebadet. Aber vor allem wurde der Wein dadurch sehr alkoholisch. Der Pfarrer hielt sicher ein gutes Mittagsschläfchen. Mathilde nahm die angebrochene Flasche gleich zum Ablöschen ihres Schweinebratens mit. Wir feixten nach der Messe.
Das Ganze ging zwei Wochen gut. Dann passierte ein Unglück, dass mich sehr nachdenklich stimmte und mir die Freude an den Jungenstreichen von Max und Moritz abrupt nahm.
Der Pfarrer hatte die Messe erfolgreich hinter sich gebracht, den köstlichen Fußwein genossen und noch eine Ladung Alkohol zusätzlich mit der Soße seines Sonntagsbratens abbekommen. In der Mittagsstunde läutete das Telefon. Der Bauer Alois Görges war dran. Sein neunzigjähriger Vater Johannes lag im Sterben und verlangte nach dem Pfarrer. Dieser zögerte nicht lange, packte sich alles ein, was er für das Sterbesakrament brauchte und setzte sich angetrunken ins Auto. Er hatte seiner Meinung nach nur ein halbes Glas Wein gehabt.
Der Hof lag in einem Tal. Die einzige Straße, die hinein führte, war sehr kurvenreich und man konnte nicht schnell fahren. An der Kreuzung zum Nachbargehöft ging es einige Meter den Berg hinunter. Zu Anfang lief alles gut. Der Pfarrer wunderte sich nur, dass seine Fahrweise etwas rasanter als sonst war.
An der Kreuzung kam ihm ausgerechnet Florians Vater entgegen. Flo ging in meine Parallelklasse und sein alter Herr benutzte den Weg über die Sackgasse des Stadlerhofes stets als Abkürzung. Er durfte durch den Wald fahren, denn Flos Vater war bei der Polizei in der Kreisstadt. Er kam also mit dem Polizeiauto den Berg hochgeschossen, der Pfarrer von der anderen Seite und beide entschieden sich für den Crash, weil sie nicht abstürzen wollten. Hochwürden fuhr viel zu weit links, so dass Flos Dad tatsächlich nicht mehr ausweichen konnte.
Als geübter Wachtmeister roch er den Braten sofort. Herr Pfarrer musste pusten und ging mit 1,2 Promille aus der Nummer heraus. Er beteuerte immer wieder, nur ein halbes Glas Wein getrunken zu haben. Aber das hatte wohl gereicht. Hätte irgendjemand die leere Weinflasche untersucht, wäre unser Doppelkorn aufgeflogen. Jedoch der Pfarrer gab den Führerschein freiwillig ab, bekam eine Geldstrafe und Fahrverbot für ein paar Monate. Er nahm alles auf sich.
Andy und meine Wenigkeit saßen nach dem Vorfall total bedeppert im Bootshaus. Das hätte schlimm enden können! Was, wenn den beiden etwas passiert wäre? Die Aktion Schnaps im Messwein fand ein jähes Ende.
Ich schlief sehr schlecht in den folgenden Tagen und hatte einen Termin bei Doktor Reimers. Mir fehlte der Mut um es ihm zu erzählen. Er merkte während unseres Gesprächs, dass ich druckste und fragte nach. Ich sagte, dass es nichts mit der Behandlung zu tun hat. Meine Eltern bekamen etwas mit und Andys ebenfalls. Wir schwiegen.
Ich spürte erstmals im Leben Angst vor meinem Vater. Das schlechte Gewissen zog mich geradewegs in die Kirche. Ich kniete vor meinem alten Kumpel Jesus und fing unvermittelt an zu heulen. Andy kam dazu und der Pfarrer ahnte, dass irgendetwas bei uns zweien völlig aus dem Ruder gelaufen war. Er brauchte nicht viel sagen, wunderte sich lediglich, dass Andy und ich gemeinsam zu ihm in den Beichtstuhl wollten.
Als wir unser Gewissen erleichtert hatten und ihn mehrfach unter Tränen um Verzeihung baten, heulte auch er. Wir bekamen die Absolution und knieten hinterher alle drei vor dem Kreuz. Der Pfarrer tat etwas total Verrücktes. Er dankte dem Herrn, dass wir so gute Kinder waren. Ich verstand die Welt nicht mehr und Andy schielte ungläubig zu ihm hin. Wir warteten auf unsere Buße, so was wie ein paar Ave Maria oder sogar Rosenkränze. Aber der Pfarrer hatte eine bessere Idee.
Der Pfarrgarten sah wüst aus und musste dringend auf Vordermann gebracht werden. Schon im Hinblick auf unsere Firmung, zu der der Bischof kommen würde. Allein war das für den Pfarrer nicht mehr zu schaffen. Er fragte, ob wir ihm helfen wollten. Hatten wir eine andere Wahl?
In der nächsten Woche trafen wir uns regelmäßig zwei bis drei Stunden am Tag und wühlten uns durch Gestrüpp, schnitten Äste ab, gruben um und legten für Mathilde Gemüsebeete an. Unser Engagement sprach sich im ganzen Dorf schnell herum. Alle fanden lobende Worte für uns. Nur mein Vater und meine Mutter hielten sich zurück. Das Beichtgeheimnis interessierte sie dabei herzlich wenig. Sie ahnten, dass ich etwas Ungewöhnliches angestellt hatte und die Hilfe alles andere als freiwillig war. Doch sie behielten es für sich. Ich hörte einmal zufällig, wie meine Mutter rätselte und mein Vater antwortete: „Liebling, sei besser froh, dass du es nicht weißt!“
Kurz vor meiner Firmung feierte ich endlich meinen dreizehnten Geburtstag. Hubertus kam natürlich und schenkte mir einen besonderen Kalender fürs Bootshaus.
Es gingen nun enorme Veränderungen mit mir vor. Ich wuchs und spürte Schmerzen in der Leiste. Und ich sah die Welt nicht mehr mit kindlichen Augen. Die Lust an Streichen war Andy und mir ohnehin vergangen. Andy fing plötzlich an zu kieksen. Er kam in den Stimmbruch.
Es begann eine neue spannende Zeit für uns, in der kein Stein mehr auf dem anderen blieb. Ich erlebte Andys Pubertät mit, litt mit ihm und freute mich, wenn er sich freute. Andy schwärmte für Marlies, die war aber in Thomas verknallt. Andy wollte sich im Bootshaus ertränken, weil er seine unglückliche Liebe nicht bekam. Ich konnte ihn gerade noch zurückhalten, sich mit voller Kleidung ins Wasser fallen zu lassen. Andy konnte besser schwimmen als ich. Untergegangen wäre er mit Sicherheit nicht und wir hatten zu dem Zeitpunkt bereits Ende Juni. Das Wasser im See besaß schon sehr angenehme Temperaturen.
Das kommende Jahr brach an, ohne dass ich noch irgendwelchen Blödsinn gemacht hatte. Mit den Freunden traf ich mich im Bootshaus. Mein Vater ließ sich nicht mehr blicken. Er ahnte, dass wir keine Mickey Mouse Hefte mehr lasen.
Als wir zusammen ausritten, erzählte er mir von seinem Freund Hartmut, mit dem er oft dort gewesen war. Hartmut war der Vater von Jacob und Mario und arbeitete als Förster für seinen Freund Max. Viele Erwachsene aus dem Dorf duzten meinen Vater, denn sie waren zusammen zur Schule gegangen und nicht wenige der Männer gehörten zum harten Kern des Bootshauses. Vater schmunzelte. Der alte Schuppen am See hatte Tradition in unserer Familie und diente den männlichen Nachkommen der Wildensteiner Grafen als Spielplatz in jedem Alter.
Vater berichtete, er war später mit Mädchen aus dem Dorf dort gewesen, wie seine Freunde. Es gab ein reges sich die Türklinke in die Hand geben. Mehr konnte ich leider nicht herausbekommen. Außer, dass Hartmut eine wichtige und sehr pikante Rolle im Leben meines Vaters gespielt haben musste. Dadurch fühlte ich mich ihm verbunden, wie noch nie zuvor. Er wurde für mich nicht nur zur Respektsperson, sondern vor allem zum Vorbild. Ihm nacheifern, in seine Fußstapfen treten und die Familientradition hochhalten, wollte ich.
Meine Freunde Jacob und Mario überholten mich mit ihrer männlichen Entwicklung. Es war zum Heulen. Aber nun mal nicht zu ändern. Ich hatte mir Hanteln besorgt und trainierte meinen Muskelaufbau. Dank des Taekwondotrainings blieb ich so für alle unangreifbar, die nicht Kampfsport betrieben. Ich war ständig weiter gewachsen und konnte mich größenmäßig hervorragend neben die anderen Jungen stellen. Fürs Fußballspielen gaben meine Eltern ihre Einverständniserklärung, damit ich weiterhin bei den Jungen bleiben durfte. Im Übrigen erhielt der Trainer ein Attest über meine transsexuelle Entwicklung, die der an den DFB weiterleitete. Weil ich mit spätestens Achtzehn ohnehin männliche Hormone bekam, sah man dort keine Schwierigkeiten. Die anderen Mannschaften, gegen die wir antraten, kannten mich noch aus Kindertagen.
Alles lief gut und doch, meine Freunde sprachen bereits wie Männer. Wegen meiner hohen Knabenstimme war ich noch immer ein begehrtes Mitglied im Kirchenchor. Der Kantor freute sich riesig, hatte ich doch die Musikalität meiner Eltern geerbt. Mein Vater war als Kind ebenfalls im Knabenchor gewesen.
Ich wurde Fünfzehn und klagte Doktor Reimers und Frau Michelsen regelmäßig mein Leid. Die Psychologin versuchte mich aufzumuntern und lobte meine Geduld. Doktor Reimers verstand mich und dennoch konnte er mir noch nicht helfen. Ich sollte froh sein, dass ich auf einem guten Weg war und irgendwann wäre ich Siebzehn.
Alle hatten sich gegen mich verschworen. Ich rutschte in eine tiefe Lebenskrise, hatte zu nichts mehr Lust. Selbst zum Fußballtraining musste ich mich zwingen und einige Male blieb ich einfach zuhause, schloss mich in meinem Zimmer ein und starrte in die Luft. Es ist wie ein Strudel, der einen nach unten zieht und nicht wieder loslässt. Meinen Eltern konnte ich etwas vorspielen. Sie meinten, mein Verhalten gehöre zu pubertärer Launenhaftigkeit und würde sich von selbst geben. Ich hingegen dachte manches Mal sogar daran, mich umzubringen.
Doktor Reimers war anderer Ansicht als meine Eltern. Ihm konnte ich nichts vormachen. Er diagnostizierte eine schwere Depression und erklärte mir, dass er in großer Sorge sei. Wir mussten eine Lösung finden, sonst war er gezwungen meine Eltern zu informieren. Er rief Frau Michelsen in meinem Beisein an, äußerte seine Diagnose und vereinbarte für mich einen Sondertermin in der folgenden Woche.
In München bekam ich die Kurve. Frau Michelsen fragte mich nach meinen Pferden, weil sie selbst eines besaß. Uns waren in der Vergangenheit deshalb nie die Gesprächsthemen ausgegangen. Ich erzählte ihr, dass ich von Chester auf ein Großpferd umgestiegen sei. Milla war eine sechsjährige Holsteiner Schimmelstute und bildhübsch. Ich zeigte ihr ein Foto. Wir kamen beide aus dem Schwärmen nicht heraus. Sie wünschte mir Glück für die nächsten Springturniere. Nach dem Termin bei ihr ging ich sofort in den Stall, umarmte Chester und sattelte Milla um mit ihr zu trainieren.
Zum Wochenende hatte mich mein Vater für ein Turnier gemeldet. Ich ging inzwischen M-Springen und gewann dort haushoch, wie von meinem Vater erwartet. Der erste Platz spornte an. Nach mehreren Siegen und guten Platzierungen war ich wieder ganz der Alte und sammelte Pokale.
Einige Wochen später erhielt ich Post. Es war die Einladung zur Sichtung nach Warendorf. Mein Vater platzte vor Stolz. In den Herbstferien brachte er uns mit dem Wohnmobil zum Lehrgang und blieb einige Tage dort. Was für ein Erlebnis! Wir wurden von den besten Reitern Deutschlands ausgebildet und wie Profis behandelt. Mein Selbstwertgefühl schraubte sich geradezu in astronomische Höhen und als ich Milla am Nachmittag absattelte, sah ich sie. Wir standen uns Auge in Auge gegenüber. Jeder hatte sein Zaumzeug in den Händen und ich ließ sie zuerst an den Wasserhahn.
„Ich bin Jenny“, sagte sie und ich wurde rot im Gesicht.
„Maxi, Maximilian“, konnte ich gerade noch stottern. Wir trafen uns von dem Moment an öfter, ritten zusammen aus. Ich fasste mir ein Herz und lud sie zum Eis ein. Die zwei Wochen vergingen wie im Flug. Sie kam aus Lübeck und ich lebte 180 km entfernt von München. Wie sollten wir da jemals näher zueinander finden? Wir tauschten Handynummern und Mailadressen aus. Zum Abschied küsste ich sie auf die Wange.
Zuhause saß ich mit Andy im Bootshaus und schwärmte von meiner Flamme. Er hatte auch ein Date gehabt. Aber irgendwie klappte es nicht so, wie er es sich ausgedacht hatte und Andy schämte sich vor dem Mädchen. Ich nahm ihn tröstend in die Arme.
„Eh, das passiert. Sieh mich an. Ich kann ihr noch nicht einmal sagen, dass ich gar kein richtiger Kerl bin“, erklärte ich. Andy tat mir genauso leid, wie ich mir selbst. Er lag wie ein Häufchen Elend neben mir. Ich streichelte sein Gesicht und was dann kam, hätte ich nie für möglich gehalten.
Es geschah kurz nach unserem sechzehnten Geburtstag. Andy und ich sahen uns an und wir wussten, dass wir ineinander verliebt waren. Ich spürte ein Glücksgefühl, wie ich es bei Jenny ähnlich erlebt hatte. Aber es fühlte sich noch intensiver an. Mein Freund aus Kindertagen nahm mich in die Arme und ich ließ es einfach geschehen. Ich versank in einem Meer von Zuneigung und Liebe, ließ mich hoch hinaus in die Wolken tragen. War ich nun schwul oder hetero oder beides, ich wusste es nicht mehr. Es war mir völlig egal. Andys Küsse brannten auf meinen Lippen und lösten ein Feuer aus, dass ich selbst nie würde löschen können und nicht löschen wollte.
„Max, ich liebe dich. Wahrscheinlich bin ich schwul. Ich hab nichts dagegen, wenn du mal ein Mädchen hast, aber einen anderen Jungen würde ich dir nie verzeihen“, meinte Andy ernsthaft neben mir und küsste mich zärtlich.
„Du wirst immer mein bester Freund bleiben.“ Ich meinte es ehrlich.
„Versprich es mir, so wie früher.“ Er spielte auf unsere Spiele an, als wir uns mit dem Messer kleine Schnitte beigebracht hatten um Blutsbrüder zu werden. Ich lachte und tat ihm den Gefallen. Wir legten die Innenseiten unserer Hände aneinander und unser Blut mischte sich.
Jenny schrieb mir regelmäßig. Sie liebte ich auch. In einer Nachricht schrieb sie mir, dass sie mit einer Freundin geschmust hatte und großen Gefallen daran fand. Ich erzählte ihr, dass es mir nicht anders ging und ich schwul wäre, wie sie lesbisch. Aber das würde an uns nichts ändern. Ich wollte Farbe bekennen und ihr die Wahrheit über mich sagen.
In München sprach ich Frau Michelsen darauf an. Nach dem Termin fühlte ich mich noch verwirrter und wusste gar nichts mehr. Jenny konnte zwischen den Zeilen lesen. Ich sagte es ihr am Telefon.
„Hey, das ist doch nicht schlimm. Und du wirst mit Achtzehn operiert? Das ist geil.“ Sie fand nichts dabei. „Ich hab dich immer als Jungen gesehen. Du bist garantiert kein Mädchen.“ Schön, dass sie es so sah. Ich hatte bisher noch keine schlechten Erfahrungen gemacht. Allerdings gab es die bei Jungen seltener, las ich im Internet.
Ich war einige Tage später auf Einladung von Doktor Reimers ein Wochenende in Hamburg geblieben und sollte an einem Treffen seiner transsexuellen Kids teilnehmen. Wir wohnten in einem Jugendhotel. Dr. Reimers leitete das Seminar. Es gehörten elf Jugendliche zwischen dreizehn und achtzehn Jahren zur Gruppe, neun Mädchen und nur zwei Jungen. Mit dem anderen verstand ich mich auf Anhieb und teilte mir mit ihm gleich das Zimmer. Er hieß Rene, war gerade mal Sechzehn wie ich, und erzählte, er war vor zwei Jahren von seiner Mutter zu Doktor Reimers gebracht worden. Sie hatte zwar schon im Kindesalter gemerkt, dass bei ihm in geschlechtlicher Hinsicht etwas nicht stimmte. Sorgen machte sie sich erst, als er sich am Beginn der Pubertät versuchte, das Leben zu nehmen. Entsetzt hörte ich ihm zu und sah fassungslos auf die zwei Narben an seinen Handgelenken. Rene schnitt sich die Pulsadern auf. Gott sei Dank hatte es nicht geklappt!
Der Kindheit entwachsen
Unser Hotel lag in Hamburgs City an der Alster. Wir konnten von unserem Zimmer aufs Wasser sehen. Ich war begeistert. Wenn man, wie ich, aus einem kleinen bayerischen Dorf kam, ist eine Großstadt wie Hamburg der absolute Wahnsinn. Rene lebte in Norderstedt, einem Vorort, und kannte sich dementsprechend gut aus. Wir waren am Freitagnachmittag angereist. Mein Flieger nach Hause sollte am Sonntagnachmittag starten.
Und Samstag spielte der HSV gegen Dortmund. Rene war Fußballfan wie ich. Das erste, was wir taten, war, Dr. Reimers zu fragen, ob wir das Spiel sehen durften. Er hatte schließlich die Aufsicht und organisierte unsere Freizeit an diesem Wochenende. Darüber hinaus waren wir minderjährig. Er lachte verständnisvoll. Es war sechs Uhr abends und wir saßen im Essensraum des Hotels. Er bat uns auf seine Ansprache zu warten.
„Einen schönen guten Abend, meine jungen Damen und Herren.“ Freudig schaute der Doc von einem zum anderen. „Ich freue mich, dass ihr alle es geschafft habt, heute an unserem ersten Treffen teilzunehmen. Ich sehe diesen Kontakt als sehr wichtig und bedeutsam für euch an, denn ihr lernt auf diese Weise das erste Mal andere Kinder und Jugendliche kennen, denen es genauso geht wie euch. Nutzt die Zeit für private Gespräche. Tauscht eure Handynummern aus und versucht später in Kontakt zu bleiben, wenn ihr erwachsen seid. Nicht alle von euch werden den eingeschlagenen Weg zu Ende gehen. Aber gerade für diejenigen, die es tun, ist es wichtig, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, um von den Erfahrungen der anderen zu profitieren.“ Eines der Mädchen meldete sich. „Ja, Caro, was gibt es?“
„Warum sind nur zwei Jungen dabei, hatten die anderen keine Lust?“ „Nein, das sind im Augenblick die einzigen Herren, die wir in dieser Altersklasse haben. Es kommen sehr viel mehr Mädchen zu mir in die Sprechstunde als Jungen. Ich rätsle selbst über die Gründe. Bei Rene und Max trat die transsexuelle Prägung schon sehr früh im Kleinkindalter auf. Beide wussten, dass sie keine Mädchen, sondern Jungen waren. Ich denke, es liegt an der Gesellschaft und an den Eltern. Wenn sich ein Mädchen wie ein Junge verhält, hat es weniger Probleme mit der Umwelt, als umgekehrt. Es wird toleriert, wenn ein Mädchen keine Kleider tragen will. Für die Eltern läuten zunächst keine Alarmglocken. An ihrer Tochter ist nur ein Junge verloren gegangen und sie denken, sie wird sicher eine emanzipierte Frau werden, was den Eltern in der Regel recht ist. Das war eine sehr gute Frage. Wir sind deshalb hier zusammen gekommen, damit ihr Fragen stellen könnt. Transsexualität ist kein Kinderspiel. Ihr habt es etwas besser als eure erwachsenen ‚Kollegen‘, weil ihr frühzeitig die Gelegenheit erhalten habt, euch zu dem Geschlecht zu bekennen, dass ihr in euch fühlt.“ Ich meldete mich.
„Meine Mutter hat mal unserem Pfarrer den Marsch geblasen und gesagt, dass unser Gehirn bestimmt, wer oder was wir sind.“
„Ja, das ist richtig. Davon gehe ich auch aus. Ohne die Leistung unserer Gehirne ist der menschliche Körper nur ein Klumpen Fleisch. Wenn das Gehirn nicht richtig funktioniert, benötigen wir Hilfe bei den einfachsten Aufgaben. So wie es bei geistig Behinderten der Fall ist. Ein schwer behinderter Mensch kann nur in der Gemeinschaft mit Gesunden überleben und wäre allein nicht in der Lage, sich gegen wilde Tiere zu wehren oder sich Nahrung zu suchen. Das Gehirn ist somit unser Motor. Und es entscheidet, wenn wir vor der Frage stehen, ob wir Junge oder Mädchen sind.“
Wir waren bereits mitten in der Diskussion. Alle sprachen durcheinander.
„Bitte nehmt die Namensschildchen, die ich euch vorhin gegeben habe, und befestigt sie an euch. So könnt ihr einander schneller kennen lernen. Ich habe mein Zimmer hier im Hotel und bleibe bei euch, damit wir uns gegenseitig Löcher in den Bauch fragen können. Allerdings soll der Spaß nicht zu kurz kommen und Hamburg bietet Einiges. Ich wurde schon auf das Fußballspiel morgen angesprochen. Wer hat außer Rene und Max Interesse am Volksparkstadion? Es besteht die Möglichkeit im Nebengebäude Schlittschuhe auszuleihen, während eine Gruppe Fußball schaut. Es gibt dort nämlich eine Sommereisbahn.“
Drei Mädchen wollten spontan zum Fußball, der Rest entschied sich für die Eishalle. Rene und ich schauten uns an. Arschkarte. Beides ging wohl nicht. Der Doc telefonierte mit einer seiner Sprechstundenhilfen. Sie wollte kommen und die Eisgruppe begleiten. Am nächsten Morgen sollte eine Psychologin einen Vortrag bei uns halten und hinterher mit uns diskutieren.
„Schreibt euch in die Liste ein, die ich jetzt rumgebe. Für Sonntagvormittag habe ich eine Hafenrundfahrt geplant. Zu Planten un Blomen oder Hagenbeck reicht leider die Zeit nicht aus. Aber wenn euch das Seminar gefallen hat, versuchen wir es im nächsten Jahr zu wiederholen und dann steht Hagenbeck auf dem Programm.“
Alicia, die jüngste mit dreizehn Jahren, hob ihren Arm. „Dürfen wir nicht morgen Abend zum König der Löwen? Ich freue mich schon so sehr darauf.“
„Dafür habe ich dreizehn Karten bestellt, elf Kids und zwei erwachsene Begleitpersonen. Wir fahren gemeinsam mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und ich bitte euch auf jeden Fall bei der Gruppe zu bleiben. Bitte auch die beiden siebzehn- bzw. achtzehnjährigen Damen. Ich trage während dieser drei Tage die Verantwortung für euch und möchte alle wieder heil und gesund bei den Eltern abliefern. So wie ich sehe, gibt es Abendbrot. Wir treffen uns um halb acht Uhr im Seminarraum zum weiteren Kennenlernen und Quatschen. Da versuchen wir eine gemütliche Sofarunde aufzubauen.“
Ich spürte Hunger. Das Essen war reichlich und schmeckte gut. Es gab Würstchen, Kartoffelsalat und Brot mit Aufschnitt. Rene und ich langten ordentlich zu. Die Mädchen an unserem Tisch staunten Bauklötze, was wir in uns hinein futterten. Aber Rene spielte Tennis im Verein und manchmal Eishockey. Er traf sich mit ein paar Kumpels jeden Tag zum Skateboarden. Wir brauchten beide viele Kalorien für unsere sportlichen Aktivitäten.
„Ich warte schon sehnsüchtig auf meine Hormone“, sagte ich zu ihm und nahm mir das sechste Würstchen.
„Ich auch. Meine Kumpels haben alle mit dem Stimmbruch angefangen.“ Ich nickte traurig.
„Ja, mein bester Freund Andy hat mir gezeigt, was für Kunststücke sein bestes Stück kann und ich saß wie Pik Sieben daneben. Es ist schon ein Kreuz. Die Mädels haben, was wir so gerne hätten.“ Melanie und Kerrin hörten uns aufmerksam zu. Kerrin schüttelte genervt den Kopf.
„Ich hatte schon befürchtet, dieses Gespräch würde nie enden. Wie appetitanregend, mit euch zweien am Tisch zu sitzen. Wir können gerne tauschen.“ Melanie gab ihr Recht.
„Mein komisches Teil da unten könnt ihr liebend gern bekommen. Es gehört da nicht hin und ist total umsonst. Schade, eigentlich bräuchten die Chirurgen doch nur unsere Teile abnehmen und bei euch anbauen. Das würde die Operation sehr vereinfachen.“
Keine schlechte Idee, dachte ich bei mir.
„Das will ich aber erst sehen. Nicht, dass ich etwas zu Kleines kriege.“ Melanie schüttelte den Kopf. „Wenn du dich als Frau fühlen und so wie ich aussehen würdest, wärst du garantiert nicht zufrieden. Wir können froh sein, dass es den Doc und sein Team gibt.“ Oh, das hörte sich nicht gut an. Ich spürte ein schlechtes Gewissen.
„Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Bist ‘n sehr nettes Mädel.“ Sie verzog ihren Mund. Kerrin brachte es geschickt und diplomatisch auf den von beiden beabsichtigten Punkt.
„Deine Freundin kann sich glücklich schätzen. Ein junger Graf, mit Schloss und Manieren. Das gibt es heute nicht oft.“ Hach, das ging runter wie Öl. Ich überlegte, bevor ich die Katze aus dem Sack ließ, ob ich das letzte Würstchen noch essen sollte und drehte mich zu Rene. Der hatte es bereits selbst in Augenschein genommen. „Wollen wir teilen?“, meinte er. Im nächsten Moment stachen unsere beiden Gabeln zu und machten der Wurst erst mal den Garaus. Melanies Blicke ruhten auf mir. Ja, Süße, ich muss dich leider enttäuschen. Du willst wissen, ob ich noch frei bin. Nein, bin ich nicht. Jenny hat gewisse Vorrechte. Erst einmal war sie vor dir da, zweitens ritt sie gut und… ihr Vater trug einen Titel. Zwar nur ein einfacher Freiherr von Regitz, aber immerhin. Ich begann wie meine Eltern standesgemäß zu denken. Es gab so wenige von uns, dass wir versuchen mussten, ein paar Adelsgeschlechter zu erhalten.
„Ich habe eine Freundin, sie heißt Jenny von Regitz und reitet im Landeskader von Schleswig-Holstein. Wir haben uns in Warendorf beim Sichtungslehrgang kennengelernt. Aber ich denke, sie hat nichts dagegen, wenn ich nett zu euch bin, solange es nicht in zu wilde Knutschereien ausartet und sie sich Sorgen machen muss. Sie weiß von mir und findet nichts dabei. Wenn ich erst Hormone bekomme, werde ich männlicher aussehen und nach der OP besteht die Möglichkeit eine Pumpe in den Penis einzusetzen, so dass ich mit einem Mädchen schlafen kann.“
Melanie sah mich mit verklärtem Blick an. „Verloben heißt: Festhalten und Weitersuchen.“
„Also, unsere OP ist ebenfalls nicht ohne. Der Schniedel wird weggeschnitten und nach innen gestülpt, so dass eine Vagina daraus wird. Wichtig ist die Harnröhrenverkürzung. Da darf nichts schief gehen, sonst trägt Frau Windeln. Aber es gibt inzwischen sehr gute Ärzte und Kliniken, die das machen. Ich weiß nur noch nicht, ob ich mir Silikon in die Brust einsetzen lassen will“, meinte Kerrin und machte ihrem Herzen ungeniert Luft.
„Was sagt denn der Doc dazu?“, meldete sich Rene. „Ich hab dank ihm keine Regel mehr gekriegt, sonst wäre ich wohl total durch geknallt. Die erste Blutung war so schrecklich, dass ich dachte, mein letztes Stündlein hat geschlagen und ich war erst knapp Zwölf gewesen.“
„Ja“, antwortete ich. „Mir ging es genauso. Und was das Silikon angeht, da wäre ich vorsichtig. Nicht auszudenken, wenn das ausläuft! Das gibt doch bestimmt genug Sachen für euch zum Unterstopfen. Meine Klassenkameradinnen tragen alle so besondere BH‘s, wo es mehr scheint, als tatsächlich da ist.“
Rene grinste und meinte: „Stell dir vor, du bist so weit, das du ihr in die Oberweite greifen darfst und da ist nur Stoff. So’n Shit, das wird die totale Verarsche für dich.“
Die Mädchen kicherten. Unser Doc beendete den Abendbrottisch, wir durften auf unsere Zimmer gehen. Melanie nahm mich besitzergreifend in den Arm. Geiles Gefühl, als Junge so angebaggert zu werden.
Rene zog die Gardinen vor und knipste seine Nachttischlampe an. Es wurde gemütlich. Ich schaltete meinen Laptop ein.
„Sind da auch Lesben dabei?“, fragte Melanie, als ich den anderen meine Lieblingsseiten zeigte.
Die Bilder lösten spontane Erregung bei mir aus. Inzwischen wusste ich, dass die Klitoris für meinen Lustgewinn verantwortlich war und es immer bleiben musste. Einen richtigen Penis mit Schwellkörper, so wie ihn Andy besaß, werde ich nie haben können und somit war mir ein Orgasmus als Mann verwehrt. Ich schluckte traurig, als ich daran dachte. Da werde ich endlich irgendwann ein Mann sein und das Wichtigste, den Orgasmus, kann ich nur wie eine Frau erleben. Irre. Und irgendwie ungerecht. Es war fies, gemein, was mit uns geschah. Wir hatten doch niemandem etwas getan. Warum mussten wir so leiden? Missgeburt, da war es wieder. Das Wort, das mir eine leise Stimme in meinen ersten jungen Kinderjahren immer zuflüsterte, wenn ich über mich nachdachte und mich damit oft bis an den Rand des Wahnsinns brachte.
„Ich glaube, wir werden alle bisexuell“, erklärte ich den anderen und versuchte mich damit aus der Lethargie zu holen. „Das ist irgendwie logisch. Allerdings ein Vorteil bei der Partnersuche. Man hat mehr Möglichkeiten, den oder die Richtige zu finden.“ Melanie schmiegte sich wie ein Kätzchen an mich.
„Wenn deine Jenny keine Lust mehr auf dich hat, ziehe ich gerne zu dir aufs Schloss und werde Gräfin. Ansonsten werde ich nach der OP Lesbe.“
Rene platzte heraus: „Vielleicht eine lesbische Gräfin.“
Ich sah auf die Zeit. Es war gleich halb acht Uhr und wir sollten in den Seminarraum kommen. Ich wollte mir noch etwas zu trinken besorgen. Wobei, ein paar Bier hatte ich schon im Rucksack. Die gehörten Rene und mir heute am späten Abend. Der Gutenachttrunk für echte Männer!
Die Mädchen wollten sich frisch machen. Mit Cola, Schokolade und Gummibärchen betraten wir Jungen den Gruppenraum. Dort lernten wir die anderen Mädels kennen. Wir waren beide heißbegehrt. Alle wollten neben uns sitzen und sich an uns kuscheln. Ich legte meinen Arm mal um die eine und mal um eine andere.
„Was ist bei uns eigentlich normal, Doc. Werden wir hetero oder schwul-lesbisch oder alles davon?“, fragte ich Herrn Reimers.
„Wieder so eine gute Frage. Max, wenn ich das wüsste, wäre ich vielleicht schon reich. Ich denke, dass ihr bereits viel weiter seid und eure ersten Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt habt, stimmt’s?“
Ich grinste. „Ich habe eine Freundin, mit der ich aber außer Knutschen noch nicht viel anfangen kann. Auch mit meinem Freund war es schön.“
„Und jetzt kommt meine Gretchenfrage: Max, als was hast du dich dabei gefühlt und gesehen? Als Mädchen oder als Junge?“
Ich sah den Doktor an, trank einen Schluck Cola und antwortete selbstsicher: „Als Junge. Ausschließlich. Ich bin wahrhaftig kein Mädchen.“
„Ist es denn normal, wenn ich mich als Mädchen fühle und mit Mädchen schmusen will, obwohl ich biologisch ein Junge bin?“, fragte Meike und schien sehr verunsichert und ängstlich zu sein.
„Es ist alles normal, Meike. Wichtig ist dein Gefühl. Wenn es dir dabei gut geht, kannst du jeden Partner wählen. Deine sexuelle Ausrichtung und deine transsexuelle Prägung haben nichts miteinander zu tun. Du musst dir nur sicher sein, dass du wirklich als Mädchen leben willst und kannst. Wenn du nur leichte Zweifel spürst, warte mit der gegengeschlechtlichen Hormoneinnahme. Dein Gehirn entwickelt sich noch und es kann dir plötzlich signalisieren, dass du doch ein Junge bist. Ihr reift alle in einem unterschiedlichen Tempo. Niemand kann vorhersehen, was in ein, zwei oder drei Jahren sein wird. Deshalb sind wir Ärzte so vorsichtig. Kollegen von mir gehen noch viel weiter und sagen, dass unsere Methode falsch ist, weil laut ihrer Studien ein großer Teil Jugendlicher sich mit seinem Geschlecht aussöhnt und schwul oder lesbisch wird“, erklärte Herr Reimers.
Katharina war bereits achtzehn Jahre alt und hatte die ersten weiblichen Hormone eingenommen. Sie empörte sich heftig.
„Hört bloß auf mit diesem Idiotenverein. Die nennen das standards of care und sind Ärzte ohne eigene persönliche transsexuelle Erfahrung. Man muss selbst betroffen sein, um das verstehen zu können. Die Behandlung, die wir hier erhalten, ist die einzig Vernünftige. Bei Herrn Reimers steht der Mensch, der einzelne Mensch im Vordergrund. Nicht das Profilierungsdenken von Ärzten, die vielleicht nur auf eine Professur hoffen und bereit sind, dafür über unsere Leichen zu gehen. Ich konnte nur deshalb anständig meine Schule weitermachen, weil ich wusste, dass mir der Doc mit spätestens Achtzehn helfen würde. Meine Eltern erlaubten mir mit sieben Jahren als Mädchen zur Schule zu gehen. Sie halfen mir, wo sie nur konnten. Ich verdanke ihnen und Doktor Reimers mein Leben. Und das tut ihr in gewisser Hinsicht alle.“
Das waren ehrliche Worte. Ich hatte schon viele Lebensgeschichten von Transsexuellen im Internet und in Büchern gelesen. Mein Bücherschrank glich fast der Schlossbibliothek meines Vaters. Die meisten bekamen die Unterstützung erst als Erwachsene und so lange gab es das Transsexuellengesetz noch nicht. Die Medizin machte in den letzten Jahren große Fortschritte, die an uns nicht spurlos vorüber gingen. Gerade die OP Frau zu Mann war sehr schwierig, weil ein Penis aufgebaut werden musste. Es gab einige Ärzte in Deutschland, die das in unterschiedlichen Zeiten konnten. Die Angleichung bestand aus mehreren Eingriffen, die jeder für sich recht umfangreich waren. Oder es gab eine einzige große OP, die allerdings sehr viel kostete und nicht immer von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen wurde.
Für mich konnte ich mir diese Lösung vorstellen. Das Ganze fand in einer Privatklinik statt. Es gab dabei kaum Komplikationen und darauf kam es doch an. Man musste an den Menschen denken und das Beste für jeden Einzelnen tun. Ich hatte Glück, denn meine Eltern konnten die Kosten bezahlen, wobei mein Vater einen großen Teil von unserer privaten Krankenversicherung zurückbekam. Das war inzwischen wohl von jemandem gerichtlich durchgesetzt worden. Die bezahlten auch die Behandlung bei Doktor Reimers vollständig. Ich erzählte den anderen, was ich wusste.
„Du bist sehr weit für dein Alter, Max. Aber das liegt sicher an deiner besonderen Erziehung“, meinte Herr Reimers.
Ich lachte. „Wir liegen in Bayern in Pisa nicht umsonst so weit vorn. Es wird am Gymnasium bei uns viel verlangt und ohne freiwilliges Lernen und Büffeln ist das nicht zu schaffen. Aber ich bin in gewisser Weise sehr streng, beziehungsweise standesbewusst erzogen worden. Mein Vater meint immer: Adel verpflichtet. Das hörte ich mitunter täglich und es prägte sich irgendwann ein. Die Religion ist bei uns ebenso nachhaltig. Bei unserem alten Pfarrer hatte ich es sehr schwer gehabt, aber meine Mutter hat dem ordentlich die Meinung gesagt. Der Neue ist da toleranter. Und ich hab ihm übel mitgespielt, aber das gehört hier nicht her.“
Erschrocken schwieg ich. Das Erlebnis mit dreizehn Jahren belastete meine Seele, trotz fleißiger Gartenarbeit. Es schlich sich immer in meine Gedanken und meine momentane Erlebenswelt, wenn ich das Gefühl hatte richtig glücklich zu sein.
Ich spürte plötzlich Müdigkeit und musste gähnen. Einige andere reagierten darauf und wollten ins Bett. Dr. Reimers löste die Gruppe auf.
„Ich wünsche euch allen eine gute Nacht. Wir treffen uns morgen früh um acht Uhr im Frühstücksraum.“
Rene und ich putzten nach dem Duschen die Zähne und schlüpften zusammen mit meinem Laptop unter seine Bettdecke.
Nach dem Frühstück am anderen Morgen trafen wir uns wieder im Seminarraum. Die Psychologin war gekommen und stellte sich vor. Sie hieß Irmtraud Wagner und arbeitete schon lange mit jugendlichen und erwachsenen Transsexuellen. Wir erfuhren einiges über Gerichtsgutachten und Kostenübernahmeerklärungen der Krankenkassen.
„Das soll erst mal genügen. Das meiste ist nur für eure Eltern wichtig, doch ihr müsst über diese rechtlichen Sachen Bescheid wissen. Mit dem Gerichtsbeschluss über die Vornamen- und Personenstandänderung dürft ihr euch an euer Geburtsstandesamt wenden. Die Geburtsurkunde wird auf Antrag auf den neuen Namen umgeschrieben und das Geschlecht wird geändert. Wenn ihr später dazu etwas wissen wollt, hilft euch Herr Reimers gerne und ich bin ebenfalls hier ortsansässig. Nun, habt ihr Fragen an mich? Vor allem menschliche? Wie kommt ihr mit eurer Umgebung klar? Eltern, Geschwister, Freunde, Schulkameraden? Gibt es irgendwo Mobbing wegen eurer Andersartigkeit?“
Ich überlegte einen Moment. „Wir haben uns gestern über die sogenannten standards of care unterhalten, in denen Regeln aufgestellt werden, wie man uns ärztlich behandeln soll. Wie denken Sie darüber?“
Katharina richtete sich auf. „Gute Frage, ich habe nämlich von anderen gehört, die dadurch sehr schlechte Erfahrungen bei Ärzten gemacht haben“, sagte sie. Ich hatte wohl ihr Lieblingsthema getroffen. Wir saßen wieder in unserer Sofarunde zusammen. Dr. Reimers war jetzt nicht anwesend.
„Ja, in der Tat, ich sehe schon, ihr seid bestens informiert. Das ist wichtig, denn ihr allein bestimmt über euer Leben. Nun, ich stehe diesen standards sehr verhalten gegenüber, um es mal vorsichtig auszudrücken. Die meisten Leute, die sie aufstellten, waren Ärzte und keine Patienten. Man kann sich zwar in andere Menschen hinein fühlen und das gelingt vielen Zeitgenossen sogar sehr gut, aber letzten Endes ist der Mensch selbst ausschlaggebend. Kleine Kinder wissen schon sehr früh, ob sie Junge oder Mädchen sind. Ich gehe davon aus, dass es ihnen eine Stimme im Kopf mitteilt, sobald sie die Welt bewusst wahrnehmen können. Einem Kind die Fähigkeit abzusprechen, sein eigenes Geschlecht benennen zu können, bedeutet schlicht eine Respektlosigkeit vor dem kleinen Wesen und die Nichtbeachtung seiner Persönlichkeit. Mit all den negativen Folgen, die so etwas für die kindliche Seele und ihre Entwicklung hat. Wir müssen einander zunächst ernst nehmen. Warum soll ein Mädchen, das sich als Junge fühlt, keine Hosen tragen und mit Jungenspielzeug spielen dürfen? Und wenn es lieber mit einem Jungennamen gerufen werden will, was spricht dagegen? Kinder verkleiden sich gerne und spielen. Irgendwann beginnt er/sie ein neues Spiel, das da heißt, ich will ab sofort wieder ein Mädchen/Junge sein. So, und das ist der springende Punkt. Wenn dies nicht kommt, muss man das Kind genau beobachten und fragen, was anders läuft. Bleibt ein Kind bis zum Beginn der Pubertät in der gewünschten geschlechtlichen Rolle, ist davon auszugehen, dass möglicherweise eine transsexuelle Prägung vorliegen könnte. Und es ist Fingerspitzengefühl gefragt. Der Körper wird sich dem biologischen Geschlecht gemäß entwickeln und die Unterdrückung der Pubertät ist eine Möglichkeit, diesem Kind alle Optionen offenzuhalten. Ich halte es für besser, die körperliche geschlechtliche Entwicklung auszusetzen, denn der Patient will gerade diese Entwicklung verhindern, als darauf zu vertrauen, dass die meisten sich mit ihrem Geschlecht aussöhnen und homosexuell werden. Die sexuelle Ausrichtung hat mit dem selbst empfundenen Geschlecht nichts zu tun und die weiblichen oder männlichen Körperteile werden von Kindern abgelehnt, die sich dem Gegengeschlecht angehörig fühlen. Warum muss man sie zwingen, diese Organe zur vollen Funktion zu bringen? Die Kinder sind ohnehin schon gestresst genug und leiden unter ihrem Geschlechtsfehler. Das ist dem Gedanken von Hilfe und helfen wollen völlig abtrünnig. Wann hast du festgestellt, dass du kein Mädchen bist?“ Sie sah mich fragend an.
„So mit dem dritten oder vierten Lebensjahr. Ich wusste es einfach. Da waren mein Vater und unser Chauffeur Gerhard, Hartmut Berger, der Förster, und mein Reitlehrer Robert. Frauen gab es auf dem Schloss auch, aber ich war wie mein gleichaltriger Freund Jacob und die erwachsenen Männer. Ich brauchte das nicht zu hinterfragen. Was sollte ein Mädchen eigentlich sein? Ich war jedenfalls keines. Es gab jedes Mal einen riesen Aufstand, wenn meine Mutter mich als Mädchen herausputzen wollte. Meine Eltern ignorierten in dieser Hinsicht meine Wünsche und meinen Willen und ich musste tun, was sie bestimmten. Das war sehr schwer, denn ich wollte sie nicht verlieren oder dass sie böse mit mir sind. Wobei ich irgendwann mein eigenes Ding durchgezogen hab. Und mir war es egal, ob ich ihnen Scherereien mit meinem Geschlechtsproblem machte. Als ich meine erste Regel bekam, wäre ich am liebsten gestorben. Das Gespräch mit meiner Mutter fiel an dem Tag sehr heftig aus und setzte wohl ein Umdenken bei ihr in Gang. Gottseidank ist sie mit einer Psychologin befreundet, die ihr die Telefonnummern von Herrn Reimers und Frau Michelsen gab. Das war die Kehrtwende in meinem Leben.“
Die Mädchen begannen sich zu unterhalten. Sie erzählten ihre eigenen Geschichten. Den meisten war es ähnlich ergangen. Frau Wagner lächelte.
„Das hatte ich mir gedacht. Es wäre wichtig gewesen, dich mit deiner Aussage ernst zu nehmen, um dir auf diese Weise nicht nur geschlechtliche Sicherheit zu geben, sondern auch Selbstwertgefühl. Aber deine Eltern haben noch rechtzeitig die Kurve bekommen und dafür kannst du ihnen dankbar sein. Wie gesagt sehe ich nicht ein, warum man Kinder quälen soll, damit sie eine geschlechtliche Entwicklung durchmachen, die sie auf das Tiefste ablehnen. Jeder Mensch wird sein Leben so einrichten, wie er es gut findet. Und wer sich als junger Erwachsener mit seinem biologischen Geschlecht aussöhnt und in der Ausrichtung schwul oder lesbisch leben will, wird das auch durchsetzen. Meine Aufgabe als Psychologin ist es, auf den Menschen zu achten. Ich respektiere die Wünsche und dadurch entwickelt sich Selbstvertrauen und Selbstsicherheit beim Patienten. Davon können wir gar nicht genug haben. Natürlich dürft ihr nicht alles. Ein paar Regeln, vor allem die Strafgesetze und den Straßenverkehr, müsst ihr beachten. Aber das tut jeder vernünftige Mensch. Ihr könnt das umso besser, je sicherer ihr euch selbst erlebt.“
Bis auf Bärbel erzählten alle der Reihe nach von sich und den eigenen Erfahrungen. Bärbel saß still neben uns. Ich tauschte mit Rene den Platz und stupste sie an. Sie war sehr zart und machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment zerbrechen.
„Hey, was ist mit dir. Du warst gestern Abend schon so traurig, gefällt es dir nicht bei uns?“, fragte ich sie. Melanie horchte auf und Kerrin blickte sofort zu uns.
„Doch, es, es ist schön bei euch zu sein. Ich habe Schwierigkeiten mit meinen Eltern und den Geschwistern. Zwei meiner drei Brüder sind älter und sie drohen mir immer Prügel an. Ich bin eine Schwuchtel und kein normaler Mensch wegen meiner Sache, sagen sie. Wenn es nach meinen Eltern ginge, wäre ich nicht hier. Sie wollten, dass ich in die Psychiatrie komme, weil bei mir eine Schraube locker ist.“
Frau Wagner beendete sofort ihr Gespräch mit Rene. „Bärbel, wie alt bist du?“, fragte sie.
„Ich bin jetzt Fünfzehn.“
„Gut, damit bist du alt genug, um dein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich werde mit Herrn Reimers sprechen, damit er versucht, an deine Eltern heranzukommen. Sie sind der Schlüssel zu deinen Brüdern. Andererseits müssen wir möglicherweise sehen, ob wir dich woanders unterbringen können, damit du frei von Zwang und Gewalt deine Entwicklung abwarten kannst. Du bist nicht geisteskrank und du bist kein Fall für die Psychiatrie. Das muss deinen Eltern erklärt werden. Meistens machen die sich Gedanken und glauben, sie haben bei ihrer Erziehung etwas falsch gemacht. Oder ihre eigenen Gene sind schuld an deiner Ausprägung. Das ist alles Quatsch und ich hoffe, Herr Reimers kann deinen Eltern helfen.“
Bärbel kuschelte sich an mich. „Danke, ich bin nicht so stark und manchmal habe ich schon daran gedacht, dass es besser wäre, tot zu sein.“
Nein, um Gottes Willen. Der Schreck traf mich sehr. Melanie, Kerrin und Katharina standen spontan auf und knieten sich vor sie hin. Melanie nahm sie in den Arm, Kerrin umschloss ihre Hände.
„Liebes, daran darfst du nicht einmal im Traum denken. Du bekommst jetzt alle Hilfe der Welt. Ich verstehe, was der Doc gestern gemeint hat. Wir müssen zusammenhalten und uns gegenseitig helfen. Wir sind für dich da. Und wenn du nicht mehr zu Hause wohnen willst, finden wir eine Lösung. Wir können zusammen eine WG gründen“, sagte Katharina.
Frau Wagner atmete laut aus und machte sich zufrieden Notizen.
„Das müsst ihr auch. Ihr braucht den Kontakt zu anderen Transsexuellen. Später rate ich euch, die Erwachsenen in ihrer Gruppe zu besuchen. Natürlich erst, wenn ihr selbst erwachsen seid. Jetzt reichen eure Beziehungen völlig aus und Herr Reimers koordiniert euch. Er konnte euch nur so zusammenbringen, denn er muss das Arztgeheimnis wahren. Wir haben lange überlegt, wie wir es am besten anstellen, damit ihr einander kennenlernt. Manchmal klappt es im Wartezimmer, wenn die Spritzen- und Behandlungstermine gleich liegen, aber es erschien uns besser, ein solches Seminar ins Leben zu rufen.“
Ich fühlte eine innere Wärme in mir aufsteigen und kämpfte kurzzeitig vor Rührung mit den Tränen. Diesen Moment der Anteilnahme und des Geborgenseins im Kreise meiner neuen Freunde, aufgefangen durch Ärzte wie Frau Wagner und Herrn Reimers, würde ich niemals vergessen. An diese Gefühle konnte ich mich später erinnern, wenn es Schwierigkeiten geben würde. Ich dachte daran, anderen Transsexuellen zu helfen, sobald ich erwachsen war. Ich wollte etwas von diesen schönen Augenblicken an jene weitergeben, die es vielleicht noch mehr brauchten als ich.
Es war Mittag geworden. Frau Wagner gab jedem von uns ihre Karte. Wir sollten sie anrufen, wenn es Probleme gab. Sie würde dafür nichts nehmen, solange sie nicht von unseren Eltern einen entsprechenden Auftrag bekam und über die Krankenkasse abrechnen konnte. Sie verabschiedete sich.
„Wenn also irgendjemand Dummheiten plant, ruft bitte erst an. Blödsinn könnt ihr danach immer noch machen, aber wir sollten vorher drüber reden.“
Wir brachten sie mit viel Beifall zur Tür.
Zeit fürs Mittagessen. Herr Reimers war anwesend und führte während der Mittagspause einige persönliche Gespräche. Rene und ich machten uns Fußballfertig. Wir schwelgten in Vorfreude auf unser Spiel und wollten uns auf jeden Fall einen HSV Schal besorgen. Kerrin neckte uns. Sie stand auf Dortmund.
Ein gelungener Nachmittag schloss sich an, den am Abend der König der Löwen toppte. Ich hatte ihn somit zum zweiten Mal gesehen. Die Baronin hielt damals nämlich Wort und schickte meiner Mutter drei Eintrittskarten für die Ehrenloge. Aber die Aufführung jetzt inmitten von ‚Leidensgenossen‘ sehen zu dürfen, war einfach toll. Wie selbstverständlich besuchten Rene und ich die Herren- und die Mädchen die Damentoilette. Wir fielen nicht auf. Niemand nahm Notiz von uns. Wir gehörten in unserer selbst erlebten Geschlechterrolle zur normalen Gesellschaft dazu. Nach der Hafenrundfahrt am nächsten Tag saßen wir zum Abschlussgespräch bei Kakao und Kuchen im Seminarraum zusammen. Alle wollten ein weiteres Treffen und baten Herrn Reimers, im nächsten Jahr wieder etwas zu organisieren. Rene und ich versprachen, einander zu besuchen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen Andy gegenüber und überlegte, wie ich ihm meine Gefühle für Rene am besten beibringen konnte. Auf dem Rückflug grübelte ich. Mir war nicht gut, aber da musste ich wohl durch.
Zuhause überraschte mich mein Vater damit, dass er mich zum nächsten Termin in Hamburg begleiten wollte, der Mitte März anstand. Er sollte Geschäftspartner treffen. In etwas mehr als drei Monaten würde er mit mir fliegen und sich ein Männerwochenende mit mir gönnen, wie er augenzwinkernd meinte. Mum sollte nicht allzu viel erfahren. Ich dachte mir meinen Teil. Ich war in bestimmter Hinsicht wesentlich weiter als mein Vater ahnte.
Trotzdem kam Vorfreude auf.
Die Zeit verging. Andy erschien eines Nachmittags bei mir auf dem Schloss. Er musste dringend mit mir reden. Oh je. Mein Mut rutschte in die Hose. Wir hatten uns seit meiner Rückkehr verhalten wie immer und ich brachte es nicht übers Herz ihm von Rene zu erzählen, dem ich in der Zwischenzeit fleißig Mails schickte. Auch Jenny schrieb. Ich hatte also drei Beziehungen am Laufen.
Andy trat etwas zusammengesunken zu mir ins Zimmer. Sonst rannte er immer die Stufen hinauf, aber heute war es anders. Er sah nicht gut aus. Wir küssten uns wie sonst.
„Max, ich muss dir etwas sagen. Bitte, du darfst mir nicht böse sein. Ich liebe dich, aber es ist wie verhext. Max, ich hab da jemand kennengelernt, beim Fußballlehrgang. Und, ich,…oh Shit.“ Er druckste.
„Ein anderer Junge?“, fragte ich. „Und du hast mit ihm…?“
Mein bester Freund nickte blass mit dem Kopf. Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich schrie erleichtert auf.
„Freut dich das etwa? Ist dir unsere Freundschaft so wenig wert?“, empörte er sich. Ich nahm ihn in die Arme. Meinen Mund presste ich auf seinen und unsere Zungen verschmolzen miteinander.
„Einen Augenblick“, sagte ich und stand auf, um meine Zimmertür abzuschließen. Normalerweise klopften alle an, die zu mir wollten, aber man konnte nie wissen. Ich zeigte ihm Rene auf dem Handy. „Er heißt Rene und weiß über dich Bescheid. Wir waren die einzigen Jungen. Als wir uns zusammen auf meinem Laptop entsprechende Seiten ansahen, passierte es einfach. Männer reagieren auf Bilder. Er wird mich im Sommer besuchen kommen und möchte dich kennen lernen. Er will mich nicht heiraten, das überlässt er gerne dir.“
Andy warf sich gespielt wütend auf mich. Wir rauften und rangelten auf meinem Bett. „Weißt du, wie viel Blut und Wasser ich geschwitzt habe, weil ich nicht wusste, wie du meinen Ausrutscher mit Thorsten aufnimmst?“
„Ich habe nächtelang nicht geschlafen, weil ich Angst vor dir hatte und nicht wollte, dass es wegen Rene aus zwischen uns ist“, konterte ich.
„Oh, wie sind wir doch bescheuert!“ Andy sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Ja, wir sind schon dämliche Schwuchteln, wobei: Bist du noch mit Jenny zusammen?“
Ich bejahte. „Aber an uns wird sich nie etwas ändern, Andy. Du bist mein Freund und wenn ich zweimal heiraten könnte, wärst du mein Mann. Aber ich brauche irgendwann eine Frau, damit wir Kinder kriegen können.“
„Wir können auch als schwules Paar Kinder bekommen. Wir suchen uns ein lesbisches Mädchenpaar.“ „Ach, Andy, woher nimmst du deine überragende Intelligenz. Ich weiß nur nicht, ob meine Eltern dich gerne als Gräfin Wildenstein haben wollen.“ Andy starrte mich an.
„Andere Version. Ich lass mich zur Frau operieren, mein Sperma wird vorher eingefroren und du lässt deine Eizellen einfrieren. Wir ziehen mit einer geburtswilligen Lesbe zusammen und leben glücklich zufrieden bis an unser Lebensende hier auf dem Schloss.“
„Und wenn wir nicht gestorben sind, leben wir noch heute!“ Ich konnte nicht mehr vor Lachen. Andy meinte es tatsächlich ernst. Wir waren beide Siebzehn und die Welt lag uns zu Füßen. Was eines Tages aus uns werden würde, wusste ich nicht.
„Du, ich fahre nächsten Monat mit meinem Dad nach Hamburg zur Spritze. Er will Geschäftspartner treffen und hat so komische Andeutungen gemacht, von wegen Männerweekend und so. Ich glaub, der will mich aufklären. Hihi. Ich weiß doch dank Hubis Website seit langem bestens Bescheid und mit Jenny probiere ich nach der OP meine Pumpe aus. Sie hat mich durch die Blume wissen lassen, dass sie es will. Ich erzählte ihr von Melanie und von unserem Treffen. Die Mädels mailen inzwischen, aber ich hab manchmal das Gefühl, die machen sich einen Spaß mit mir und wollen mich nur verarschen.“
Andy lachte sarkastisch auf. „Warum, glaubst du, fange ich mit dem Weibervolk nichts mehr an? Ich will mich doch nicht dauernd zum Affen machen lassen. Die sind alle gleich und wollen von uns nur das eine. Ne, ein Junge ist da viel unkomplizierter. Der macht keinen Beziehungsstress und so.“
Ich gab ihm einen Kuss.
Gottseidank hatte mein Fehltritt unserer Beziehung keinen Abbruch getan. Erschrocken sah ich auf die Uhr. Ich musste in den Stall. Die tägliche Reitstunde stand auf dem Programm. Mein Freund lachte.
„Die hast du doch gerade mit mir gehabt, mein Guter.“
Wir zogen uns an. Ich rannte in Reithosen die Treppe zum Stall hinunter. Andy sah mir noch einige Augenblicke beim Training zu und lächelte, als er ging. Auch er schien erleichtert zu sein.
Am Abend erfuhr Rene von mir alles. Er erhielt Andys Mailadresse. Die zwei verabredeten sich tatsächlich im Sommer und schickten sich sogar anzügliche Angebote. Das Leben ist doch schön, dachte ich bei mir.
Die Wochen vergingen schnell. Im März startete unser Flieger nach Hamburg. Vater wusste von Rene und lud ihn zu Samstag ein. Wir wollten zum Fußball und am Sonntag zum Eishockey.
Am Freitag früh um halb zehn Uhr sollte ich zum Termin in der Praxis sein. Doktor Reimers verhielt sich abwartend. Das kam mir irgendwie komisch vor. So war er sonst nie. Womöglich war dies die letzte Spritze, die meine weibliche Pubertät heraus zögerte. Würde er Wort halten und mir das erste Testosteron geben? Er sprach zunächst lange mit meinem Vater, welcher sehr ernst aus dem Sprechzimmer kam. Ich ging hinein.
„Doc, kann ich was fragen?“
„Aber immer, Max. Was gibt’s?“ „Ich hab im April Geburtstag.“
„Oh, das ist schön für dich. Aber vorher gratulieren, bringt Unglück.“
„Doc, wir kennen uns schon so lange und bitte, das ist keine Verarschung. Wann darf ich mit der Hormonbehandlung anfangen?“
„Max, wenn ich dich jetzt verarschen wollte, würde ich sagen, du bekommst seit deinem dreizehnten Lebensjahr bereits Hormone, aber das ist es nicht. Es ist auch für mich immer ein besonderer Moment, wenn ihr das Erwachsenenalter erreicht habt. Ein banger Moment. Die erste Testosteronspritze ist nicht schlimm, aber nach der zweiten und dritten treten meistens irreversible Veränderungen an der Stimme auf. Ich denke dann immer an euch und ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Ich fühle mich bei euch wie ein Vater, dessen Tochter das erste Mal ein Date mit einem Jungen hat und bei dir ist es so, als ob mein eigener Sohn vor mir sitzt. Ich fühle und leide mit jedem von euch mit und ich will das Richtige tun, verstehst du?“
Ja, ich verstand ihn nur zu gut. Ich war mir der Bedeutung des Augenblicks bewusst. Das gehörte zu einem Weg, der mich unabänderlich in die Welt der Erwachsenen führte. Wie ich mich auch entschied, ich musste für immer damit leben. Aber ich war mir sicher. All die Gefühle aus frühen Kindertagen und meine Erlebnisse als Jugendlicher konnten mich nicht getäuscht haben, es konnte kein Irrtum sein. Ich war ein Mann und würde in meinem weiblichen Körper, wenn er entwickelt wäre, als Frau nicht leben können.
Ich sagte es dem Doc, der mich seit fünf Jahren wirklich wie ein Vater durch die Höhen und Tiefen der Jugendzeit begleitet hatte. Ich war mir sicher, ganz sicher. Er drückte auf die Gegensprechanlage und bat die Sprechstundenhilfe, meinen Vater aufzurufen. Der kam erwartungsvoll ins Zimmer und setzte sich auf den Stuhl, der neben mir stand.
„Max! Wiederhole bitte, was Du mir eben gesagt hast“, forderte mich der Doc auf.
„Ich würde mich freuen, wenn wir mit der Hormonbehandlung beginnen könnten. Ich bin mir ganz sicher, dass ich ein Junge bin und als Mann leben möchte. Genauso sicher bin ich mir, dass ich nicht als Frau leben kann und will.“
„Gut, ich respektiere deine Entscheidung und bin einverstanden“, hörte ich meinen Vater sagen. Doktor Reimers erhob sich und zeigte mir den Weg zur Liege, auf der ich sonst meine Spritze bekam. Er ging an seinen Medikamentenschrank, zog eine Kanüle auf. Ich sah aus dem Augenwinkel, dass es eine andere Schachtel war. Ich ließ die Hosen ein Stück runter, so dass er die Spritze in den Po setzen konnte.
„Es wird intramuskulär gespritzt, tief in den Muskel und dazu ist am besten der Hintern geeignet. Die Spritze wird jetzt alle drei Wochen gegeben. Nach der Operation alle sechs bis zehn Wochen, je nachdem, wie sich der Patient damit fühlt. Lebenslang, Max. Es wird dir schlecht gehen, wenn dein Testosteronwert zu niedrig ist und vor allem, du kannst Osteoporose bekommen. Es ist wichtig für dich, endokrinologisch gut eingestellt zu bleiben. Ich hatte deine Werte letztes Mal bereits kontrolliert und wir werden uns schon in zwei Monaten wiedersehen. Die Spritzen schreibe ich dir auf und telefoniere mit deinem Hausarzt. Er wird sie dir in Zukunft geben. Du musst dir selbst den Turnus auf dem Kalender notieren. Das ist ab sofort deine Aufgabe. Aber du bist sehr Pflicht- und Verantwortungsbewusst und es geht um deine eigene Gesundheit. Wenn ausreichende Vermännlichung eingetreten ist und alle Werte nach der Operation im Normbereich liegen, können wir auf ein Gel umsteigen. Das wird angenehmer für dich sein, weil du damit dein Leben flexibler gestalten kannst und nicht vom Spritzentermin abhängig bist. Im Auslandsurlaub ist das Gel sehr hilfreich.“
Ich hörte nur halb zu. Den Einstich spürte ich nicht. Es war ein so bedeutungsvoller Moment und ich konnte an nichts mehr richtig denken. Ich hatte doch seit der Kindheit von dieser Spritze geträumt und nun? Was fühlte ich? Im Augenblick nichts. Leere. Vielleicht gehörte dieses Nichts, dieses tiefschwarze Loch, dazu? War es der Anfang, der gleichzeitig das Ende markierte? Ich sagte kein Wort, konnte es nicht, denn es fiel mir nichts ein.
Vater sprach mit der Sprechstundenhilfe, verabredete den nächsten Termin und ich gab Doktor Reimers die Hand.
„Danke, ich werde das hier nie vergessen.“ Wir sahen uns an. Ich spürte den kräftigen Druck seiner Finger.
„Max, wir sehen uns. Ich wünsche dir alles Glück der Erde.“ Es war die richtige Entscheidung, wir wussten es beide. Vater ging mit mir in die nächste Apotheke und gab mir die Tüte mit den fünf Ampullen darin in die Hand. Ich passte gut darauf auf. Das Päckchen war meine Lebensversicherung und ich musste immer einen Vorrat davon bei mir haben.
Im Hotel simste ich Rene. Er rief auf dem Handy zurück.
„Ich gratuliere dir. Ich hatte meine vorgestern. Doch es bringt noch nichts. Erst die zweite oder dritte macht den Stimmbruch. Aber wir sollten morgen schon mal vorfeiern.“
Er musste zu einer schulischen Veranstaltung und hatte erst Morgen Zeit. Wir verabredeten uns im Hotel. Mein Vater wollte die Führung übernehmen, hatte drei Fußballtickets bestellt und mich in ein Doppelzimmer einquartiert, so dass Rene nicht mehr in der Nacht nach Hause fahren brauchte. Wir waren in einem Hotel abgestiegen, das sich direkt an der Reeperbahn befand.
Vater schmunzelte, als wir mit dem Taxi vom Doc kamen und an der Großen Freiheit und der Davidswache vorbeifuhren. Ich hatte die Leuchtreklame in mich aufgesogen und Ausschau nach den berühmten Mädchen von Sankt Pauli gehalten. Als Vater an meine Tür klopfte, packte ich gerade meine Sachen aus.
„Max, es ist Mittag. Bist du fertig? Ich nehme dich jetzt zum Geschäftsessen mit. Mr. Henson und Mr. Blake sind Briten, wir werden uns mit ihnen zum Lunch treffen. Du kannst deine Englischkenntnisse beweisen und hörst bitte zu, wie ich verhandle. Eines Tages wirst du für die Firma selbst unsere Auslandskunden betreuen.“
Er lächelte aufmunternd. Einem gelungenen Auftakt meiner Karriere als Geschäftsmann schloss sich ein ebenso schöner Nachmittag in Stellingen auf der Eisbahn an. Wir blieben noch etwas länger, weil es ein Eishockeyspiel für Jugendliche gab. Nach dem Spiel bekam ich mein Abendbrot an der Pommesbude. Vater musste um acht Uhr noch eine weitere geschäftliche Veranstaltung besuchen, zu der er mich aber nicht mitnehmen konnte. Er würde erst spät in der Nacht wiederkommen, sagte er. Mir war es recht. Ich wollte ausgiebig mit Andy telefonieren. Das Hotel verfügte über ein Hallenschwimmbad und einen Fitnessraum. Internet und Kabelfernsehen boten genug Abwechslung, dachte ich.
Um neun Uhr abends war mein gesamter Colavorrat leer und alle Süßigkeiten hatten ebenfalls ihren Weg in meinen Magen gefunden. Ich zappte durch die Kanäle. Langweiliges Programm. Die Fernsteuerung flog aufs zweite Bett. Ich zog mir ein frisches dunkles T-Shirt an und stellte fest, dass mir meine Jeans zu eng geworden war. Irgendwie bekam ich den Reißverschluss nur noch halb zu. Muss eben ein Stück offen bleiben. Ich hatte mir vor einiger Zeit ein künstliches Glied gekauft, welches ich in der Unterhose trug. Die Beule vorne sah geil aus. Ich griff mir meine Jacke, steckte etwas Geld in die Tasche und die mahnenden Worte meines Vaters, abends nicht ohne ihn aus dem Hotel zu gehen, waren Schall und Rauch von gestern. Ich war Hamburg gewohnt und dachte mir nichts dabei, als ich vor dem Hotel stand und ein paar Schritte in die Richtung spazierte, aus der ich laute Musik hören konnte. Grelles Neonlicht empfing mich, hüllte mich ein und betörte meine Sinne. Gerüche von Bier, Zigarettenrauch und Schweiß drangen auf die Straße. Countrymusik, Jazz, Techno und Lieder aus dem Musikantenstadl vermischten sich. Autos hupten, eine Menschenmenge kam auf mich zu, ich wurde mitgerissen, noch ehe ich verstand, was geschah und blickte mich um. Überall ein Meer von Lichtern, noch mehr Menschen und ein Mädchen, grell geschminkt, in Moonboots und mit riesiger Oberweite, nahm mich in den Arm.
„Hey, Kleiner, wollen wir zu mir gehen, du bist aber süß“, sagte sie.
Ich ahnte, dass ich mich von ihr losmachen musste, bekam Panik und antwortete nur: „Danke, du auch. Aber ich bin noch keine Achtzehn.“
„Na, dann komm wieder, wenn du soweit bist“, lachte sie mir schallend hinterher. Es klang wie eine Ohrfeige. Puh, das war knapp gewesen und ich gerade noch einmal gerettet. Wo war ich hier gelandet? Ich taumelte ein Stück weiter in die Dunkelheit. Eine Kirche, ich las die Inschrift. Was? Auf der Reeperbahn gab es eine katholische Kirche? Wie konnte so etwas sein? Hier auf der sündigsten Meile der Welt? Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Neugierig und in der Hoffnung, dass mir dort oben nichts passieren würde, stieg ich die Stufen hoch. Die Tür war natürlich verschlossen. Klar, am Abend, das muss sicher so sein, dachte ich.
Eine Gruppe japanischer Touristen zog unten auf der Straße an mir vorbei. Von hier oben hatte man einen guten Ausblick. Langsam wurde ich ruhiger und sicherer. Rechts verlief die Hauptstraße, ich musste also noch einmal durch die Menschenmenge zurück und zwischen die Bordelle entlang gehen. Dass ich fast geradezu in einen Puff hineingelaufen war, hatte ich inzwischen herausgefunden. Die Aufschrift auf der Tür war nicht zu übersehen.
Ich dachte an meinen Vater. Es schien doch etwas an den Warnungen dran zu sein, hier abends nicht allein herumzustromern. Wo lag nun das Hotel? Das war die Preisfrage und von der richtigen Antwort hing einiges für mich ab. Ich atmete durch. Langsam setzte ich mich in Bewegung und versuchte mich bewusst durch die Menschenansammlung zu manövrieren. Es klappte. Ich stand wieder an der lichtdurchfluteten, funkelnd lauten Straße und sah nach oben. Das Straßenschild gab mir den Rest. Große Freiheit, las ich und schluckte.
Da hatte ich wieder einmal meinem Vater eine Erfahrung voraus, wobei der sicher schon mal hier gewesen war. Aber halt nicht mit mir. Ich beschloss, mein Geheimnis für mich zu behalten. Langsam schlenderte ich an den Kneipen und Sexlokalen vorbei.
In einer dunklen Nische stand ein Junge, ungefähr so alt wie ich und starrte vor sich hin. Ich ging weiter. Das Bild hielt mich auf geheimnisvolle Weise fest. Abrupt machte ich wieder kehrt, ging auf den Jungen zu. Hey, den könnte ich nach dem Weg fragen, dachte ich und gab damit meinem merkwürdigen Verhalten einen vernünftigen Grund.
Hamburger Nächte
„Du, entschuldige, wo liegt das Mercator Hotel?“
Er sah müde aus.
„Hier nicht, bist du Tourist?“ Er grinste.
„Ich bin mit meinem alten Herrn da, aber der trifft Geschäftsleute und ich hab mich wohl verlaufen. Ich heiß Max.“
„Conny. Bist du aus Bayern, du klingst so anders?“
Ich musste lächeln.
„Das ist mir aber ziemlich unangenehm, eigentlich versuche ich ordentliches Hochdeutsch zu sprechen. Ich war heute Nachmittag im Eisstadion und morgen wollen wir den HSV sehen. Wenn nicht gerade Bayern spielt, steh ich auf Hamburg.“
Er lächelte nun auch.
„War lange nicht mehr dort. Ist sehr teuer und ich muss Geld verdienen.“
„Hier?“, fragte ich ihn irritiert.
„Ja, du nimmst mir gerade die Kundschaft weg. Ich warte auf Typen, die für einen Jungen bezahlen.“
Geschockt und verblüfft über seine direkte Antwort starrte ich ihn an. Gehört hatte ich davon. So wie es Frauen gab, die auf den Strich gingen, gab es auch Jungen, die das taten. In München war das keine Seltenheit, aber ich hatte noch nie Kontakt zu solchen Jungen gehabt.
„Verdienst du viel und wie läuft so etwas ab? Ich hab davon gehört, aber es noch nie gesehen, geschweige denn, selbst erlebt?“, fragte ich. Meine Neugierde siegte. Die Vorsicht flog gerade mit dem nächsten Luftzug um die Ecke. Was konnte mir schon passieren, Conny war nicht viel älter als ich.
„Ich bin Siebzehn und du?“, setzte ich nach.
„Ich auch, und ich mach das ziemlich lange. Meine Mutter hatte einen Typen nach Hause gebracht, der vermöbelte mich und da bin ich abgehauen. Aber von irgendwas musst du leben. Ein Freund hat mir den Tipp gegeben. Ich bin schwul, weißt du. Sonst kann man das nicht.“
Wow. Das war ehrlich. Ein unsichtbares Band hatte sich spontan um uns beide geschlungen.
„Wahnsinn. Das bin ich auch, obwohl ich zusätzlich eine Freundin hab. Aber ich kann mit ihr noch nichts anfangen. Ich muss erst operiert werden.“
Wir sahen einander in die Augen, er verstand nicht. Ich erzählte ihm meine Geschichte und spürte deutlich Überraschung und Anteilnahme.
„Wollen wir etwas trinken gehen?“, fragte ich und hoffte, er würde mir mehr über sein Leben erzählen. Er nickte, übernahm die Führung und schob mich zielstrebig zu einem der zahlreichen Kioske. Ich bestellte zwei Bier. Unzählige Menschen aller Nationalitäten und Hautfarben spazierten an uns vorbei. Von der Umgebung ging eine unbeschreibliche Atmosphäre aus, die jeden in ihren Bann zog. Das Sprachgemisch konnte nicht verwirrender sein.
Conny kannte sich aus und er wird mir später den Weg zum Hotel zeigen, dessen war ich mir sicher. So ließ ich Leuchtreklame und Ambiente auf mich wirken, blickte mich interessiert um. Mein anfängliches Unbehagen verschwand. Neben Kiosken und einschlägigen Sexlokalen gab es Geschäfte, in denen man alles kaufen konnte, was mit Liebe zu tun hatte.
Immer wieder traten grell geschminkte Frauen in engen Leggings auf vorüberziehende Männer zu. Das eine oder andere Mal hakten sie sich nach kurzem Gespräch unter und führten ihre Partner zu den Hauseingängen, wo beide verschwanden. Ich begann die Zeit mit meinem Handy zu stoppen. Nach einer halben Stunde kamen die meisten Herren wieder heraus. Kurz darauf erschienen auch die Frauen erneut. Conny grinste vielsagend, als ich ihn auf meine Beobachtungen aufmerksam machte.
Er berichtete, wie es ablief, wenn er sich mit Männern traf. Eine fremde Welt wurde zum Greifen nah. Ich spürte merkwürdige Erregungen in mir. Mangel an Phantasie kannte ich nicht. Conny stand mit beiden Beinen auf der Erde und konnte mit seiner Erzählweise eine Situation herbeiführen, die einerseits in mir den begierigen Wunsch nach eigenem Erleben auslöste, mich kurz darauf jedoch mit Ekel und Ablehnung reagieren ließ.
Da bildete sich eine ambivalente Spannung in mir. Ich stellte mir ein Drahtseil vor. Ich hatte die Wahl: Von oben auf die verruchte Welt hinabzusehen und in gebührendem Abstand auf dem Seil in meiner eigenen Welt weiter zu wandern oder den Sprung nach unten zu wagen, um mit der neuen Welt zu verschmelzen. Meine Gedanken schweiften ab. Ich machte mir Sorgen um den Rückweg, wenn ich erst unten angekommen war.
„Hörst du mir eigentlich zu?“ „Hallo, Max! Bist du noch da?“ Erschrocken zuckte ich zusammen.
Conny sah mich vorwurfsvoll an. „Ich versuche dir grad vom Elend eines Strichers zu erzählen und du scheinst zu träumen“, meinte er. „Entschuldige, ich bin hin und her gerissen. Das ist dem Augenblick geschuldet. Es hört sich so geil an. Irgendwie fällt mir der Vorhof zur Hölle ein. Verführerisch und mahnend. Auf der einen Seiten die Huren, auf der anderen der Pfarrer. Hast du schon mal dran gedacht, etwas anderes zu machen? Du kannst als Mann auf dem Kiez in Bars und Läden arbeiten. Die brauchen kräftige Kerle. Türsteher ist immer noch besser, als fremden Typen den Hintern hinzuhalten. Oh, sorry, ich rede schon wie mein Alter.“
Hups! Wann wollte der wieder im Hotel sein? Wenn er kam und mich nicht vorfand, musste ich mir eine plausible Erklärung einfallen lassen. „Das ist schon okay. Ich kenne die meisten Ladenbesitzer und wenn ich den Absprung mache, findet sich schon etwas. Aber ich muss auf Kohle verzichten. So viel wie jetzt, werde ich niemals in einer normalen Arbeitsstelle verdienen. Nicht mal als Hausmeister im Puff.“ Starkes Argument. Geld war nicht unwichtig. „Vielleicht gibt es etwas dazwischen.“ Ich überlegte. Das Internet ließ etliche Innovationen zu. „Man könnte für Männer etwas Ähnliches aufziehen, wie es die Frauen bereits machen. Also, einerseits den normalen Puff betreiben, mit allem, was dazugehört und die Mädels wie Angestellte anmelden und versichern. Daneben arbeiten diejenigen, die keinen Körperkontakt wollen, vor der Kamera. Das hat den Vorteil, dass du allein oder maximal mit einem Freund zusammen bist. Krankheiten werden damit verhindert. Du schlägst zwei Fliegen mit einer Klappe.“
Voller Stolz strafte ich meinen Oberkörper. Hatte ich etwa grad ein neues Geschäftsmodell entworfen? Überraschend zeigte sich Conny interessiert. Er nahm unsere leeren Flaschen und stand auf. Ich wehrte ab. „Stopp, für mich nur noch eine Cola. Sonst enterbt mich mein alter Herr. Wir besitzen eine Brauerei und er sagt immer, ich soll aufpassen, nicht mein bester Kunde zu werden!“ Conny brach in glucksendes Gelächter aus.
Ein knapp bekleidetes Mädchen kam an unseren Tisch und hielt mir ihre Brüste vor, die in einem roten Top steckten. „Gibst du mir ein Bier aus?“, schnurrte sie, griff mit ihren Fingern in mein Haar und schlang mir ihre Arme um den Hals. Vor ein paar Stunden war ich noch in Panik vor dieser Anmache weggelaufen. „Conny! Bring ein Bier für die Dame mit!“ Er drehte sich nach mir um. „Sina ist keine Dame, sonst würde sie Sekt bestellen. Aber okay, ich denke, wir machen heute eine Ausnahme.“ Einen Moment später standen Bier und Cola bereit. Sina sah mich prüfend an.
„Wie alt bist du, mein Süßer?“ Ihre Hände streichelten über mein Kinn und fuhren dann zielstrebig über den Brustkorb abwärts. Als sie begann meinen Hosenlatz öffnen zu wollen, schritt meine Hand ein und führte die ihre wieder aus der Gefahrenzone.
„Er ist siebzehn und Transmann, Sina. Wenn er achtzehn ist, kannst du ihn in die Liebe einführen. Sina macht das gut. Bei mir schlugen bisher alle Versuche fehl. Mein kleiner Freund reagiert nur auf Männer“, erzählte Conny und half mir damit aus der Verlegenheit. „Willst du dich operieren lassen?“, fragte Sina, während sie wieder ihre Hände in Richtung meines Gliedersatzes schob. Ich nickte. „Ich habe heute die erste Testosteronspritze bekommen. Im nächsten Jahr geht es gleich nach dem Abi ins Krankenhaus. Dann nehm ich dein Angebot dankend an. Ich habe eine Freundin, die über mich Bescheid weiß und du kannst mir helfen, die Grundlagen der Liebe zu lernen.“ Ich legte den Arm um sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Conny lachte. „Auch Schmusen kostet bei Sina. Du hast noch viel zu lernen. Das Leben auf dem Kiez ist kein Ponyhof!“ Oh je, er hatte recht. Im Laufe des Abends tauschten wir unsere Handynummern. Sina bestand darauf, dass ich ihre ganz oben kennzeichnete. Sie wird mir zu gegebener Zeit einen Termin und einen besonderen Preis mitteilen. Schöne Aussichten. Ich küsste sie noch einmal. Es war fast zwei Uhr geworden. Mein Gewissen meldete sich. Noch länger sollte ich den Ausflug ins Hamburger Nachtleben nicht hinaus zögern. Mein Vater war in der letzten Zeit wahnsinnig cool gewesen, das wollte ich mir nicht verscherzen. Ich sagte den beiden, dass ich gehen muss. Conny bot sich sofort an, mich zum Hotel zu bringen.
Eine kleine Krise war im Anmarsch. Ich überlegte fieberhaft. Wenn ich Sina jetzt Geld gab, war ich dann schon ein Freier, der sie ausbeutete? Meine weibliche Sozialisation meldete sich zu Wort. Ich verwarf den Gedanken. Sina sah einen Mann in mir und Männer bezahlten die Frauen auf dem Kiez. Es war erniedrigend für die Frauen, aber auch selbstverständlich. Sie lieferten eine Dienstleistung ab und Sina tat dies freiwillig und ohne Zwang, wie mir schien. Als Frau würde ich auch bezahlen müssen, wenn ich eine andere Frau um diese Leistung bitte. Mein Rollenwechsel war mit der ersten Hormonspritze heute Morgen endgültig besiegelt worden. Die Realität hatte mich eingeholt. Ich lächelte tief in mich hinein, zog einen fünfzig Euro Schein aus meinem Portemonnaie und steckte ihn dem so verführerisch duftenden Mädchen, das es sich auf meinem Schoß bequem gemacht hatte, in den Ausschnitt.
„Hier, ein kleines Geschenk für das netteste Mädchen der Welt.“ Ich dachte kurz an Jenny und stellte fest, dass Männer hervorragend lügen konnten. Sina nahm den Schein, ließ ihn rasch in ihrer knallgelben Lackledertasche, die sie um den Bauch trug, verschwinden. „Du hast meine Nummer“. Sie hauchte mir die Botschaft zum Abschied ins Ohr.
Conny legte seinen Arm um meine Schulter als wir uns in Richtung Hotel aufmachten.
„Das war der erste Schritt zum Mann. Ich möchte irgendwann testen, ob mein Transmannfreund auch etwas für Männer empfindet“, flüsterte er leise.
Darauf hatte ich gewartet. Wie in Trance drehte ich meinen Kopf, blickte ihm geradewegs in die Augen. Wir standen auf dem Bürgersteig, nur wenige Meter vom Eingang in die Große Freiheit entfernt. Um uns blinkte und blitzte bunte Neonreklame, ein Martinshorn heulte in der Ferne. Die Menschen gingen im Bogen um uns herum, niemand beschwerte sich über das unerwartete Hindernis. Mein Kopf fiel leicht zur Seite. Ich bot Conny unbewusst meinen Hals an. Es war eine typisch weibliche Unterlegenheitsgeste. Aber ich fühlte mich nicht als Frau, als seine Lippen das Angebot annahmen. Ein wohliger Schauer ließ mich erzittern, rann durch meinen Körper.
Eben war ich noch ein Mann gewesen, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau für Zärtlichkeit bezahlt hatte. Jetzt wurde ich wieder zum Jungen, der sich mit ganzer Seele seinem Freund hingeben wollte. Wie von selbst legten sich meine Arme um Connys Hals, meine Hände streichelten seinen Haaransatz.
Wir küssten uns, versanken in einem Meer von Glückseligkeit.
Mein Vater war noch nicht ins Hotel zurückgekehrt. Nach dem Duschen kroch ich aufgewühlt ins Bett. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. In der Ferne klopfte es an meiner Zimmertür.
„Max, es ist neun Uhr durch, du Schlafmütze. Ich will mit dir auf die Eisbahn.“ Renes Fäuste pochten energischer. Verschlafen und noch immer von den Eindrücken des gestrigen Abends überwältigt, wühlte ich mich aus den Kissen. Rene schlüpfte herein. Er trug einen Sportanzug und warf seine Schlittschuhtasche auf den Boden. Als er mich ansah, stutzte er. „Was ist passiert? Du siehst so anders aus! Als ob du von einem anderen Stern kommst!“
Ich setzte mich auf. „Ich komme nicht von einem anderen Stern, ich habe einen gesehen“, erklärte ich und schraubte damit die Verwirrung meines Kumpels ins Unermessliche.
„Erzähl! Aber wehe du verschweigst etwas.“
Ich wollte grad ansetzen, als es erneut klopfte. „Max, ich hab gleich noch einen Termin. Wir treffen uns um 12 Uhr hier im Hotel.“ Rene öffnete meinem Vater. „Hallo, ich bin Rene und wollte jetzt mit Max auf die Eisbahn.“
Mein Vater sah verdutzt aus, fing sich aber sofort. „Prima, dann hole ich euch gegen 12 Uhr dort in Stellingen ab. Wir gehen Essen und danach zum Fußball.“ Er nahm sein Portemonnaie und gab jedem von uns fünfzig Euro. „Hier, für den Eintritt. Viel Spaß, meine Herren.“ Wir bedankten uns überschwänglich. Vater ging aus der Tür. Während ich mich anzog, erzählte ich Rene vom gestrigen Abend. Seine Augen wurden immer größer, als ich von Sina berichtete. „Whow! Ich lebe schon seit meiner Geburt hier und habe noch nie einen Stricher kennengelernt und mit einer Hure hab ich auch noch nie gesprochen. Weißt du, dass ich grad neidisch werde?“ Ich lachte. Nach einem ausgiebigen Frühstück im Hotel fuhren wir mit der U-Bahn zur Eishalle. Ein wunderschöner Nachmittag im Stadion ließ mich in höchstem Glück schwelgen. Der Frühjahrsdom hatte einen Tag zuvor seine Pforten geöffnet. Um acht Uhr standen wir mit meinem Vater in einer Getränkebude und prosteten uns zu. Ich bekam mein erstes offizielles Bier von ihm und genoss es. Danach spazierten wir über die Reeperbahn, besuchten einen Sexshop und Vater spendierte uns jeder ein Video, damit wir wussten, wie es praktisch mit den Frauen ablief, meinte er und grinste dabei.
Rene und ich sahen uns entgeistert an. Mein Gott, Dad, wir waren siebzehn Jahre alt und keine Babys mehr. Aber wir bedankten uns artig und spielten die Unschuldslämmer vom Lande. Vater zeigte auf den Eingang zur berühmten Herbertstraße und erlaubte uns einen kurzen Blick hinein.
In der Freiheit stellten wir uns für die Travestieshow an. Vater lachte über die Witze der Damen, die eigentlich Herren waren. Rene und ich fanden sie lustig, aber wir bemerkten mehr. Wir und diese Frauen hatten etwas gemeinsam, obwohl sie als Transvestiten auftraten und ihr männliches Körperteil behalten wollten. Wir fühlten wie sie und achteten sie mit Wärme und Menschlichkeit. Für die Zuschauer war das Ganze ein Jux und Geblödel. Nicht für uns. Genauso wenig für die Frauen. Ein Teil ihrer Seele verschmolz mit der Weiblichkeit, die sie darstellten. Die Meisten spielten keine Rolle bei ihrem Auftritt, sondern wurden dabei sie selbst. Dessen waren wir uns bewusst. Wir hätten ihnen gerne erzählt, dass wir genauso waren wie sie. Lediglich eine kleine Nuance unterschied uns. Den letzten Schritt nämlich, den Wechsel ins andere Geschlecht im täglichen Leben vollziehen zu wollen und nicht nur abends auf der Bühne zu leben. Vater gab nach der Vorstellung noch ein letztes Getränk aus und spazierte mit uns zurück zum Hotel. Ich dachte an Conny. Seine dunkle Nische lag nur einen Wimpernschlag entfernt in die andere Richtung. Ich hätte ihn gerne noch einmal getroffen. Aber das musste warten. Im Hotel verabschiedeten wir uns von meinem Vater. Wir wollten die DVD’s anschauen, die er uns geschenkt hatte. Rene schüttelte später im Zimmer, als wir die Filme geladen hatten, den Kopf. Auf unseren websites ging es wesentlich spannender zu.
„Dein Alter ist ein lustiger Typ. Schau dir mal diesen Quatsch an! Und dafür nehmen die auch noch Geld“, meinte er.
„Wir können Conny beim nächsten Arzttermin anrufen. Er kennt sich auf dem Kiez aus. Ich kann doch sicher bei euch schlafen, oder?“ „Ja, klar kannst du das. Mein Zimmer ist zwar kein Schloss und wir leben in einer Mietwohnung, aber meine Mutter wird dir gefallen und der Doc bleibt uns bis nach der OP auf jeden Fall erhalten. Der will wissen, wie wir uns weiter entwickeln und was aus uns wird.“
„Ich bin am 5. Juni wieder hier und werde fragen, ob ich bei dir übernachten darf, wenn deine Mutter nichts dagegen hat.“
Es gab in Hamburg viele Schwulenclubs und ich dachte daran, einen mit Rene und Conny zu besuchen. Am nächsten Morgen fuhren wir mit meinem Vater noch einmal in die Eishalle nach Stellingen. Das Eishockeyspiel war nicht so hochklassig, aber schön. Danach aßen wir mit Rene zu Mittag. Mein Vater mochte ihn auf Anhieb und drückte ihn zum Abschied.
„Rene, ich freu mich auf die Sommerferien, du kannst die kompletten sechs Wochen bei uns bleiben. Max muss anfangs zwar noch zur Schule, aber dir kann es nicht schaden, wenn du mal ein bayerisches Gymnasium kennen lernst. Das bespreche ich alles mit dem Direktor vorher. Ich bin gespannt, wie es dir bei uns gefällt.“
„Danke, ich freu mich auch. Max, altes Haus, grüß Andy unbekannterweise.“
Die Schule hatte mich am nächsten Tag wieder. Wie schnell verging die Zeit. Ende März bekam ich die zweite Spritze. Gespannt wartete ich auf den Beginn des Stimmbruchs. Mist! Nichts geschah. Am 21. April folgte die dritte. Keine Reaktion. Ich bekam Angst, dass die Spritzen vielleicht bei mir nicht wirkten. So etwas hatte ich nämlich gelesen. Beunruhigt schlief ich dem nächsten Termin beim Doc entgegen. Ablenkung erlebte ich kurzzeitig an meinem Geburtstag.
Am 28. April wurde ich siebzehn Jahre alt. Es gab einen alten Schlager, der hieß: Mit Siebzehn hat man noch Träume. Meine Mutter sang das Lied Beatrix vor und die lernte es auswendig. Am frühen Morgen hörte ich Klaviertöne aus dem Musikzimmer und Beatrix stand vor meiner Tür und trällerte das Lied dazu. Sie war inzwischen zwölf Jahre alt geworden, bekam professionellen Gesangsunterricht und hörte sich super an. Ich rannte raus, umarmte überglücklich meine kleine Cousine.
„Happy Birthday, du Lümmel, bald hast du auch einen Pimmel. Ob er groß wird oder klein, das wird eine Überraschung für dich sein. Ich wünsch dir vorab schon mal Glück mit deinem guten Stück!“
Beatrix flüsterte mir leise ihr Geburtstagsgedicht ins Ohr. Ich fing spontan an zu lachen. Das war die Rache für die Vogelscheuche von damals.
„Danke, du bist die beste Cousine der Welt“, sagte ich und gab ihr einen dicken Kuss.
Nach und nach kamen meine Eltern und alle anderen aus dem Schloss, um mir zu gratulieren. Abends schenkten sie mir eine große Party. Ich hätte gerne schon Rene dabei gehabt, aber er bekam kein Schulfrei. Wir telefonierten lange in der Mittagszeit. Ich versprach ihm eine zweite Party im Sommer, vielleicht Grillen am Bootshaus, damit er meine ganzen Freunde auf einmal kennen lernen konnte.
Nach dem Fest lief das Leben weiter. Ich spürte zwei Tage später etwas Kribbeln im Hals und dachte, ich hätte mich erkältet. Hatte ich wohl auch. Am nächsten Morgen bekam ich keinen Ton mehr heraus. Ich sagte nichts beim Frühstück. Als mein Vater mich ansprach, quiekte meine Stimme nur noch. In der Schule brauchte ich nicht mehr zu reden. Das ging bis zum 4. Mai so. Das Kribbeln im Hals ließ wieder nach. Wie üblich begrüßte ich meine Eltern zum Frühstück. Meine Mutter starrte mich überrascht an. Ich wähnte mich in einer Stimmlage wie nach einer durchzechten Nacht.
„Herzlichen Glückwunsch, mein Sohn. Ich habe endlich Verstärkung im Haus als Hausherr bekommen“, meinte mein Vater und schmunzelte zufrieden.
Der Stimmbruch hatte eingesetzt. Es würde noch lange dauern, bis sich eine stabile Stimmlage einstellte. Die Stimme veränderte sich bei biologischen Männern beständig im Laufe ihres Alters. Die Stimmbänder dehnten sich unter dem Einfluss des Testosterons, aber weil sich nicht alle auf einmal an die ‚Regeln‘ hielten, kam es zum plötzlichen Kieksen und Überschlagen. Ich hatte mir vieles aus dem Internet dazu durchgelesen. Hier galt wie überhaupt bei der Transsexuellen Prägung, dass sich jeder individuell mit seinen Wünschen hinsichtlich der Körperlichkeit auseinandersetzen musste. Ich dachte stets nur daran, untenrum ein Mann zu werden. Ich wollte im Stehen pinkeln. Das war das Wichtigste für mich. Ebenso für Rene, der ganz auf meiner Wellenlänge lag.
Auf dem Schulweg telefonierte ich mit ihm. Auch er hörte sich schon tiefer an. Glaubte ich zumindest. Wir freuten uns und flachsten. Im Juni werden wir uns in Hamburg sehen. Ich durfte tatsächlich bei ihm übernachten. Unsere Mütter hatten sich per Telefon kurzgeschlossen. Die beiden meinten, wir wären alt genug, um auf uns selbst aufpassen zu können. Die Maschine landete pünktlich am Freitagmorgen in Fuhlsbüttel. Ich fuhr direkt mit der S-Bahn in die Praxis zu Doktor Reimers. Im Wartezimmer traf ich auf Melanie. War das eine Begrüßung! Wir drückten und küssten uns minutenlang. Sie hatte ihre Hormone schon bekommen und als ich sie in den Armen hielt, konnte ich kleine Brüste im Dekolleté betrachten. Sie merkte, wie gebannt ich darauf starrte.
„Hey, du kleines Ferkel, das ist mein Busen. Schaff dir selbst einen an, wenn du so scharf darauf bist“, meinte sie.
„Die kleinen Möpse stehen dir viel besser. Du siehst gut aus, junge Frau!“
„Danke, das Kompliment gebe ich gerne zurück.“
„Na, ihr zwei, so geht das aber nicht. Etwas mehr Selbstbeherrschung, Max!“ Der Doktor stand unerwartet im Zimmer. Ich ließ Melanie los und ging gleich auf ihn zu.
„Hi, Doc. Ich stehe nicht mehr als Kind vor Ihnen. Ich bin jetzt ein Mann“, rief ich aus. Melanie tat, als ob sie husten musste.
Doktor Reimers lachte. „Der Stimmbruch hat begonnen, aber das ist nur der Anfang, Max. Wie geht es dir mit deiner Spritze?“
Wir betraten das Sprechzimmer.
„Gut. Aber ich bin gewaltig drauf, sexuell, meine ich. Die Spritze macht ordentlich Druck. Meine Klitoris sieht aus wie ein kleiner Penis, so dick ist sie. Und ich hab ein paar Pickel auf dem Rücken bekommen. Dr. Steiner hat mir Salbe aufgeschrieben.“
Wir unterhielten uns über die Nebenwirkungen des Testosterons. Ich erzählte aus meinem Leben. Die Ausrichtung war bisexuell. Da war ich mir inzwischen sicher. Ich hatte gleich auf Melanie reagiert und mir vorgestellt, mit Jenny zu schlafen. Einzelheiten über die Art und Weise der Beziehungen zu meinen männlichen Freunden wollte der Doc nicht wissen. Er hielt sich diskret im Hintergrund und wartete ab, was ich ihm freiwillig erzählte. Ich sollte erst Ende Oktober wieder kommen. Wir wollten sehen, wie die Hormone anschlugen.
Im nächsten Jahr stand mir das Abitur bevor. Meine Eltern wünschten, dass ich die Schule fertig machte und erst vor Beginn des Studiums operiert werden sollte. Die Schule forderte ihren Tribut und die OP hätte mich in diesem Jahr noch zu lange geschwächt. So konnte ich die Sommerferien nach dem Abi im nächsten Jahr zur Erholung nutzen. Ich wollte mich in Berlin operieren lassen. Es war der Eingriff, der nur aus zwei Teilen bestand. Erst werden die inneren Organe entnommen, zur selben Zeit ein Hautlappen des Unterarms präpariert, welcher eingerollt als Penisersatz an die Harnröhre angeschlossen wird. Auch Nerven werden dabei transplantiert, so dass mit dem neugeschaffenen Glied Empfindungen möglich sind. Da die aber keinen Orgasmus hervorrufen können, muss die Klitoris an ihrem Platz bleiben und wird vom Penis und von den Hoden überdeckt. Ein halbes Jahr später, nach der Erholungspause, werden die Hoden geformt und die Erektionspumpe eingesetzt.
Ich hatte mir im Internet bereits alles Wissenswerte dazu durchgelesen und meine Eltern wollten noch gegen Ende der großen Ferien mit mir nach Berlin fahren, damit ich mich dem Chirurgen dort vorstellen konnte. Ich erzählte Dr. Reimers davon. Er fand die Idee gut. Aber ich sollte mir, zumindest per Internet, weitere Methoden anschauen. Hatte ich bereits und die Berliner Art in einer einzigen Sitzung gefiel mir am besten.
Um halb zwölf Uhr verabschiedeten wir uns. Melanie umarmte mich noch einmal, als ich ging. Wir verabredeten uns mit ihr und Kerrin am Sonntag zum Brunch. Jedenfalls machte ich das auch in Renes Namen so mit ihr ab. Sein Einverständnis setzte ich einfach voraus.
Als ich aus der Praxis kam, fiel mir mein Freund schon in die Arme. Wir sahen einander an. Da standen zwei pubertierende Jugendliche auf der Straße, die nach Veränderungen beim anderen suchten, dabei völlig übertrieben, Bartflaum, Kanten und Ecken fanden, wo eigentlich noch gar nichts zu sehen war. Nur die Veränderungen an der Stimme schienen offensichtlich.
„Lass uns erst mal in den Sexshop gehen“, meinte Rene.
Ich war sofort einverstanden. Wir stiegen in die U-Bahn und fuhren zur Reeperbahn. Einige Augenblicke später standen wir in der Umkleidekabine und probierten geile enge Hosen und T-Shirts an. Jeder ließ sich seine alten Klamotten in eine Tüte packen. Stolz spazierten wir in unseren neuen Sachen nach draußen. Ich blickte mich um, um mich zu orientieren. Am Tage sah hier alles anders aus. Ich hatte nach kurzer Zeit gefunden, wonach ich suchte. Wir liefen zu Connys Tür. Ich hatte oft mit ihm telefoniert und war für heute Nachmittag mit ihm verabredet. Er freute sich darauf, Rene kennen zu lernen.
Als ich mich diesem zuwandte, wurde plötzlich die Hoftür aufgeschlossen. Conny trat auf die Straße und blickte uns fröhlich an. Ich fuhr mit der Hand etwas verlegen durch mein Haar. „Hi, du hast mir gefehlt. Das ist mein Freund Rene.“ Meine Stimme zitterte unsicher. Conny zögerte eine Sekunde, doch dann kam er auf mich zu, nahm mich in die Arme. Seine Lippen fanden zielgerichtet meinen Mund. Ich blieb etwas steif, vielleicht war es mir unangenehm vor Rene oder ich hatte Angst ihn zu verletzen? Conny merkte es. Ließ von mir ab, wandte sich um. „Hallo, ich bin Conny, eigentlich heiße ich Conrad, aber das klingt mir zu blöd. Ich hoffe, du bist nicht eifersüchtig, Rene.“ Die beiden gaben sich fünf.
Conny blickte erst zu mir, dann zu Rene. Sein Blick verharrte auf dessen flachen Oberkörper. Es schien, als ob er sein weiteres Vorgehen überdachte. „Kommt mit!“ Er lotste uns in die Nähe eines kleinen Fußballstadions. Ein Dönerladen hatte geöffnet. Wir suchten uns vor der Tür einen Tisch. „Ich hatte gestern Geburtstag und geb einen aus“, erklärte Conny, stützte sich dabei auf einen Gartenstuhl. „Und so etwas sagst du mir nicht? Herzliche Glückwünsche!“ Wir lagen uns erneut in den Armen. Diesmal schloss sich Rene an. Conny ging in den Laden um zu bestellen. Rene spielte mit der Speisekarte, streckte seine Beine lang unter dem kleinen runden Partytisch aus und sinnierte. „Es gibt schöne Ecken hier in Hamburg. Da drüben liegt ein Fleet. Im Sommer kann man Kanus mieten.“ Conny kam zurück. Er hatte mit gehört. „Essen dauert etwas. Ich war lange nicht mehr auf der Alster“, meinte er. „War früher mit meiner Mum oft Segeln. Aber seitdem sie ihren Macker hat, ist unser Kontakt eingefroren.“
„Was haltet ihr davon, wenn wir Conny einen Segelausflug auf der Alster schenken?“ Wie immer war ich um eine Idee nie verlegen. Spontaner Zuspruch und Jubel erfüllten den kleinen Imbiss. Der Nachmittag schien gerettet. Nach dem Essen stiegen wir gut gelaunt in die U-Bahn und fuhren an die Alster. Ich mietete uns ein Boot. Segeln hatte ich schon früh auf dem Starnberger See während der vielen Besuche bei meiner Oma gelernt. Auch Rene besaß einen Segelgrundschein. Conny hatte nicht gelogen. Er konnte hervorragend mit der Jolle umgehen und segelte uns hart am Wind. Wir kreuzten über die Alster, erfreuten uns am Hamburger Wetter, welches uns eine herrliche Brise bescherte und vergaßen die Zeit. Kurz vor Ende des Törns passierte das Unglück. Conny saß am Ruder, Rene und ich hingen mit unseren Oberkörpern halb aus dem Boot, als uns ein Segler rammte. Wir hatten Vorfahrt, aber das schien die andere Crew nicht zu interessieren. Der Aufprall war heftig, obwohl Conny in letzter Sekunde noch ein Ausweichmanöver hinbekam. Er war wütend aufgestanden und schimpfte sein Gegenüber aus, dabei verlor er den Halt und fiel ins Wasser. Wir zogen ihn gemeinsam an Bord. Der Bootsverleiher erwartete uns am Steg und nahm sich den gegnerischen Kapitän zur Brust. Der entschuldigte sich kleinlaut. Gemeinsam untersuchten wir die beiden Boote auf Schäden. Es war gottlob nicht viel passiert. Die andere Crew lud uns zusammen mit dem Bootsbetreiber zum Essen in einem kleinen Alstercafe ein. Conny erhielt trockene Hosen vom Bootsverleiher.
Gegen 20 Uhr hatte die Sonne Connys nasse Kleidung getrocknet. Wir verabschiedeten uns. Conny wollte nach Hause und nahm uns in seine Wohnung mit. Die bestand aus einem einzigen Zimmer und seine Einrichtung hatte schon bessere Tage gesehen. Dennoch, es war klein aber sein. Rene stieß einen Überraschungsschrei aus, als er Connys Filmesammlung entdeckte. „Darf ich?“, fragte er und fing sofort an die DVD’s zu durch suchen. Conny nickte und startete seine teure TV-Anlage, die im Gegensatz zum restlichen Inventar direkt von der Funkausstellung zu stammen schien. Wir machten es uns gemütlich. Conny stellte einige Dosen Bier auf den Tisch und warf uns zwei Tüten Chips zu. Rene hatte sich ziemlich versaute Sachen ausgesucht. Um zehn Uhr hatten wir genug. Was sollte mit dem angebrochenen Abend geschehen? „Können wir nicht dorthin gehen, wo ihr letztes Mal wart?“, fragte Rene in die kleine Runde. „Du willst Sina kennenlernen, du Ferkel!“ Ich knuffte ihn. „Warum nicht? Sie scheint nett zu sein. Ich würde gerne mal wissen, wie es mit einer Frau ist!“ Conny starrte ihn entgeistert an. „Ich nicht.“
Ein paar Minuten später mischten wir uns unter die nächtlichen Gäste der Reeperbahn. Conny führte uns durch enge Gassen und erzählte von den Clubs und Laufhäusern, an denen wir vorüberkamen. Er kannte die meisten Besitzer. Die sündigste Meile der Welt war gleichzeitig auch die Sicherste. Wer hätte das gedacht? Bandenkriminalität und harte Straftaten kamen so gut wie keine vor. Ein Trupp Jugendlicher lief grölend zwei Streifenpolizisten in die Arme, die prompt die Ausweise kontrollierten. Conny erkannte die Gefahr rechtzeitig und schob uns in einen Hinterhof. Zwei Männer standen dort in einer dunklen Ecke und küssten sich. Conny ignorierte sie und klopfte gegen ein Fenster. Ein bekanntes Gesicht blickte mir einen Moment später entgegen. Es war Sina. „Hey, ihr Süßen, was für ein netter Besuch! Wollt ihr reinkommen?“ Conny öffnete die Tür zu Sinas kleiner Kiezwohnung. Durch einen wenig beleuchteten Flur kamen wir ohne Umwege in ihr Schlafzimmer. Ich hatte genau wie Rene noch nie ein Hurenzimmer in Natura gesehen. Eine schwülstige einfarbige rote Tapete und ein großes schwarz-weiß Foto, das Sina nackt vor einem Ozeanriesen zeigte, waren nicht zu übersehen. Das Bett nahm den meisten Raum ein. Rote Kissen mit weißen Herzchen lagen überall herum. Neben einem Frisierschrank befanden sich ein Tisch und zwei kleine Sessel. „Sucht euch einen Platz, wer möchte Bier, wer möchte Cola?“ Sina blickte erstaunt zu Rene. „Na, Kleiner, bis ich dir etwas beibringen kann, müssen sicher noch ein paar Jahre vergehen!“ Rene schlug verlegen die Augen nieder. „Er ist wie ich, Sina. Wir werden nächstes Jahr operiert und bis dahin haben uns die Hormone männlicher gemacht. Wir sind beide inzwischen Siebzehn durch. Aber dein Angebot steht. Im nächsten Jahr feiern wir bei dir unseren Einstand als Männer.“ „Super, vielleicht kann ich ja auch euren Freund heilen? Ach, Conny, warum musst du es mit Kerlen treiben?“ Sie nahm Rene und Conny in die Arme und gab beiden einen Kuss. „Hier, das gibt es heute kostenlos zur Einstimmung!“ Conny grinste. „Das funktioniert bei mir nur mit Schwänzen. Ich stehe nicht auf Mädchen.“ „Sag mal, wie läuft so ein Strichersex ab? Ist das wie bei den Frauen?“, fragte Rene. Er klang recht naiv. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. „Das hört sich ja nach reichlich Erfahrung an, Rene! Du hast es anscheinend faustdick hinter den Ohren“, rief Sina aus und verteilte die Getränke.
„Ne, ich hab nur ein paar Filme gesehen.“
Rene beeilte sich, seine bescheidenen Kenntnisse der Liebe zu offenbaren. Conny nahm einen Zug aus der Bierdose. „Das ist in der Tat nicht anders. Ich stehe ‘rum, werde angesprochen und sage den Preis. Meistens geh ich mit dem Freier in meine Wohnung. Aber ich schaffe auch drüben auf dem Parkplatz an. Dann nutzen wir den Park. Dort gibt es ein Klohaus, in das wir uns verziehen, oder aber wir bleiben draußen. Es ist halt Sex, nichts weiter. Das Übliche. Ich kriege mein Geld, er seinen Spaß und das war’s.“ Rene nickte. „Es passiert dasselbe wie auf den Videos. Hast du Leute, die immer wieder kommen?“ „Klar, Stammfreier gehören dazu und garantieren mir meinen Verdienst. Aber das macht es auch zum Problem. Wenn ich nicht mehr will, muss ich dem Freier Bescheid sagen. Die sind alles andere als glücklich. Da hat sich ja bereits ein Vertrauensverhältnis gebildet.“ „Wie viel verdienst du in einer Nacht?“, fragte ich und dachte daran, was meine Mutter sagen würde, wenn sie wüsste in welcher Gesellschaft ich mich befand. „Unterschiedlich, zwischen fünfzig und fünfhundert Euro.“ Das hörte sich nicht nach wenig an. „Und wie regieren deine Eltern? Wissen die, was du machst?“ Im nächsten Moment schalt ich mich. Ich musste wie ein Spießer und ein Moralapostel wirken. Doch Conny blieb ganz cool. Es schien ihm nichts auszumachen, so privat über sich zu sprechen. „Ich habe meine Mutter seit drei Jahren nicht mehr gesehen und meinen Vater kenne ich nicht. Meine Mutter ging früher anschaffen. Es ist gut möglich, dass sie es wieder tut. Ihr Macker ist ein Arsch und es würde mich nicht wundern, wenn er sie auf den Strich schickt. Aber sie ist erwachsen und muss wissen, was sie will. Huren bekommen häufig Kinder von ihren Luden und ich ahne, wer mein Vater sein könnte. Er besitzt ein paar Läden und Laufhäuser aufm Kiez. Einige der älteren Nutten machten mal Andeutungen. Meine Mutter sagt nix. Es ist mir auch egal. Solange sie mit diesem Typen zusammen lebt, bleib ich da weg.“ Das hörte sich alles sehr traurig an. Mein Herz öffnete sich vor Mitgefühl und ich hätte am liebsten spontan geheult. Stattdessen stand ich von meinem Sessel auf, kletterte zu Conny aufs Bett und umarmte ihn. Er erwiderte die spontane Geste mit einem Kuss. Wir blieben noch eine Weile, bis uns Sina sanft aber bestimmt rauswarf. Sie sagte, sie musste sich stylen, denn sie bekam gleich Besuch von einem Freier. Eine herzliche Verabschiedung schloss sich an.
Auf der Hauptstraße angekommen standen wir im pulsierenden Leben. Es war Mitternacht durch. Noch brauchten wir nicht nach Hause. „Gibt es hier Schwulenclubs, Conny?“, fragte ich. „Klar, aber die sind erst ab achtzehn. Es gibt aber einen Jugendtreff für schwule Jugendliche. Wollen wir mal hin?“ In unseren strahlenden Blicken konnte er die Antwort ablesen. Wir benutzen ein paar abgelegene Gassen, um nicht einer Polizeistreife in die Quere zu kommen. Das Jugendtreff sah von außen unscheinbar aus. Es hieß Cap und Capper. Ich musste lachen und sagte den anderen den Grund. Conny klärte uns auf. Es war tatsächlich nach den beiden Disneyfiguren benannt. Der Eingang lag in einem Seitenweg, etwas abseits. Drinnen empfing uns ein junger Mann, der sich als Marvin vorstellte und Sozialarbeiter war. Er kannte Conny gut. „Der Treff hat die ganze Nacht geöffnet. Wir haben eine Sondergenehmigung, damit wir rund um die Uhr verfügbar sind. Es kommen oft Jugendliche hierher. Meistens werden sie von unseren Streetworkern gebracht. Sie versuchen an die Jungen heranzukommen.“ „Sind es Ausreißer?“, fragte ich. Marvin antwortete: „Ja, ein Zuhause haben sie oft nicht, treiben sich auf der Straße herum. Viele sind Missbrauchsopfer und Gewalt in der Familie ausgesetzt. Deswegen haben wir das Treff und den Verein gegründet. Wir bekommen Unterstützung von der Stadt. Anfangs wollten wir nur Anlaufstelle für Strichjungen sein, doch nun kommen alle. Auch Drogenabhängige finden den Weg zu uns und längst nicht jeder ist noch unter achtzehn. Ihr könnt euch umschauen. Vorne an der Bar gibt es Getränke.“ „Danke, Marvin. Es ist heute nicht so voll wie sonst.“ Conny nickte unserem Gastgeber zu. „Wollen wir eine Runde Billard spielen?“, fragte er uns. Rene und ich bejahten, schmusten während des Spiels abwechselnd mit ihm. Das war nach unserem Geschmack. Rene sah plötzlich auf sein Handy. „Meine Mutter fragt, wo wir sind. Ich denke, wir müssen los. Es ist kurz vor ein Uhr.“ „Ich bring euch zur S-Bahn“, erklärte Conny. „Sehen wir uns noch einmal, an diesem Wochenende?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wir sind heute mit Renes Eltern verabredet und wollen morgen früh mit unseren Mädels zum Brunchen. Gegen Mittag geht mein Flieger. Conny, wir telefonieren und sehen uns im Oktober wieder. Vielleicht triffst du Rene vorher. Grüße Sina von mir!“ Eine Stunde später lernte ich Renes Mutter kennen. Sie war sehr nett. Wir schliefen bis gegen Mittag. Renes Vater lud uns zum Essen ein, danach wollten wir zum Fußball.
Ein herrliches Wochenende ging viel zu schnell vorbei.
Am Sonntagabend saß ich wieder allein in meinem Zimmer und am nächsten Tag lief das alte normale Leben auf Schloss Wildenstein weiter. Die Schule nahm mich voll in Anspruch und meine Stute Milla verlangte viel Aufmerksamkeit. Jenny freute sich sehr auf ihren Besuch. Anfang Juli begannen in Hamburg die Sommerferien. Andy fuhr mit mir zum Bahnhof, um Rene abzuholen. Er hatte gerade den Führerschein bestanden und durfte sich das Auto seiner Eltern ausleihen.
Ich machte die beiden bekannt. Die zwei begrüßten sich wie ein altes Liebespaar. Rene staunte mit großen Augen, als er das erste Mal unseren Schlosshof betrat. Für Andy und mich war das normaler Lebensalltag, aber Rene kannte Schlösser nur aus dem Märchen und hatte ansonsten ein oder zwei davon mit den Eltern im Urlaub besichtigt.
Wir waren ausgestiegen und standen vor der imposanten Eingangstreppe. Er blickte sich vollkommen erschlagen um. Durch das große schmiedeeiserne Tor waren wir auf das Portal zugefahren. Direkt vor dem Eingang hatte der Gärtner ein Rondell angelegt, dass aus Rasen, einer kleinen Hecke und zwei Lebensbäumen bestand, die just so platziert worden waren, dass sie dem Ankommenden den Blick auf die Tür wiesen und diese einrahmten. Der kleine Balkon darüber war als Blickfang gedacht. Das Haupthaus verfügte über zwei Stockwerke. Unser Dach sah sehr wuchtig aus, musste aber ständig repariert werden und die Kosten brachten meinen Vater oft zur Verzweiflung. Auch die Heizkosten der inzwischen in allen achtundsechzig Räumen eingebauten Gasheizung fraßen ihn auf. Im Winter wurden die Öfen benutzt. Holz hatten wir selbst genug. Es wurde in der schlosseigenen Sägerei ofenfertig gesägt.
An beiden Seiten des Hauptgebäudes schlossen sich Durchgänge und kleinere Gebäude an, die in die Stallungen und in unsere Reithalle führten. Wir hatten die eine Seite für die vielen landwirtschaftlichen Geräte reserviert. Dort standen die Trecker und Güllewagen, sowie die Pferdeanhänger und die Fahrzeuge für die Holzwirtschaft.
Neben Mia und einigen Aushilfskräften, der Köchin Lisa und unserem Hausmeister Dietrich, arbeiteten noch sechs weitere Männer für meinen Vater auf dem Schloss. Die Brauerei und die Brennerei befanden sich unten im Dorf. Der riesige Schlossteich, der annähernd das ganze Anwesen umgab, war mein schönster Spielplatz gewesen. Auf der anderen Straßenseite hatte die Gemeinde einen Badesee für die Touristen mit Tret- und Ruderbooten geschaffen.
„Mein Gott, Max. Und ich bewohne mit meinen Eltern drei Zimmer in einer billigen Mietskaserne. Was hast du für ein Glück!“ Rene konnte sich nicht satt sehen.
Andy lächelte. „Adel verpflichtet, sagt Max‘ alter Herr immer. Von unserem Kumpel wird einiges verlangt und ich glaube, die Wildensteins müssen ganz schön auf ihren Geldbeutel schauen. Wann sind deine Eltern eigentlich das letzte Mal in Urlaub gewesen?“, fragte er mich.
Ich schüttelte den Kopf. „Ist lange her. Sie besuchen nur meine Tante und meinen Onkel. Meine Oma ist schon uralt und meine Mutter fährt oft zu ihr nach Starnberg. Die Hütte hier verschlingt Unmengen an Kleingeld. Ich weiß gar nicht, ob wir noch die rechtmäßigen Eigentümer sind oder bereits der Bankier aus der Kreisstadt. So oft, wie der bei meinem Vater im Büro sitzt. Ich muss BWL und Forstwirtschaft studieren, um den Laden später übernehmen zu können. Mein Vater will mir eine intakte Firma hinterlassen. Gottseidank werfen die Brauerei und die Schnapsbrennerei noch etwas ab, aber auch da ist die Konkurrenz groß geworden“, erklärte ich ernst.
Die Tür öffnete sich und meine Mutter kam zusammen mit Mia die Treppe herunter.
„Hallo, du bist Rene?“
Verlegen gab der ihr die Hand. „Wie spreche ich Sie denn jetzt richtig an? Frau Gräfin?“
Mutter lachte. „Du darfst Adelheid zu mir sagen und mich duzen. Oder gerne Mum, wie Max. Das höre ich noch lieber. So kann ich euch noch etwas erziehen, was sonst in eurem Alter schwierig ist. Es wird dir sicher bei uns gefallen, Rene. Du kannst bei Max im Zimmer schlafen, aber wir haben dir nebenan ein Gästezimmer bezogen. Damit du mal deine Ruhe bekommst. Meinen Mann lernst du nachher beim Kaffee kennen. Max wird dich überall herumführen. Du willst wie Max BWL studieren?“
„Ja, oder Jura. Ich weiß noch nicht. Das kommt darauf an, ob ich einen Studienplatz in Hamburg finde.“
„Vielleicht kannst du später mal für uns arbeiten, wir brauchen gute Leute.“ Ich lachte. „Und was ist mit mir, Mum? Bin ich nicht gut?“
Sie drückte mich und Mia hustete, als sie sich Renes Rucksack schnappte. „Es gibt da einige Geschichten aus der Kinderzeit unseres jungen Grafen“, murmelte sie vielsagend, mit einem verschmitzten Seitenblick auf meine Mutter, die unmerklich die Lippen verzog.
Im Schloss gingen Rene endgültig die Augen über. Nach der ersten Führung machten wir es uns in meinem Zimmer bequem. Ich erzählte von meiner Familie, von Hubertus, wie er mir damals die ersten Passworte für meinen Laptop mit den besonderen Websites gab und den Streichen, die ich als Kind gespielt hatte, um ja wie ein Junge ‘rüberzukommen. Das meiste wusste er schon, aber es fehlte noch viel, über das ich ihm erst jetzt berichtete.
Andy verabschiedete sich. Er wollte am Abend mit dem Rad wieder kommen, weil seine Mutter das Auto brauchte.
„Ist schon krass, Alter. Wenn Conny das hier sieht, dreht er völlig durch. Andy ist ein feiner Kerl und ich glaube, er ist an der gewissen Stelle gut gebaut“, meinte Rene, als wir allein waren. Er lümmelte sich zufrieden auf meinem Sofa.
Um vier Uhr saßen wir auf der Terrasse und tranken Kaffee mit meinen Eltern. Mein Vater interessierte sich für Renes berufliche Pläne.
„Gut“, sagte er. „Warten wir erst einmal euer Abi ab und sehen, wie es mit dem Studium läuft. Max soll eigentlich an die Uni in München gehen. Ich kenne dort noch einige Leute aus meiner eigenen Studienzeit und die Ausbildung ist hervorragend.“
Ich grinste. „Ich hatte schon daran gedacht, zu Rene nach Hamburg zu ziehen. Einmal ganz raus aus Bayern kann nicht schaden“, erklärte ich.
Vater sah mich skeptisch von der Seite an. „Da bist du mir zu weit weg. Ich habe immer gerne ein Auge auf dich. Weißt du, Rene, hatte ich nicht mal erzählt, dass unsere Familie einem uralten Raubrittergeschlecht angehört? Die ließen nichts anbrennen, feierten verdorbene Orgien und hielten Zechgelage ab. Max hat das Blut derer von Wildenstein in den Adern. Ich muss aufpassen, dass er nicht über die Stränge schlägt.“
Mein Freund senkte schmunzelnd den Kopf. „Da könnten Sie Recht haben, Herr Graf. Max ist beileibe kein Kind von Traurigkeit!“
Wir neckten uns weiter, besuchten nach dem Kaffee die Pferdeställe. Rene wollte reiten lernen. Dazu hatte er in den kommenden sechs Wochen Gelegenheit genug. Ein Pferd war schnell gefunden und er sollte seine Reitstunden erhalten, während ich trainierte. Für Jennys Stute richteten die Stallburschen bereits eine Box her. Jenny würde nächste Woche kommen, wenn in Schleswig-Holstein die Schulferien begannen.
Es war geil. Ich hatte alle meine Freunde zusammen, bis auf… Conny. Nun, vielleicht fand sich später eine Lösung für einen Besuch bei mir.
Um sechs Uhr am Abend trafen wir Andy im Bootshaus. Er wusste inzwischen von Conny und unseren Hamburger Bekanntschaften. Wir schmiedeten Pläne für die kommenden Ferien. Zwischen Andy und Rene begann es zu knistern. Ich fragte, ob ich die beiden allein lassen sollte. Rene meinte, dass das nicht nötig wäre. Wir könnten uns Andy auch teilen. Um halb acht Uhr saßen wir geduscht und in frischer sauberer Kleidung bei Tisch, parlierten brav mit meinen Eltern, telefonierten nach dem Essen mit seinen und ich überraschte Rene mit meinen bescheidenen Künsten auf dem Klavier. Besonders gut war ich nicht, aber ich hatte mich meiner Mutter gefügt und als Kind von ihr Unterricht bekommen, so dass ich leidlich klimpern konnte.
Rene, der immer noch mit seinen Gedanken im Bootshaus weilte, staunte. „Du hast ja Qualitäten, von denen ich bislang gar nichts ahnte.“
Die Woche verging wie im Flug. Er brauchte seine Spritze wie ich und bekam sie bei Doktor Steiner, meinem Hausarzt.
Jenny war eingetroffen, nahm nicht nur die Stallungen und die Reithalle in Besitz, sondern auch mich. Meine Mutter hielt große Stücke auf sie und freute sich, sie in einigen Jahren als Schwiegertochter begrüßen zu dürfen. Ihre Eltern besaßen ein kleines Gut in Schleswig-Holstein. Ihr Vater führte daneben eine Anwaltspraxis. Ihre Mutter hatte Jura studiert, sich später aber der Erziehung der zwei Töchter, dem kleinen Sohn und dem Haushalt gewidmet. Jenny war die passende Partie und sie wusste über alles bei mir Bescheid. Ich glaube, sie hatte sich bereits mit dem Gedanken angefreundet, eines Tages hier auf dem Schloss zu leben. Sie wachte jedenfalls mit Argusaugen darüber, dass ich ihr genug Zeit widmete.
Rene telefonierte viel mit Kerrin, die in Elmshorn wohnte. Mitte Juli fuhren wir zusammen mit meiner Mutter nach Berlin. Jenny begleitete uns und hörte sich sehr interessiert den Vortrag über die Operationsmethode und den Verlauf des großen Eingriffs an. Dass ich mit meiner Pumpe später normalen Geschlechtsverkehr mit ihr haben konnte, wusste sie.
Und auch unser Nachwuchsproblem war bereits gelöst.
Jenny wollte erst meines und danach ihr eigenes Kind austragen. Sie hatte mit ihrer Mutter darüber gesprochen und sofort Zustimmung erhalten. Nun mussten wir nur noch einen geeigneten Samenspender finden. Andy hätte sich liebend gerne zur Verfügung gestellt, war aber bei meiner künftigen Frau und Gräfin Wildenstein komplett durchgefallen. Natürlich unterhielt man sich auch in der nahen Verwandtschaft darüber. Das Problem löste sich auf elegante Weise und fand nie wieder Erwähnung.
Jenny und Hubertus führten während eines Spaziergangs um den See ein anregendes Gespräch über die Erhaltung unserer Dynastie. Er war als Kandidat für die Spende bestens geeignet und fühlte sich sehr geehrt. Wir flachsten, er solle sich nicht zu sehr bei den anderen Damen verausgaben. Die Zeugung ihres Babys würde in einer Arztpraxis heterologisch durchgeführt werden. Möglicherweise werden wir dies für meinen Embryo, der ja in vitro befruchtet werden muss, in Holland vornehmen lassen. Rechtlich ist Jenny nach unserer Eheschließung meine Frau und sie wird die Mutter beider Kinder sein. Das Leihmutterschaftsverbot wird also gar nicht berührt. Ob ich als Vater in die Geburtsurkunde eingetragen werden kann, werden wir durch unseren Anwalt regeln lassen. Vielleicht
machen wir uns viel zu viele Gedanken darüber und brauchen uns gar nicht zu erklären. Ich bin nicht verpflichtet, über meine Transsexualität Auskunft zu geben. Ich denke, dass sich in den nächsten Jahren durch neue Regierungen und Gesetze auf diesem Gebiet einiges ändern wird. Rene hatte mit Herrn Reimers gesprochen, der sich mit dessen besonderer Kinderwunschproblematik befassen wollte. Wir hatten Angst, dass er sich nach der Hormonbehandlung keine Eizellen mehr entnehmen lassen durfte. Dr. Malinka untersuchte ihn und gab grünes Licht. Rene war gesetzlich versichert, er musste sich mit der Krankenkasse seiner Eltern auseinandersetzen. Unsere OP sollte in einer Privatklinik durchgeführt werden. Nicht alle Kassen übernahmen die Kosten anstandslos, da sie über den gesetzlich zugelassenen Gebührensätzen lagen. Mein Vater signalisierte seine Hilfe sowohl für die OP als auch für die Einlagerungskosten von Renes Eizellen. Unser Rechtsanwalt wird sich für Rene einsetzen, sobald Schwierigkeiten auftauchen. Für meinen Freund gestaltet sich die spätere Elternschaft schwieriger, denn sollten er und Kerrin ein Paar werden bzw. bleiben, so kann Kerrin zwar ihren Samen in einer Samenbank deponieren, als Transfrau kann sie aber selbst keine Kinder bekommen. Sie braucht in jedem Fall eine Leihmutter und das ist momentan in Deutschland nicht erlaubt. Herr Reimers hat Bekannte in Holland, wo das Thema sehr viel menschlicher behandelt wird und machte ihm Hoffnung. Dort dürfen auch zwei Transsexuelle nach der Operation leibliche Eltern werden, wenn ihr Erbgut eingelagert wurde. Der rechtliche Teil muss mithilfe von Adoptionsverfahren geregelt werden, solange Deutschland bei seiner altertümlichen Gesetzgebung bleibt.
Wir sprachen davon, dass wir in Europa neue moderne Gesetze brauchen, welche mit der medizinischen Entwicklung Schritt halten können. Das gilt nicht nur für die Neufassung des TSG, sondern auch für einen vernünftigen Umgang mit Leihmutterschaft, sowie der trans-und homosexuellen Elternschaft. Deutschland ist durch seine traurige Vergangenheit prädestiniert dafür, der Welt den Weg in eine offene tolerante Gesellschaft vorzuleben. Letzten Endes ist es egal, wer leiblicher Vater oder wer leibliche Mutter ist, solange die entsprechende Rubrik in der Geburtsurkunde ausgefüllt wurde und man den Entstehungsweg eines Kindes nachvollziehen kann. Ich bin sicher, dass irgendwo auf der Erde bereits an einer künstlichen Gebärmutter geforscht wird. Wir leben im dritten Jahrtausend, welches das Zeitalter der Raumfahrt begründet. Für Frauen, die in ferne Galaxien unterwegs sind, muss es eine alternative Möglichkeit von Schwangerschaft und Geburt geben. Den Anfang hat man mit der Invitro Fertilisation bereits gemacht. Nun muss man den Embryo nur noch außerhalb des Mutterleibs in einer Brutmaschine wachsen lassen. Die technischen Probleme werden mit Sicherheit zu lösen sein. Eine Gesellschaft, die jedem ihrer Bürger freiheitlich demokratische Grundrechte garantiert, muss die Vielfalt menschlicher Lebensentwürfe anerkennen und rechtlich entsprechend definieren. Die Freiheit des einzelnen nach seinen Bedürfnissen leben zu können, schließt die Freiheit des anderen, solches zu kritisieren ein.
Für die Operation schreibt uns Doktor Reimers die ärztliche Verordnung. Er will auch eines der beiden notwendigen Gerichtsgutachten für die Vornamen- und Personenstandänderung fertigen. Meinen Antrag hatte ich bereits bei Gericht eingereicht. Das zweite Gutachten wird Frau Michelsen abgeben und Rene ist bereits in Hamburg bei einem Zweitgutachter in der Kartei.
Alles lief wie am Schnürchen. Andy und ich brachten Rene mit Tränen in den Augen am Ende seiner Ferien zum Bahnhof.
Auch Jenny fuhr wieder nach Hause. Sie ging wie ich in die zwölfte Klasse und wird im kommenden Sommer ihr Abitur machen. Meine und auch ihre Eltern gaben uns deutlich zu verstehen, dass sie für diese Verbindung in einigen Jahren, wenn wir erwachsen sind und unsere Berufsausbildung abgeschlossen haben, mit Freuden ihren Segen geben.
Das neue und gleichzeitig letzte Schuljahr brach an. Ich wurde langsam männlicher. Meine Stimme hörte sich zwar immer noch sehr jung an und einen Bartwuchs konnte ich an mir nicht feststellen. Doch äußerlich war ich als männlicher Jugendlicher erkennbar entwickelt, wenngleich ich mehr für vierzehn Jahre durchging, als für mein tatsächliches Alter.
Mein Termin am 5. Oktober musste auf den Freitagnachmittag gelegt werden. Ich konnte mir trotz guter Noten keinen Fehltag in der Schule mehr erlauben. Andy und ich büffelten in einer Tour.
Als ich zum Arzt sollte, flog ich am frühen Freitagnachmittag nach Hamburg. Doktor Reimers kontrollierte meine Testosteronwerte und untersuchte mich körperlich. Ich war wieder etwas gewachsen und hatte zugenommen. Meine Muskeln waren nach dem regelmäßigen Krafttraining stärker geworden.
Als ich aus dem Sprechzimmer kam, saß Rene drinnen. Er war als nächster dran. Wir hatten kaum Zeit für die Begrüßung. Ich wartete auf ihn. Sein Antrag auf die geschlechtsangleichende OP lief bei der Krankenkasse. Unser Anwalt hatte einmal an diese geschrieben.
Vaterfreuden
Eine Viertelstunde später lagen wir uns in den Armen. Ich hatte meine Schlittschuhe von zuhause mitgebracht. Die Außenbahn bei Planten un Blomen war dank der kalten Witterung bereits geöffnet. Rene verlor keine Zeit. Vor der Praxis stiegen wir gleich in den Bus. Als ich meinen Eintritt für die Eisbahn bezahlt hatte und mich umschaute, bemerkte ich das Riesenrad auf dem Heiligengeistfeld. Musik-und Sprachfetzen tönten herüber und Gerüche von Bratwurst und gebrannten Mandeln stiegen mir in die Nase. „Hey, ist schon Dom?“ Rene grinste. „Conny will morgen Abend mit uns rüber. Wir dürfen unsere Mädels mitbringen. Kerrin weiß Bescheid. Heute müssen wir um halb Sieben los. Mein Alter hat einen Tisch im Balkan Restaurant bestellt. Er holt uns hier ab und du kannst deine Klamotten bei ihm im Auto lassen. Zu späterer Stunde treffen wir Conny bei ihm zu Haus. Sina hat Sehnsucht nach uns. Wir wollen auf dem Kiez etwas mit ihr trinken.“ Das hörte sich gut an. Es war halb fünf Uhr und die nächsten zwei Stunden konnten wir uns auf der Eisbahn austoben.
Kurz nach sechs Uhr bemerkte ich Renes Vater an der Bande. Er lachte zu uns rüber. Ich fuhr zu ihm. „Nicht lachen, Rolf. Schlittschuhe an und dann drehst du mit uns ein paar Runden!“, rief ich übermütig aus. „Ne, ne, ich will mir nicht die Haxen brechen, wie ihr in Bayern sagt. Das Toben überlasse ich Rene. Ich werde noch gebraucht. Alles gut, Max? Was macht die Schule?“ „Alles ok, aber viel Arbeit. Mein Dad ist, was meine Zensuren angeht, noch einigermaßen vernünftig, aber meine Mutter macht ordentlich Druck. Adel verpflichtet auch in der Schule, meint sie. Ich kann ihr da leider nicht zustimmen.“ Renes Vater arbeitete bei der Stadt als Verwaltungsbeamter. „Es ist hart, das weiß ich. Aber mit einem guten Notenschnitt erhöhen sich deine Chancen auf einen Studienplatz deiner Wahl beträchtlich. Ihr zwei habt ja ein besonderes Ziel im nächsten Jahr. Und nach dem Abi könnt ihr euch auf den Eingriff vorbereiten. Rene hat gerade einen Brief von der Krankenkasse erhalten. Sie wollen eine Bescheinigung von Herrn Reimers und fragen, wann mit der Vornamen-und Personenstandänderung zu rechnen ist.“
Ich stieß einen Freudenschrei aus. „Super, dann hat sich der Brief von Herrn Dr. Wanninger ja gelohnt. Renes Antrag liegt doch schon beim Gericht, oder?“ Er war gerade herangefahren und hatte uns erst jetzt bemerkt. „Du bist eine halbe Stunde zu früh, Dad.“ Ich knuffte ihn. „Sei nicht so frech. Dein Vater ist ok. Hast du schon Gespräche mit dem Zweitgutachter?“ Rene nickte. „Es war schwer bei dem einen Termin zu bekommen. Man muss sich wundern, wie viele Transen es in Hamburg gibt. Ich hab den Ersttermin nächsten Donnerstag.“ „Frau Michelsen ist auch noch nicht fertig. Ich denke im Februar wird es soweit sein und wenn wir das Schreiben vom Gericht haben, können wir endlich den Ausweis und die Geburtsurkunde umschreiben lassen. Musst du überhaupt den Vornamen wechseln? Rene ist doch geschlechtsneutral?“
Rolf schüttelte den Kopf. „Er heißt anders.“ Und wehrte gleich ab, als er Renes Augen böse funkeln sah. „Ich sag nix!“ Wir verließen die außergewöhnlich schöne Eisbahn und zogen uns unsere Schuhe an. Eine halbe Stunde später saßen wir in einem tollen Balkanrestaurant in der Nähe der Alster. Wir hatten beide Hunger. Renes Vater lachte, als er sah, was für riesen Portionen wir futterten. Um neun Uhr verabschiedeten wir uns von ihm. Er nahm meine Reisetasche mit nach Norderstedt. Rene und ich fuhren gut gelaunt mit der U- Bahn zur Reeperbahn. Ohne vorher anzurufen klingelten wir an Connys Haustür. Er war anscheinend nicht da. Ich schrieb eine SMS. Antwort: „Bin am Parkplatz, hab Kundschaft.“ Ich zeigte Rene die Zeile. „Wo ist das?“ Ich schrieb zurück und bekam sofort eine Beschreibung des Weges. Nach zehn Minuten Spaziergang standen wir vor dem Eingang zu einem Park. Auf der gegenüber liegenden Seite fügte sich ein Toilettenhäuschen aus roten Backsteinen in das Landschaftsbild ein. Es machte, von hohen Bäumen umgeben, einen nicht gerade einladenden Eindruck auf mich. Ein schmaler Pfad führte von dort zu einer Wendeschleife für Autos. Der Abend forderte seinen Tribut und hüllte uns in Dunkelheit ein, an die sich unsere Augen nur mühsam gewöhnten. Arglos steuerten wir auf grelle Autoscheinwerfer zu. Ich erschrak, als ich unmittelbar neben mir ein Geräusch wahrnahm. Eine dunkel gekleidete Person trat etwas hervor und musterte uns eindringlich. Rene hatte den jungen Mann ebenfalls bemerkt und flüsterte mir zu: „Du, hier haben die Sträucher Ohren und Augen. Überall stehen Leute im Gebüsch. Siehst du das?“ Ich sagte ebenso leise „ja.“ Die Situation hatte etwas Unheimliches an sich. Ich konnte nicht behaupten, dass ich mich auf diesem Weg wohlfühlte. Plötzlich blitzte etwas über uns auf. Eine Straßenlaterne hatte sich wie von Geisterhand eingeschaltet. Die Sonne war im Begriff am Horizont zu verschwinden. Der Himmel färbte sich glutrot. „Gleich ist Draculatime!“, frotzelte ich in Richtung meines Kumpels. Und als ob sie mich verstanden hatte, flatterte eine Fledermaus demonstrativ über uns hinweg. Rene zischte durch die Zähne: „Was du nicht sagst. Dracula liebt bayerisches Adelsblut! Er wird dich zu seinem Diener machen.“ Wir waren am Parkplatz angekommen. Einige Jungen, deren Alter sich schwer zu schätzen ließ, standen am Straßenrand oder gingen auf und ab. In den herannahenden Autos saßen Männer, die anhielten und mit ihnen sprachen. Conny war nirgends zu entdecken. Unschlüssig warteten wir. Ich trat von einem Bein aufs andere. Das wurde anscheinend von den Autofahrern missverstanden. Ein dunkelblauer Ford hielt neben uns. „Wie viel?“, fragte der untersetzte Mann am Steuer. Ich sah in den Wagen und schätzte ihn auf fünfzig bis sechzig Jahre. „Ähm, gar nichts. Wir stehen hier nur und warten auf unseren Freund“, stammelte ich.
„Ich bezahl gut und mach auch nichts ohne Gummi“, meinte er. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Ein älterer Junge kam auf uns zu. „Was wollt ihr hier, haut ab. Das ist nichts für euch!“ Rene hob beschwichtigend die Hände. „Ganz cool. Wir sind mit unserem Kumpel verabredet. Er hat uns das hier beschrieben.“ Der Junge, den ich auf Anfang zwanzig schätzte sah jünger aus. Er trug eine enge weiße Hose, unter der sich sein Geschlecht abzeichnete. Das gelbe T-Shirt schien eingelaufen zu sein. Es endete am Bauchnabel. Er war leicht geschminkt, hatte die Lippen gefärbt und blauen Lidschatten aufgelegt. Ich kannte so etwas nur von Jenny und den Mädels. Bei einem Mann hatte ich ein derartiges Outfit noch nie gesehen. An seinem Hals blinkte ein goldener Kreuzanhänger. „Wie heißt euer Freund?“, fragte er barsch. „Conny“, antwortete ich und versuchte selbstsicher rüberzukommen. „Was ist da los, Jacky?“ Zwei weitere junge Männer kamen nun auf uns zu. „Keine Panik“, erwiderte er. „Es sind Freunde von Conny. Weiß einer, wo der ist?“ Ein blonder Junge in enger schwarzer Lederjeans drehte sich zu uns um. „Conny ist seit einer halben Stunde mit jemandem weg. Das war der schwarze Mercedes. Ich glaub, der gehört einem seiner Stammfreier.“ „Kommt mit, ihr könnt da drüben auf der Bank warten. Hier verwirrt ihr die Kundschaft“, erklärte uns Jacky und zeigte mit der Hand auf die andere Straßenseite. Wir bedankten uns. Die Bank stand etwas abseits der Wendeschleife und Autos konnten dort nicht anhalten. Wir bekamen auf diese Weise einen guten Überblick über die Szenen, die sich vor unseren Augen abspielten. Autos kamen und fuhren langsam an den Jungen vorbei. Einige von ihnen stiegen ein, andere kamen zurück. Das war interessanter als jeder Krimi und jedes Internetspiel. Wir waren mitten drin im Getümmel. Ich frotzelte: „Du, das ist wie beim Fernsehen. Wir sitzen hier in der ersten Reihe!“
Nach einer Viertelstunde erschien ein schwarzer Mercedes mit Hamburger Kennzeichen. Er hielt gegenüber von uns an. Conny stieg aus und verabschiedete sich von dem Fahrer. Er ging zu Jacky und zu dem jungen Mann, der vorhin gefragt hatte, wer wir waren. Mit einer einladenden Geste winkte er uns heran. Wir ließen uns nicht zweimal bitten. War das aufregend! „Hallo, Conny, altes Haus!“ Ich fiel ihm um den Hals. Rene begrüßte unseren Freund ebenso herzlich. „Jacky habt ihr ja schon kennengelernt. Er ist hier so etwas wie die gute Seele und passt auf, dass alles seine Ordnung hat. Es kommen immer wieder Streetworker vorbei, die nach Kids Ausschau halten. Und natürlich die Bullerei. Die interessieren sich für die Dealer, die versuchen, ihren Stoff loszuwerden. Das sind meine Freunde, Jacky, von denen ich euch erzählt habe: Max und Rene. Max kommt aus Bayern. Bis die Tage, Jacky. Ich nehme die beiden mit. Vielen Dank, dass du auf sie aufgepasst hast.“ „Keine Ursache, tschüss ihr zwei!“ Wir winkten den Jungen zu. Conny legte die Arme um uns. „Ab in die Bierstube, Sina will mit euch turteln.“ Ich kam aus dem Schwärmen nicht heraus. „Mensch, Conny. Das war interessant. Ein Männerstrich mitten in Hamburg. Und wir mittendrin.“
Er lachte. „Na, ich glaube, da übertreibst du etwas. Aber, ja, ich hab über deinen Vorschlag mit den online Dates nachgedacht. Ich kann nicht bis in die Puppen Freier treffen. Die Frauen werden, wenn sie älter sind, weiter von Kerlen nachgefragt. Die haben in jedem Alter ihren Markt. Bei uns ist das anders. Da zählt nur das jugendliche Aussehen. Ein Kumpel von mir kennt sich mit Kameras aus. Vielleicht versuchen wir es mal online. Das kann ich gut in meiner Wohnung installieren. Dies hier draußen ist auch gefährlich, weil man nie weiß, zu wem man ins Auto steigt. Wir sind da. Setzt euch unter den Baum. Ich gebe die erste Runde aus.“ Es war ein toller Platz, zu dem uns unser Freund geführt hat. Wir konnten die komplette Sündenmeile überblicken. Conny kam nach wenigen Minuten mit Getränken zurück. Autolärm, Stimmengewirr drang an unsere Ohren, überall blinkte Neonreklame, Musikfetzen vermischten sich. So viele Menschen liefen herum, aber niemand stieß mit einem anderen zusammen. Es war Freitagabend. Arbeitnehmer genossen den Feierabend und tranken ihr Bier. Andere hatten frei und wollten sich in den vielen Läden amüsieren. Wir schauten dem Treiben vor uns fasziniert zu, waren mitten drin und doch weit genug weg.
Um kurz vor elf Uhr hörten wir eine vertraute Stimme. „Drei süße Jungs, und keiner gibt einen aus! Schämt euch.“ Ich sprang auf, drückte Sina und nahm die Bierflaschen in die Hand, die wir bisher geleert hatten. „Ich komme sofort, Sina, du bist unser größter Schatz.“ Sie roch herrlich nach Parfum, als ich sie küsste. Am Kiosk musste ich einen Moment warten. Ich spürte Erregung, als ich zurückkehrte und Sinas Erscheinung in mir aufsog. Sie war älter als sie aussah, dass wusste ich von Conny. Sie hatte ihm von seiner Mutter erzählt. Die beiden trafen sich vor vielen Jahren auf der Reeperbahn und da Conny achtzehn Jahre alt war, mussten die Frauen mindestens sechsunddreißig sein. Conny sagte, seine Mutter hätte ihn mit zwanzig Jahren zur Welt gebracht. Sina sah immer noch wie ein junges Mädchen aus. Ihre Bekanntschaft mit Connys Mutter würde später sehr wichtig für ihn werden, aber davon ahnten wir in diesem Moment noch nichts. Sinas zarte Hände strichen um meine Hüften und glitten langsam auf meine Pobacken. Sina wusste, wie eine Frau mit Männern umzugehen hatte. „Mach ich dich heiß, mein kleiner Liebling?“ Meine Augen konnten sich nicht mehr von ihrem stattlichen Dekolleté abwenden. Meine Wangen glühten. „Die Frage ist angesichts der gegebenen alters-und körperlichen Umstände gemein. Ich wollte, ich hätte die stoische Gelassenheit von Conny“, meinte ich zu ihr. Conny grinste. „Ja, es gibt Momente, da ist es nicht schlecht schwul zu sein. Hast du nicht gesagt, du bekommst heute Abend noch Besuch zu dir nach Hause?“, fragte er sie. Sina trank ihr Bier, nahm ihr Handy aus der Gürteltasche und gähnte. „Hm, da hat sich gestern noch ein Freier angemeldet. Ich muss wirklich langsam los.“ Conny sah uns an. „Ich würde gerne nach Hause gehen und mir etwas Frisches anziehen.“ Er berichtete unserer Freundin auch von dem Segeltörn letztes Mal und dessen unrühmliches Ende. Sina hielt sich prompt den Bauch vor Lachen. „Dann wurdest du ja endlich getauft und das auch noch mit bestem Hamburger Wasser!“ Conny zog die Mundwinkel kraus. „Ich bin getauft und konfirmiert, allerdings mit vierzehn alles auf einmal, weil meine Mutter meinte, ich solle mir sicher sein, mit dem, was ich will.“ Er klang etwas brummig.
„Kommt, lasst uns austrinken und dann bringen wir Sina nach Hause“, sagte er. Zehn Minuten später standen wir vor ihrer Tür. Ich spürte das Bier in meiner Blase und fragte, ob ich schnell zu ihr aufs Klo durfte. Natürlich, das war kein Problem. In der hinteren Hosentasche drückte mein Portemonnaie, so dass ich es herausnahm und auf ein kleines Schränkchen in der Toilette legte. Dass ich es dort vergaß, sollte ein Glücksfall für Sina werden. Den Abend verbrachten wir gutgelaunt bei Conny, wühlten uns durch seine Videothek, die keine Wünsche offenließ. Um halb zwei Uhr war Schluss, wir mussten den Nachtbus erreichten. Rene knuffte mich und alberte auf dem Weg zur Haltestelle herum. Ich wollte meine Fahrkarte aus dem Portemonnaie ziehen. Shit! Es war nicht mehr an seinem Platz. Deshalb fühlte ich mich auch so locker. Das enge Teil auf meinem Hintern fehlte! Aber es war wichtig, denn es enthielt neben Geld meine Fahrkarten, Schülerausweis und meine Alltagstestbescheinigung von Dr. Reimers. Ruhig bleiben und überlegen. Ich wusste schnell, wo es lag. Also Handy ‘raus, anrufen. Verflixt! Es klingelte und klingelte. Sina ging nicht ans Telefon. Conny benachrichtigen und von meinem Malheur erzählen, dachte ich. Gesagt getan. Er lachte. Rene und ich kamen derweil zu Sinas Haus, es brannte noch Licht in ihrer Wohnung. Warum ging sie nicht ans Telefon? War der Freier noch bei ihr? Es war eine komische Situation. Conny meinte, wir sollten nichts auf eigene Faust unternehmen, sondern auf ihn warten. Der Nachtbus wird ohne uns fahren, soviel stand bereits fest. Ein paar Minuten später gingen wir mit Conny über den Hinterhof und er klopfte an Sinas Fenster. Sie reagierte immer noch nicht. Unheimliche Geräusche kamen aus ihrer Wohnung. Rene und ich sahen einander ratlos an. Was war da los? Conny ahnte anscheinend etwas. Sein Finger legte sich über seinen Mund. Wir hatten verstanden. Conny kannte sich auf dem Kiez aus. Es war beruhigend, ihn dabei zu haben. Leise schob er die Haustür auf. Ein stockdunkler Flur lag vor uns. Wir horchten. Aus Sinas Wohnung kam ein leises Schluchzen und dann hörten wir etwas, das wie das Knallen einer Peitsche klang. Irgendetwas stimmte da nicht. Sina war weder Domina, noch hielt sie mit Freiern Fesselspiele ab. Plötzlich schrie jemand, es klang als ob die Person einen Knebel trug.
Conny zögerte nicht einen Moment, sondern riss die Tür zu Sinas Schlafzimmer auf. Ein grauenvolles trauriges Bild bot sich uns. Mir blieb der Atem weg und ich hatte das Gefühl, als ob mein Herz im nächsten Moment aufhören würde zu schlagen. Sina lag gefesselt und geknebelt hilflos und halbnackt auf ihrem Bett. Ein maskierter Mann in schwarzer Kleidung schlug mit der Peitsche auf ihren Körper ein, der schwere Wunden aufwies. Sina stöhnte und ich konnte panische Angst in ihren Augen lesen. Als der Kerl die erste Schrecksekunde überwunden hatte, wollte er weglaufen. Conny stellte sich ihm in den Weg. Der Mann zückte ein Messer. Ohne nachdenken zu müssen, stieß ich Conny beiseite und trat dem Kerl meinen Fuß in die Hüfte. Danach drehte mich einmal herum und schlug mit der Handkante das Messer weg. Mein Taekwondo Training machte sich in diesem schlimmen Augenblick bezahlt. Conny starrte mich erstaunt an. Blitzschnell drückte ich den Mann auf den Boden und kniete mich über ihn. Rene hatte unterdessen Sina geholfen und ihr die Handschellen gelöst. Ich nahm sie ihm freudig ab. Eine Verwendung gab es bereits. Der Fremde wehrte sich nicht mehr, als ich seine Hände damit auf dem Rücken zusammenschloss. Er lag kampfunfähig vor mir.
Vorsichtig befreite Rene Sina aus ihrer misslichen Lage und zog ihr das Klebeband vom Mund ab. Sie schlang den Arm um ihn, drückte ihn fest an sich und schluchzte herzzerreißend. Das war zu viel für die Arme gewesen. Der Angreifer wollte plötzlich aufstehen. Conny holte aus, um ihm die Faust ins Gesicht zu schlagen. Aber so weit kam es nicht. Sein Arm wurde von hinten sanft festgehalten. Ein älterer Mann war ins Zimmer getreten und hatte die Lage in Windeseile erfasst. „Ruhig, Conny. Ich weiß, was du fühlst und zur Zeit meines Vaters hätte der Typ jetzt ein paar gebrochene Knochen bekommen. Aber Selbstjustiz führt zu nichts. Wir reden gleich. Dein Freund“, er zeigte auf mich „hat genau richtig gehandelt und ihn schachmatt gesetzt. Nachtreten ist gegen das Gesetz.“ „Kurt, seit wann kümmerst du dich um das Gesetz?“, fragte Conny entgeistert. Sina hatte sich erholt. „Das wundert mich jetzt auch, aber es ist gut, dass ihr hier seid. Wer weiß, was der Typ sonst noch mit mir angestellt hätte. Er hat auch noch nicht bezahlt. Darf ich mal, Freundchen!“ Sina griff zielstrebig in seine Jackentasche und nahm das Portemonnaie in Augenschein. „Normaler Sex mit allem kostet bei mir Zweihundert. Was du gemacht hast, ging weit darüber hinaus und kostet extra. Sie zählte die Scheine und nahm sich insgesamt fünfhundert Euro raus.“ Kurt grinste. „So mein Junge, du hast die Lady bezahlt, das rechne ich dir an. Ich weiß, dass du dasselbe in der letzten Woche mit einem meiner Mädels abgezogen hast. Sie hatte weniger Glück als Sina. Die restlichen fünfhundert, die ich in deiner Börse gesehen habe, nehme ich mit und gebe sie Chantal, damit sie Schadensersatz bekommt. Du hast sie übel zugerichtet. Und jetzt löst dir der Junge die Fesseln und wir lassen dich ausnahmsweise laufen. Bullen brauchen wir hier nicht. Ich weiß, wer du bist und alle Bordellbesitzer, Kollegen und die Mädels werden benachrichtigt. Du hast ab sofort Kiezverbot. Sehe ich dich noch einmal wieder, überlege ich mir etwas Spezielles für dich. Und es werden nicht die Jungs von der Davidswache sein, die ich dir auf den Hals hetze. Gut, das soll genügen, lasst ihn laufen!“ Ich gehorchte und löste dem Fremden die Fesseln, der sich daraufhin in Windeseile aus dem Staub machte.
Sina wankte ins Bad und kam einen Moment später mit meinem Portemonnaie wieder. Ich nahm sie vorsichtig in die Arme. „Oh, Sina, ich hatte das liegen lassen und als Rene und ich zum Nachtbus sind, fiel es mir ein und ich rief dich an und du nahmst dein Handy nicht ab. Wir sahen Licht bei dir, ich rief Conny an. Den Rest …“ Ich kam nicht weiter, weil mir die Tränen übers Gesicht liefen. Ich schluchzte: „Es tut mir so leid. Solche Typen gehören totgeschlagen.“ Sina küsste mich und streichelte meinen Kopf. „Ist gut, Max. Du warst großartig. Was war das, Karate?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Taekwondo, ich habe den roten Gürtel und trainiere seit meinem achten Lebensjahr. Ich hätte nie geglaubt, dass dieser Sport mal wichtig für mich werden wird.“
„Mensch, Max. Das war allergrößte Spitze. So etwas können nicht einmal unsere Türsteher“, rief Conny voller Bewunderung aus. Ich wurde von dem vielen Lob ganz verlegen. Kurt nickte. „Passt mal auf. Sina macht sich ein wenig frisch und dann gehen wir ‘rüber in meinen Goldenen Anker. Ich spendiere eine Runde.“ Rene sah auf die Uhr und wehrte ab. „Wir müssen nach Hause. Unser Nachtbus ist gerade auf und davon.“ Es war ohnehin zu spät, wir würden nicht mehr pünktlich bei Renes Eltern sein. „Willst du deiner Mutter eine SMS schicken?“, fragte ich. Kurt schüttelte den Kopf. „Nein, wie alt seid ihr zwei?“ „Siebzehn“, antwortete Rene. „Dann machen wir das anders. „Sina, Conny bleibt bei dir und ich fahre die beiden jetzt nach Hause. Wir holen den Umtrunk morgen Abend nach. Ich lade euch zu sieben Uhr ein, meine Tabledance Bar öffnet erst um halb elf Uhr für Publikum.“ Conny atmete zufrieden aus. Man sah ihm die Aufregung an. „Super, danach treffen wir eure Mädels und machen den Dom unsicher.“ Das Wochenende war also gerettet. Der Goldene Anker lag nur wenige Meter von Sinas Wohnung entfernt. Kurt holte sein Auto aus der Tiefgarage. Uns blieb die Spucke weg. Rene nahm vorne im Porsche neben ihm Platz. Ich kletterte auf den Notsitz nach hinten. Auf diese Weise kamen wir sogar noch vor dem Nachtbus und der S-Bahn zu Hause an und beschlossen, sicherheitshalber Renes Eltern nichts von unserem Kiezabenteuer zu erzählen.
Für Kurt war die Nacht hingegen noch nicht zu ende. Sina und Conny erschienen in der Bar um auf den Schrecken zu trinken. In der Folge geschah etwas, das Kurts und auch Connys Leben vollkommen verändern sollte. Kurt hütete ein Geheimnis, das ihn mehr belastete, als er zugeben wollte. Sina wusste darüber Bescheid. Ihre große Stunde nahte. Und nachdem sie ihren nächtlichen Schrecken mit einigen Cocktails hinunter gespült hatte, schob sie Kurt resolut in dessen Büro. Dort wurde es zeitweilig laut. Nach einer halben Stunde kamen die beiden wieder heraus. Kurt zitterte leicht und seine Augen waren gerötet, so als hätte er geweint. Er zog Conny zu sich heran und die beiden verschwanden allein in Kurts Büro. Sina bestellte bei Babs, der Bardame, einen doppelten Cocktail auf Kurts Rechnung und meinte sichtlich erleichtert: „Den habe ich mir jetzt redlich verdient.“
Babs ahnte, um was es ging. Die Mädchen auf dem Kiez unterhielten sich über alles, was dort passierte. Die Gerüchteküche brodelte schon lang. „Dann ist es wahr, was die Spatzen von den Dächern pfeifen? Kurt und Claudia? Sie war nicht nur eines seiner Mädchen, sie war mehr?“ Sina nippte genüsslich an ihrem Getränk. Sie konnte eine Menge vertragen. Das brachte der Beruf mit sich. Aber heute spürte sie den Alkohol und beschloss, sich langsam auf den Heimweg zu machen. „Du sagst es, Babsi. Es war mehr als überfällig, dass mal jemand Kurt die Meinung sagt und das hab ich grad getan. Zu seinem Wohl und zu Connys. Conny ist ein prima Junge und er braucht einen Mann wie Kurt. Schwul sein ist nicht schlimm, aber das Anschaffen taugt nichts. Conny muss entweder wieder zur Schule gehen und einen ordentlichen Beruf lernen oder sich zumindest seine Brötchen mit anständiger Arbeit verdienen.“ Kurt und Conny waren inzwischen an die Bar gekommen. „Und das sagt ausgerechnet ein Mädchen wie du, Sina. Aber du hast Recht. Und wenn du willst, kannst du Babs hier an der Theke unterstützen und brauchst nicht mehr auf den Strich. Das ist das Mindeste, was ich dir schuldig bin. Ich werde Claudia anrufen und ihr sagen, dass ich durch dich endgültig Gewissheit hab. Aber ich ahnte es bereits und war nur zu feige“, erklärte Kurt und der kräftige sechzigjährige Bar-und Bordellbesitzer, den kaum etwas erschüttern konnte, trank sein Bier in einem Zug leer.
Er wandte sich Conny zu, sah ihn fast zärtlich an. „Ich bin ein Idiot gewesen. Aber, ein Kind, das bedeutet Verantwortung und deine Mutter wusste, dass ich für eine Familie nicht reif genug war. Sie liebte mich und ich Esel hab viel zu spät begriffen, was ich aufgab. Conny, ich will alles wieder gut machen. Was deine Mutter angeht, so muss sie wissen, mit wem sie zusammen leben will. Ich weiß nicht, ob es klappen wird und wir die vergangenen Jahre nachholen können. Das soll sie entscheiden. Frauen haben einen sechsten Sinn für Familie und so. Aber wir beide, wir gehören zusammen und ich will, dass du mit dem Strich aufhörst. Es ist gefährlicher für Männer als für Frauen, von Ausnahmen wie heute Abend mal abgesehen. Du kannst dir schnell eine Krankheit holen. Ich hab als Junge auch mit Männern geliebäugelt. Die Veranlagung hast du von mir. Aber ich bekam rechtzeitig die Kurve und das solltest du auch tun.“ Conny schluckte. Man sah dem hübschen blonden Jungen an, wie ihn die letzten Minuten bewegt hatten. Es war viel auf ihn eingeprasselt. Eine Vorahnung gab es schon lange. Doch nun war sie Gewissheit geworden. Kurt, der als einer der renommiertesten Kiezgrößen galt, war sein Vater. Er blickte in den Spiegel, der über der Bar hing und sah die jüngere Ausgabe von Kurt darin. Die Ähnlichkeit mit dem untersetzten grauhaarigen Mann neben sich war nicht zu übersehen. Sie besaßen dieselben ausdrucksvollen blau-grünen Augen. Das scharfkantige Kinn, die Wangenknochen und auch ihre schlanke Gestalt ließen keinen Zweifel an ihrem Verwandtschaftsgrad aufkommen. Kurt war für sein Alter erstaunlich fit und durchtrainiert. Nur sein kleiner Bauchansatz trennte seine Figur von der seines Sohnes. Er besaß eine Dauerkarte für das Fitnessstudio, lief im Winter in St. Moritz Ski. Die beiden saßen auf Barhockern an der Theke und begannen Zukunftspläne zu schmieden. Irgendwann drückten sie sich fest und Conny verließ den Goldenen Anker. Er verschlief den ganzen nächsten Tag.
Uns erging es ähnlich. Erst gegen Mittag wühlten wir uns aus den Kissen. Wir simsten Kerrin und Melanie, verabredeten uns gegen 21 Uhr auf dem Dom am Riesenrad. Den Tag verbrachten wir bei Renes Eltern. Es gab mittags reichlich Würstchen mit Kartoffelsalat. Um drei Uhr am Nachmittag fuhren wir mit Rolf und seiner Frau nach Kaltenkirchen in die Therme. Gerade rechtzeitig trafen wir um 19 Uhr bei Conny ein. Dass wir Sina abholten, war Ehrensache. Eine Tabledancebar hatten Rene und ich noch nie besucht. Ich hatte mir im Internet einiges angesehen. Als ich in den großen Raum trat und das Podium mit der Tanzstange sah, spielte mir meine Phantasie sofort die Atmosphäre in den Kopf, die hier am späten Abend herrschen wird. Babs erwartete uns. Sie stellte jedem einen riesigen Coctail vor die Nase. Was da wohl alles drin war, fragte ich mich? Kurt erschien. „Prost, die Herren und Damen, lasst es euch schmecken. Das ist ein Autofahrerdrink, ganz ohne Alkohol. Die Kunden sind ganz verrückt danach.“ Ich nahm den bunten Strohhalm in den Mund. Hm, Ananas. Einige Bananenstücke fischte ich mit einem langen Löffel aus dem Glas. Erdbeeren und Kirschen folgten. Wir tranken den gesündesten Obst-Cocktail, den ich je zu mir genommen hatte. Babs erzählte, dass sie das Getränk mit alkoholfreiem Sekt aufgießt. Deshalb prickelte es im Hals. Conny und Kurt gingen auffallend vertraut miteinander um. Ich sah meinen Freund überrascht an. Was folgte schlug ein wie eine Bombe. Conny und Sina erzählten abwechselnd von ihrem Gespräch gestern Abend. Kurt war Connys Vater. Geahnt hatte Conny schon länger etwas, aber sowohl er als auch Kurt sprachen nie darüber. Sina fühlte sich allem Anschein nach sehr wohl, weil sie es gewesen war, die den Stein endlich ins Rollen brachte. Claudia, Connys Mutter, war eine langjährige Freundin von ihr und Sina fand es nicht gut, dass Conny ohne Vater aufwachsen musste. Aber sie respektierte den Wunsch ihrer Weggefährtin und bewahrte Stillschweigen. Umso mehr freute es sie nun für die beiden. Kurt wollte, dass Conny sein bisheriges Leben aufgab und meinte, dass er ihn auch finanziell unterstützen wird. Connys Zukunft wurde unser intensives Gesprächsthema. Um kurz nach 20 Uhr war es Conny zu viel geworden. Er hielt abrupt inne. „So, Leute. Jetzt ist Wochenende und Schluss mit Lustig. Wir wollen uns amüsieren und eure Mädels warten am Riesenrad. Lasst uns den Dom genießen. Die Schule läuft mir nicht weg.“ Kurt nahm seinen Sohn liebevoll in die Arme. „Das ist okay, Junior. Du bist mir so ähnlich. Mir kommen schon wieder die Tränen. Sina, danke, dass du mir die Augen geöffnet hast. Ich habe nun einen würdigen Nachfolger und Erben für meine Geschäfte. Freut euch jetzt eures Lebens und habt Spaß.“ Er nahm einige hundert Euro aus dem Portemonnaie und reichte sie Conny, der sich herzlich bedankte. Am Riesenrad warteten Kerrin und Melanie schon sehnsüchtig auf uns. Es wurde eine tolle Nacht. Was für ein Kontrastprogramm:
Am nächsten Abend saß ich wieder auf Schloss Wildenstein und besah mir mit einem Anflug von Verzweiflung mein Mathebuch. Wir schrieben fast täglich irgendetwas und das ging bis zum Sommer so weiter. Über Weihnachten kam die ganze Familie zusammen. Hubertus und ich bauten uns wie üblich das Zweimannzelt auf und ernteten von meinem Vater dafür Applaus. Hubi stand kurz vor dem ersten juristischen Staatsexamen. Danach wollte er einige Jahre in Philadelphia weiter studieren. Beatrix war zu einem ungewöhnlich hübschen Mädchen herangewachsen. Sie erhielt weiter professionellen Gesangsunterricht. Ihre Stimme konnte sich hören lassen. Wir lobten sie dafür, mit dem Ergebnis, dass sie ihre kleine Nase etwas höher trug und mir einige Obszönitäten ins Ohr flüsterte.
An Heiligabend erhielt ich ein Buch von ihr: „Was man alles über Sex wissen muss.“ Vater und Onkel Ludwig fanden das Geschenk super. Die Damen weniger. Oma meinte, das schickte sich nicht für eine junge Lady.
Tante Alexa war mit einem französischen Adligen verheiratet. Beatrix‘ Papa hieß Maurice, stammte aus der Camargue. Seine Familie besaß dort ein Gut und eine Pferdezucht. Ich durfte seine Eltern ein paarmal besuchen und lernte inzwischen Französisch in einer der vielen Arbeitsgemeinschaften an unserer Schule. Wir sprachen deshalb seit zwei Jahren nur noch Französisch miteinander, wenn wir uns sahen. Beatrix sollte im nächsten Sommer nach Frankreich auf ein Mädcheninternat. Hubertus und ich neckten sie. Dort unterrichteten nämlich Nonnen.
„Ihr zwei seid fies“, meinte sie, als wir nach der Bescherung einen Moment in den Schlosshof gingen. Es schneite und wir warfen uns Schneebälle zu.
„Bei den Nonnen im Kloster, da ist es schön! Da sieht man die Nonnen breitbeinig gehen. Sie tragen Keuschheitsgürtel um die Hüften, und können sich selbst nicht mal richtig lüften. Der kleinen Beatrix, dem süßen Fratz, wird auch bald so ein Ding verpasst.“ Wir drei waren alleine unten. Hubertus hielt sich den Bauch vor Lachen und ich wurde derb von hinten in den Schnee gestoßen. Meine Cousine stürzte sich wie eine Furie auf mich. „Das sag ich alles deinem Deutschlehrer, das reimt sich nicht einmal und die Versmaße sind alle falsch. Du kommst nie durchs Deutsch-Abi!“, rief sie erbost und klatschte mir Schneebälle in den Nacken.
Iihh, das lief eisig kalt langsam unter dem Hemd runter. „Frieden“, schnaufte ich. „Das Internat wird sehr fein und Mademoiselle eine Grande Dame sein.“
Sie ließ von mir ab. „Hört sich schon besser an. Ich hätte nämlich sonst Hubertus von deinen Eskapaden erzählt. Weißt du, Hubi, du solltest nachher im Zelt aufpassen, dass sich dein Vetter nicht an deinem guten Stück vergreift“, sagte sie, und warf mir einen wissenden Blick zu.
Ich erstarrte. „Was willst du damit sagen, kleine Diva? Oder muss ich dich jetzt mit Hexe anreden?“, fragte ich.
„Ich habe eine Freundin, sie heißt Jenny und ich weiß beim besten Willen nicht, was sie an dir findet. Sie hat mir einiges erzählt. Ich bin über alles im Bilde, was Andreas und Rene angeht. Also, lieber Vetter, sei recht nett zu mir, damit ich nicht aus Versehen mal in Tante Adelheids Gegenwart etwas zu viel erzähle.“
Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da lag sie schon in Hubertus‘ Armen.
„Hör zu, kleine Maus, wir haben einen Ehrenkodex, der bedeutet, dass wir uns niemals gegenseitig in die Pfanne hauen. Wenn du also meine Lieblingscousine bleiben willst, plauderst du nie mehr etwas über deine Geheimnisse mit Jenny aus. N’est-ce pas?“ Er hielt sie ziemlich fest und ich sah an seinen Augen, dass er sehr ungehalten wurde.
Hubertus war der Älteste von uns. Wir gehörten zur nächsten Generation der Grafen von Wildenstein und Zusammenhalt wurde bei uns großgeschrieben. Familiengeheimnisse erzählte man keinem. Nicht einmal Familienmitgliedern, wenn es nicht unbedingt nötig war.
Ich schmunzelte. „Danke, Hubi. Ich glaube, Beatrix weiß Bescheid. Sie ist die Nichte der Gräfin Wildenstein und ihre Mutter ist eine Baronesse. Trixi kennt unsere Regeln und wollte uns nur zeigen, dass sie langsam erwachsen wird und wir sie nicht mehr wie ein Kind behandeln dürfen. Komm zu mir, Kleines. Ja, du hast Recht. Ich bin bisexuell. Aber wir brauchen das nicht öffentlich zu erzählen. Jeder hat seine Leiche im Keller und auch du wirst irgendwann eine haben. Nobody is perfect. Ich hab dich lieb, Mäuselchen. Verdreh nur weiter den Männern die Köpfe.“ Ich küsste sie zärtlich auf die Wange.
Sie schwieg betroffen, schlug die Augen nieder.
„Sorry, Max. Wir sollten tatsächlich anfangen, uns über vernünftige Sachen zu unterhalten. Wie funktioniert das mit den Gummis?“ Einen Moment später balgten wir uns alle drei im Schnee.
Abends im Zelt erzählte ich Hubertus von Rene und Andy und meinen Erfahrungen. Er hatte auch seine schwulen Seiten ausgelebt. Das war vollkommen normal, meinte er und betonte, dass er sich für mich wegen meiner Beziehung zu Jenny sehr freute. „Jenny ist eine Bereicherung für die Familie, Max. Ihr passt gut zueinander. Mach dir keine Sorgen um deine Ausflüge ins Homoleben. Unsere Väter waren auch keine Kinder von Traurigkeit und sind inzwischen treusorgende Familienväter.“ Ich lachte und erzählte ihm, was ich über meinen Vater und seinen Freund Hartmut, unseren Förster, wusste. Hubertus kicherte. Er verfügte über eine ebenso große Phantasie wie ich.
Wir feierten Sylvester zusammen und am 2. Januar hieß es Abschied nehmen. Um Oma machte ich mir Sorgen. Sie war klapperig geworden und vergaß nun schon mal das eine oder andere. Ich lief oft, um ihre Brille zu holen oder ihre Tabletten zu suchen. Ständig hatte sie irgendetwas verlegt. Mutter und Tante Alexa kümmerten sich rührend um sie. Tante Friederike ging mit ihr spazieren und wollte sie im Sommer ein paar Wochen nehmen. Oma erzählte von Ostpreußen. Man hatte den Eindruck, sie war gerade von dort gekommen, so zeitnah und authentisch hörte sie sich an. Mutter meinte, sie sollte erst einmal bei uns bleiben.
So saß ich die kommenden Wochen bei Oma und trug ihr meine Referate vor. Sie verstand zwar so gut wie nichts von dem, was ich erzählte, aber ich merkte, dass es ihr Spaß machte. Zu Vaters Geburtstag gab es wieder ein kleines Fest, allerdings nur im engsten Familienkreis. Oma fuhr danach mit Tante Alexa nach Hause.
Es wurde ruhig auf dem Schloss. Ich saß viele Stunden allein oder mit Andy vor dem PC oder an meinen Büchern. Jenny rief fast täglich an und erzählte mir den neuesten Klatsch aus ihrer Schule.
Die Wochen vergingen. Mein achtzehnter Geburtstag nahte. Ich hatte mit meinen Eltern, Hubertus und Beatrix eine riesige Geburtstagsparty geplant. Die Remise musste dazu ausgeräumt und saubergemacht werden, alle Pferdehänger und die Autos wurden rausgefahren. Partytische und Bänke für gut hundertfünfzig Jugendliche und Erwachsene standen stattdessen irgendwann drinnen und wurden hübsch gedeckt. Mia und Lisa ließen mich plötzlich nicht mehr in die Küche.
„Damit du nicht wieder zu viel vom Pudding naschst und dich schmutzig machst“, meinte Mia grinsend. Sie wollte mich sogar zur Feier des Tages siezen und mit Herr Graf ansprechen, aber das erlaubte ich ihr nicht. Mia war immer mein guter Geist gewesen und sie hatte mir mehr als einmal als Kind aus der Patsche geholfen. Sie war wie eine echte Freundin für mich und das würde sie auf ewig bleiben. Ihre Augen schimmerten etwas feucht, als ich es ihr sagte. Verlegen drehte sie sich um und eilte an ihre Arbeit.
Meine Mutter lächelte. Sie stand in der Tür und hatte alles mitbekommen. Die beiden lagen sich kurz in den Armen. Meine Mutter erklärte Mia und der alten Lisa, dass sie beide für uns inzwischen als Familienmitglieder zählten, ohne die hier im Schloss ein geregeltes Leben nicht möglich war.
Aufgeregt und glücklich fuhr ich am Nachmittag zusammen mit Andy zum Bahnhof. Jenny hatte darauf bestanden, mit der Pferdekutsche vom Bahnhof abgeholt zu werden. Sie nahm dasselbe Flugzeug nach München, wie Rene, Conny, Melanie und Kerrin. Mit dem Regionalzug ging es für die ganze Bande nach Wildenstein weiter. Sie fiel mir um den Hals, als sie sah, dass ich mit unseren zwei Brauereipferden und dem Brauereikutschwagen direkt vor dem Bahnhof stand.
Was für ein Trubel, was für eine Begeisterung! Alle Besucher und Fremde wollten erst mal die beiden dicken Kaltblutpferde streicheln. Es dauerte etwas, bis wir das Gepäck auf dem Wagen hatten. Melanie tanzte aufgedreht um uns herum. Sie schob Jenny zur Seite, um mich abknutschen zu können. Unterlegen musste sie sich dennoch der zukünftigen Gräfin Wildenstein geschlagen geben. Conny konnte den Mund nicht zu bekommen. Rene erzählte, wie sie den armen Kerl aufgezogen und geängstigt hatten. Mit seinen Kiezmanieren durfte er sicherlich nicht im Schloss übernachten. Gewöhnliche Leute hätten dort keinen Zutritt. Ich schmunzelte.
Wir werden viel Zeit haben, uns einander auf die Schippe zu nehmen. Ich hatte allen ein großartiges Erlebnis beschert, wobei es für Andy und für Jenny nichts Neues war in einer Kutsche zu fahren. Bewusst lenkte ich die Pferde durch enge Gassen. Sie kannten ihre Aufgaben und liefen willig voran.
„Alle zufrieden? Conny, du sagst gar nichts. Gibt es in Hamburg keine Brauereipferde?“, fragte Andy.
„Alles durchatmen, frische Landluft“, rief Rene aus. Wir verließen das Dorf und nahmen den Umweg durch den Wald. Die Pferde brauchten Bewegung. Sie trabten von selbst munter vorwärts. Der nicht asphaltierte Waldweg durch unseren Forst war eine Wohltat für ihre Hufe. Zufriedenes Schnauben zeigte mir an, dass es ihnen gut ging.
„Wirklich zwei schöne Tiere“, meinte Jenny anerkennend. „Man sieht so etwas heute nur noch selten. Selbst die großen Brauereien halten sich keine Pferde mehr, weil sie zu teuer sind und nur noch für Umzüge gebraucht werden. Wollen wir nachher Kaltblutnachwuchs züchten? Die Fohlen sind richtig knuffig“, fragte sie mich.
Ja, daran hatte ich schon gedacht. Mit Jenny bekam ich eine Pferdefachfrau an meine Seite. Vaters Zucht und unsere eigenen Vorstellungen ließen sich gut miteinander kombinieren.
„Aber nur, wenn ich das erste dicke kleine Stutfohlen Jenny taufen darf“, neckte ich sie.
„Wer ist hier dick? Na warte. Ich werde dir heute Abend zeigen, wer in unserer Ehe das Sagen hat.“
Conny hatte aufmerksam die Ohren gespitzt. „Max, guter Freund, nach dem, was ich nun gehört habe, tust du mir leid. Du bist wirklich gestraft. Wann wirst du deine Herrin ehelichen?“
Ich schüttelte den Kopf. An Entkommen war nicht mehr zu denken.
„Erst kommt das Abi, dann die OP und danach das Studium. Vielleicht gehe ich noch für ein Jahr in die Staaten oder nach England, wie Hubertus. Wir haben viele britische Geschäftspartner. Mein Vater hat Kontakte zu englischen Bierbrauern und meinte, es könnte nicht schaden, wenn ich den Beruf zusätzlich lerne und mich im Geschäft umschaue. Also, Süße, vor Mitte zwanzig brauchst du dir kein weißes Kleid zu kaufen. Ich muss mir als Mann erst in der Fremde die Hörner abstoßen, wie mein alter Herr zu sagen pflegt.“
Ich beugte mich zu Jenny und gab ihr einen Kuss. Sie kannte meine Pläne. Ihre eigenen Berufswünsche lagen im Bereich Pferdewirtschaftsmeisterin und wenn es ihr Abiturzeugnis erlaubte, wollte sie noch zusätzlich Tiermedizin in Hannover studieren.
„Du weißt doch, wie ich darüber denke. Es ist alles besprochen. Ich will ebenfalls meine berufliche Karriere vorbereiten. Als Tierärztin kann ich unsere Pferde selbst behandeln. Du wirst mit mir eine Menge Geld sparen. Ich bin eine gute Partie für dich“, meinte sie und erwiderte meinen Kuss.
Melanie seufzte hinten im Wagen laut auf. „Und was soll ich jetzt machen? Kerrin ist mit Rene zusammen, Andy ist schwul und Conny nimmt keine Notiz von mir. Ich werde den Rest meines jungen Lebens eine alte Jungfer bleiben müssen. Wer bedauert mich nun?“ Sie tat, als schluchzte sie.
Conny legte ganz vorsichtig den Arm um sie. „Vielleicht bin ich ja bi. Wir können es mal versuchen.“
„Herzlichen Glückwunsch, Melli. Ich glaub, deine Wahl war nicht schlecht. Aus Conny könnte etwas werden. Er muss nur in die richtigen Hände.“ Jenny hatte wie immer das letzte Wort.
Die Pferde fielen in gemächlichen Schritt zurück. Ich lenkte sie zu einer Abkürzung und ließ sie die kleine Steigung in ihrem eigenen Tempo hochlaufen. Die Fahrt entspannte unsere beiden Kaltblüter sichtlich. Wir brauchten die Kutsche viel zu wenig. Jenny hatte Recht. Vielleicht würde ich sie nach der OP mehr nutzen und im Sommer regelmäßige Waldfahrten unternehmen.
Zwischen den Tannen tauchte plötzlich in der Ferne unser Schloss auf. Kerrin bemerkte es als erste und stieß einen Schrei aus.
„Nein, das ist ja Wahnsinn. Max, das gehört alles dir?“
Ich lachte. „Nein, meinen Eltern. Mein Vater gehört dem Grafengeschlecht der Wildensteins an. Unser Dorf ist nach uns benannt. Meine Ahnen waren Raubritter. Einer wurde sogar auf dem Schloss ermordet. Man warf ihn ohne Essen und Trinken in den Burgturm und ließ ihn dort verhungern. Sein Skelett liegt noch heute da. Er hatte seinem Bruder, dem Schlossherrn, die Frau geklaut. Sie wurde dafür lebendig im Keller eingemauert. Beide erscheinen jedes Jahr am Tag des Urteilsspruchs, dem 05. August, pünktlich um Mitternacht, um durch lautes Seufzen und Weinen auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Manchmal melden sie sich auch zwischendurch. Oft, wenn wir Feste feiern. Am Geburtstag meines Vaters sind sie schon ein paarmal aufgetaucht und haben die Gäste, die über Nacht bei uns blieben, zu Tode erschreckt. Und das seit 1677. Meistens lachen alle, wenn sie von unseren Schlossgespenstern hören. Aber wenn die sich wirklich im Turmfenster zeigen und laut klagen, zittern alle vor Angst. Vielleicht sind sie heute Nacht wieder da. Sie wissen, dass einer ihrer Nachfahren volljährig wird.“
Conny grinste. Andy auch. Allerdings aus unterschiedlichen Gründen.
„Das ist kein Scheiß. Das stimmt wirklich. Das Skelett von Ritter Siegbert besuche ich regelmäßig und werfe ihm Naschis runter. Er mag am liebsten Gummibärchen. Gräfin Barbara schmachtet im Keller. Die Mauer, hinter der sie liegt, haben Max und ich inzwischen gefunden. Wir mussten alle alten Baupläne studieren und wühlten uns durch uralte Chroniken. Wie alt waren wir damals eigentlich, Max? So um die elf oder zwölf Jahre?“, erzählte Andy.
Ich überlegte kurz. „Ja, stimmt. Da haben wir angefangen, nach ihr zu suchen. Gefunden haben wir die Unglückliche erst zwei Jahre später. Wir hatten systematisch alle Kellergänge durchkämmt. Mann, war das unheimlich da unten und kalt. Ich hatte immer Angst, gleich würde sich die Wand auftun und Barbara ihre Ketten um meinen Hals legen, um sich an mir zu rächen. Uns fiel auf, dass eine Wand anders aussah als die anderen und da haben wir dran geklopft. Es war tatsächlich ein Hohlraum dahinter. Und mit einem Gerät, das durch Mauern sehen kann, haben wir sie geröntgt. Das Skelett zeichnet sich deutlich ab. Ich hab ein Foto davon in meinem Zimmer. Das Gerät gehörte dem Bauamt und mein Vater hat es zurück bringen müssen. Unser Schloss steht seit dem unter Denkmalschutz.“
Andy nickte. „Ja, genauso war es. Max durfte nicht mehr ins Gewölbe unter dem Schloss steigen. Das hatte ihm seine Mutter verboten. Es wäre zu gefährlich, meinte sie. Ich denke, dass die beiden Liebenden heute Nacht erscheinen. Allein schon deshalb, weil hier so viele Paare zu Gast sind. Die zwei wollen sich nicht mehr verstecken. Jetzt sind sie ja tot und können nur noch als Geister auftreten.“
Andys ernste Erläuterungen schienen noch nicht ganz zu unseren Gästen durchgedrungen zu sein. Nun sie würden um Mitternacht selbst erfahren, ob es Gespenster gab. Da war ich mir sehr sicher. Als wir auf den Schlosshof rollten, hielt ich meinen üblichen Vortrag über Gebäude, Geschichte, Bewohner und Hintergründe.
Meine Eltern, Hubertus und Beatrix waren zu uns hinunter gekommen und hörten wie meine Besucher aufmerksam zu. Mein Vater warf hin und wieder einige Bemerkungen ein. Am Schluss meldete sich Beatrix mit dem wohl wichtigsten Thema.
„Hat euch mein vergesslicher Vetter denn schon das bedeutsamste Ereignis des Wildensteiner Schlosses erzählt?“ Alle schauten sie an.
„Hier hat sich 1677 ein fürchterliches Drama zugetragen. Ritter Siegbert ging mit der Gattin seines Bruders Max Ferdinand, der schönen und anmutigen Gräfin Barbara, fremd. Zur Strafe wurde er in den Turm geworfen und musste verhungern. Die Gräfin starb im Keller, bei lebendigen Leib eingemauert. Sie spuken seitdem und erscheinen immer wieder an ihrem Todestag, manchmal auch an Geburtstagen ihrer Nachfahren. Mein Onkel musste sehr oft Gäste beruhigen, die zu seinem Geburtstag angereist waren und hier im Schloss übernachteten. Ich weiß noch, wie ich jedes Mal von dem Gekreische der Frauen wach wurde. Und Max ist der Erbe des Hauses und wird heute um Mitternacht achtzehn Jahre alt. Das ist natürlich für die zwei unglücklich Liebenden die beste Gelegenheit, sich in den Mittelpunkt zu stellen.“
Conny grinste wieder. „Ich bin in Hamburg schon mit ganz anderen Sachen fertig geworden, die sollen nur kommen.“
Mutter lachte und bat uns herein. Sie hatte den Kaffeetisch decken lassen. Meine Freunde kamen im Inneren des Schlosses aus dem Staunen nicht mehr heraus. Andy und Rene erzählten von ihren Erlebnissen bei mir und Jennys Vorträge konnten sich hören lassen, während Kuchen und Tee herumgereicht wurde.
„Wahr ist, dass sich heute sehr wenige Leute über ein derartiges Erbe noch freuen können. Die Unterhaltung des Gebäudes kostet Unsummen. Wenn wir nicht die Brauerei und die Schnapsbrennerei hätten, wäre das hier nicht zu stemmen. Allein mit Holzwirtschaft und ein paar Wildköstlichkeiten im Verkauf kann man dies Anwesen nicht erhalten. Ich bin froh, dass Max ins Geschäft einsteigen will und werde alles tun, um ihm eines Tages eine intakte Firma übergeben zu können“, erklärte mein Vater und stieß auf rege Zustimmung.
Die meisten ahnten, dass es Schlösser mit Prinzen und Prinzessinnen nur im Märchen gab und die Realität heute anders aussah.
Nach dem Kaffee brachte Beatrix die Mädchen auf ihre Zimmer. Natürlich thematisierte der kleine Frechdachs wieder unsere Gespenstergeschichte. Melanie und Kerrin lächelten erst und ließen sich ihre Ängste nicht anmerken. Aber sie gingen nicht so leicht damit um, wie Conny.
Ich hatte zusammen mit Hubertus in meinem Zimmer ein zweites Zelt aufgebaut und beide so ineinander gestellt, dass eine große Schlaffläche zur Verfügung stand und wir zu fünft hineinpassten. Hubertus wollte auf jeden Fall noch eine Weile bei uns bleiben, wenn wir am frühen Morgen zu Bett gingen. Er konnte sonst im Gästezimmer nebenan schlafen.
Aufgekratzt schlug der männliche Anhang nach dem Kaffee und der ersten Schloss- und Schlafplatzbesichtigung unter den schmunzelnden Blicken meines Vaters den Weg zum Bootshaus ein. Ich hatte Conny bereits das Wichtigste darüber erzählt. Hubertus nahm sofort unser Hausbier aus seinem Rucksack heraus und reichte die Flaschen herum. Gemütlich saßen alle vereint in der Runde. Es war wie immer, wenn wir hier zusammen kamen. Sanft schlugen die Wellen an den überdachten Bootssteg und bewegten Vaters Jolle und das Ruderboot, mit dem wir immer zum Angeln auf den See fuhren. Das plätschernde Wasser hörte sich in meinen Ohren wie Musik an. Manchmal klatschte ein Fisch beim Luftschnappen auf den See. Vögel zwitscherten, Schwalben hatten ihre Nester unter das Dach gebaut und flogen emsig über unsere Köpfe hinweg. Was für ein schönes Gefühl, jetzt nach sechs Jahren im Kreise aller neuen Hamburger Freunde dieses Paradies erleben zu dürfen, dachte ich bei mir. Die Erinnerung an das erste Mal, damals, als ich endlich ein Junge sein durfte, übermannte mich so heftig, dass sich eine kleine rührige Träne im Auge löste.
„Entschuldigung, aber ich bin so überwältigt und freu mich wahnsinnig, dass ihr nun alle bei mir seid. Ich denke an damals, Hubi. Andy erinnert sich bestimmt. Hubertus, Martin und Carsten tischten uns Märchen über ihre Erfahrungen mit Frauen auf. Wir Kleinen zitterten geradezu vor Ehrfurcht. Aber ich glaube, das meiste war wohl etwas übertrieben, oder Hubi? Sei ehrlich.“
Er nickte. „Also, ein bisschen dick aufgetragen hatten wir schon. Aber die kleinen Burschen wollten ja immer mehr wissen und glaubten uns fast alles.“
„Nun, wenn wir das nächste Mal Schniedel messen machen, könnt ihr zwei endlich mithalten“, sagte Andy zu Rene. Und zog das alte Lineal hervor, welches einen Ehrenplatz hatte und in einer besonderen Spalte im Boden steckte.
Er zeigte an die gegenüberhängende Holztafel. Wir hatten seit damals alle unsere Namen und Längen eingeritzt. Keiner, der nicht wusste, um was es sich bei der Aufstellung handelte, käme auf die richtige Lösung. Mein und Renes Name standen noch abseits. Wir durften uns erst nach der OP verewigen. Conny las sich die Ergebnisse durch. Selbstbewusst wollte er seine Hose öffnen.
„Halt, Stopp, Kollege. Hierher, zu uns kommen. Wir lesen stets alle gemeinsam ab. Schummeleien gibt es bei uns nicht“, befahl Andy und erhielt ausnahmsweise von mir Rückendeckung. Nein, es musste alles seine Ordnung haben.
„Richtig, die Messung geschieht nur unter strengster notarieller Aufsicht“, erklärte ich.
Conny gehorchte lässig. Er wurde allerdings nur zweiter in der ewigen Bestenliste. So sehr er sich auch um jeden Millimeter mehr abmühte, Martin hatte und behielt den Längsten. Wir prosteten Conny zu.
Interessiert hatte der sich Vaters alter Jolle zugewandt und fragte, ob sie seetüchtig wäre.
Andy nickte. „Natürlich, auch das Ruderboot ist startklar. Wir fahren oft damit zum Angeln auf den See. Wollen wir noch etwas aufs Wasser?“ Hubertus stand auf und öffnete die Takelagekammer. Wir nahmen unser Segel und alles, was sonst noch für die Jolle benötigt wurde, heraus. Andy und Rene machten das Ruderboot startklar. Conny durfte als erster einsteigen und setzte sich wie ein Prinz ans Ende. Rene stieß schnell ab, als Andy saß und die Ruder in die Hand nahm. Hubi und ich mussten uns beeilen. Bei einer Jolle dauerte es etwas länger, bis man damit in See stechen konnte.
Elegant glitten wir über die glitzernde Fläche, wendeten ein paar Mal und genossen den leichten Wind, der uns mühelos übers Wasser fliegen ließ. Hubertus und ich waren geübte Segler. Am frühen Abend lagen beide Boote wieder vertäut im Bootshaus.
„Leute, es ist gleich sieben Uhr. Wir sollten nach Hause und Rudelduschen. Das Haus wird heute Abend voll werden. Meine Abiklasse kommt vollständig, teilweise mit Frauen, Kampfsportgruppe, Fußballelf mit Trainer und die meisten Lehrer inklusive Direx sind eingeladen. Meine Oma fährt im Rollstuhl und hat einen Ehrenplatz neben mir. Die alte Dame ist hochbetagt, lässt sich aber nichts anmerken. Das wird die geilste Party, die Wildenstein je gesehen hat. Der Reitverein wird ebenfalls da sein. Die haben sogar eine Überraschung für mich. Ich denke, die Kleinen führen etwas mit ihren Ponys auf.“
Wir liefen um die Wette und kamen verschwitzt und schnaufend auf dem Schlosshof an. Robert winkte uns zu.
Familie und zwei Gespenster
„Max, es wird Zeit. Macht euch fertig. Die ersten Gäste sind schon im Anmarsch“, rief er.
Ich hob meinen Arm, um ihm zu zeigen, dass ich verstanden hatte. Alles paletti, wir wussten Bescheid. Die Duschen im Schloss wurden rasch aufgeteilt. Gottseidank gab es auf meinem Flur drei Stück davon. Die Erfrischung tat gut. Ich zog mich um und war vor den anderen bereits fertig. Auf dem Weg in die Remise riskierte ich einen Blick in die Küche. Lisa werkelte konzentriert in ihrem Refugium und scheuchte mich fort, wie damals, als ich noch ein kleines Kind war. Ich sah aus dem Augenwinkel eine überdimensionale mehrstöckige Geburtstagstorte auf dem Tisch stehen. Stand da etwa eine Miniaturfigur von Chester auf der Spitze? Fast schämte ich mich für meine Neugierde.
Den Abend verbrachte ich damit meine Gäste zu begrüßen, Geschenke entgegenzunehmen und allen einen guten Appetit und eine schöne Party zu wünschen. Wie erwartet wurde es um neun Uhr wild auf dem Schlosshof. Unsere Ponygruppe galoppierte in die Reitbahn und zeigte eine Springquadrille vom Feinsten. Die Kinder waren alle als Ritter und Ritterfräulein gekleidet. Zwei ältere Ritter führten ein Lanzenturnier vor. Mein Vater und Robert sowie alle anderen Pferdebegeisterten applaudierten besonders. Um halb zehn Uhr eröffneten Andy und Carsten die Disco. Jenny wartete schon auf mich. Unser Ehrentanz konnte nicht herrlicher sein und Jenny raunte mir zu, dass wir zu unserer Hochzeit aber einen Wiener Walzer aufs Parkett legen müssten. Ich drückte sie fest an mich, schob sie zur Diskothek und ließ den Schneewalzer spielen. Hundertfünfzig Gäste klatschten begeistert im Rhythmus mit. Am Schluss forderte ich meine Eltern und alle Anwesenden auf, ebenfalls die Tanzfläche unsicher zu machen.
Kurz vor elf Uhr bat der Direktor ums Wort.
„Liebe Anwesende, lieber Maximilian. Ich erinnere mich noch gut an deinen ersten Tag als Sextaner bei uns. Ja, liebe Eltern und ältere Gäste, da sind nun mal eben acht Jahre vergangen und unsere Kleinen sind groß geworden. Das allein wäre nicht so schlimm, wenn wir dabei nicht auch älter würden. Jetzt sitzt hier eine komplette Abiturklasse vor uns. In zwei Monaten werde ich euch hoffentlich alle ins Leben entlassen können. Dann sieze ich euch. Dass Max als künftiger Erbe unseres geschätzten Grafengeschlechts nun seinen achtzehnten Geburtstag heute feiern kann und damit nahezu sämtliche Dörfer zusammengetrommelt wurden, ist ein glücklicher Umstand, der nicht allen Gemeinden zuteilwird. Somit sind wir nämlich noch einmal hier heute vereint. In zwei Monaten wird sich unsere Jugend in die vier Himmelsrichtungen zerstreuen. Ich erhebe jetzt das Glas auf unser Geburtstagskind, Graf Maximilian von Wildenstein und danke Ihnen, lieber Max Senior, dass Sie mit ihrer ganzen Kraft diese traditionsreiche Trutzburg bewahren, die unser Land über vier Jahrhunderte geprägt und beschützt hat. Jeder von uns kennt natürlich die traurige Geschichte von Siegbert und Barbara, die ihre Liebe mit dem Leben bezahlen mussten. Wünschen wir den beiden ihren ewigen Frieden und du, Max Junior, sollst hochleben. Prost. Ach so, ein Geschenk hab ich hier auch in Form eines Buches. Das Hauptgeschenk, das Abizeugnis mit Durchschnitt von 1,0 kann ich dir leider erst nach den Prüfungen geben. Ich hoffe, du hast dafür Verständnis und hilfst mir mit deinen Klausurnoten dabei!“
Die Erwachsenen lachten. Meine Klassenkameraden sahen mich erwartungsvoll an. Da musste eine passende Antwort her. Ich brauchte nicht lange zu überlegen.
„Schade, Herr Direktor, und ich hatte mich bereits so auf mein Zeugnis gefreut. Können Sie nicht zur Feier des Tages eine Ausnahme machen und die Zeugnisse schon vor den Prüfungen verteilen?“
Unser Direx war schon eine Nummer. Aber die Reaktion hatte er wohl erwartet. Ich bedankte mich für die netten Worte und den schönen Bildband über die Entstehung der Erde. Vor den Erfolg hatte der Herrgott nun mal die Arbeit gesetzt. Und die nächsten Wochen würden nicht einfach werden. Umso fröhlicher wollten wir heute in meinen Geburtstag hinein feiern.
Kurz vor Mitternacht, just als alle mit ihren Sektgläsern aufstanden und gebannt auf die Schlossuhr blickten, geschah das Unglück.
Das Licht fiel aus. Strom weg, keine Musik mehr, nur ein paar Kerzen flackerten auf den Tischen im Wind. Ein merkwürdiger Luftzug schien irgendwo herzukommen. Einige Mädchen und Frauen schrien laut auf, andere kicherten verhalten. Andy und Carsten fluchten, suchten nach Taschenlampen. Mein Vater bemühte sich die Gäste zu beruhigen.
„Ich gehe sofort zum Sicherungskasten. Da ist sicher wieder eine Überspannung eingetreten, die Disco und die Lautsprecher brauchen zu viel Strom. Wir hatten das heute Nachmittag schon einmal.“
Gerade als er mit der Taschenlampe in der Hand und Robert im Schlepptau losstiefeln wollte, fiel der Lampenschein auf eines der vergitterten Turmfenster. Tumult entstand unter meinen Gästen. Zwei Menschen standen dort oben in zehn Meter Höhe regungslos. Ein Mann und eine Frau. Der Mann trug eine Ritterrüstung, die Frau ein langes grünes Kleid. Ihre blonden Haare wehten im Wind. Sie breitete plötzlich weit die Arme nach ihm aus.
„Siegbert, ich werde dich immer lieben!“, rief sie.
Er erwiderte verzweifelt: „Meine schöne Barbara!“
Die Gäste starrten gebannt auf das Paar, deren Stimmen schaurig klangen. Die Szenerie war unheimlich. Wir hörten zusätzlich das Geklapper von Rüstungen. Und die Turmuhr schlug Mitternacht. Nach zwölf Schlägen schauten die beiden unglückseligen Geister zu mir hinunter.
„Maximilian von Wildenstein, du bist von unserem Blut, denke immer an uns, vergiss uns nie!“, riefen sie mir zu.
Ein helles Licht hüllte sie ein und der Spuk brach ab. Wenig später war der Strom wieder da.
„Nein, Siegbert und Barbara, ihr seid unsere geliebten Vorfahren, wir vergessen euch niemals. Ruhet in Frieden!“, schrie Beatrix ganz laut zum Turm hinauf. Mit dem Glas in der Hand drehte sie sich zu mir um. „Alles Gute zum Geburtstag, Max.“
Sie schlang ihre Arme um mich, küsste mich leidenschaftlich und flüsterte mir eine Schweinerei nach der anderen ins Ohr. Jenny war die nächste. Hubertus ließ meinen Eltern den Vortritt. Nach und nach kamen alle zu mir. Der anschließende Gesang von Happy Birthday muss noch in München zu hören gewesen sein, so laut war er.
Als ich mich setzten wollte, gab es einen Tusch. Robert und Dietrich trugen die riesige Geburtstagstorte vor Mia und Lisa her und stellten sie auf einen Tisch. Ganz oben stand tatsächlich Chester in Schokolade und schaute mich spitzbübisch über drei Etagen Leckerei an. Meine Mutter reichte mir einen Teller, Mia ein Tortenmesser und Lisa passte auf, dass ich mir ein großes Stück abschnitt. Ich drückte sie und knutschte sie vor Dankbarkeit ab.
Als alle ihren Tortenanteil bekommen hatten und die Tassen mit Kaffee, Tee und Schokolade gefüllt waren, bedankte ich mich noch einmal bei allen. Auf unsere Schlossgespenster hielt ich eine Lobrede. Immerhin waren sie außerplanmäßig an meinem Ehrentag erschienen. Ich lächelte Conny zu. Die Nacht begann. Nach dem Kaffee kam endlich der Alkohol auf den Tisch. Ich war nun Achtzehn und musste mit einem Doppelkorn aus unserer Brauerei anstoßen.
Das Fest nahm seinen Lauf. Immer wieder kamen Freunde und brachten kleine Darbietungen. Dazwischen wurde das Tanzbein geschwungen und gefeiert. Die Älteren verabschiedeten sich ab halb drei Uhr nach und nach, während es bei uns Jungen erst richtig losging. Allerdings vertrugen wir noch nicht viel. Ich passte sehr auf mich auf, denn als Gastgeber durfte ich nicht volltrunken ausfallen. So gegen vier Uhr morgens lichteten sich bei uns die Reihen. Nur meine Übernachtungsgäste und unser harter Dorfkern der Ritter derer vom Bootshaus rückten näher zusammen. Die meisten davon waren bereits alkoholerprobt.
Jeder sah, wie glücklich sich Conny auf unserem Schloss fühlte. Er hatte alle Hände voll zu tun, mit den vielen Mädchen zu tanzen und die Nummern und Adressen der Jungen in sein Handy zu speichern. Die Boys wollten ihn natürlich auf der Reeperbahn besuchen. Er merkte deshalb gar nicht, wie sein Glas immer wieder gefüllt wurde und trank weiter von der Kornbowle, die er eingangs verächtlich als ‚Limonade‘ abgetan hatte. Langsam zeigte der darin enthaltene Alkohol bei ihm Wirkung. Um halb fünf Uhr sank Conny friedlich im Stuhl zusammen und schlief ein. Melanie versuchte ihn wachzurütteln, aber es war zu spät. Nun begann unser Streich, den ich mir mit Andy ausgedacht hatte. Ein paar Jungs aus dem Dorf trugen ihn über den Schlosshof.
Aber nicht nach oben in mein Zimmer, sondern in den Turm, direkt in Ritter Siegberts Gefängnis. Sie legten ihn vorsichtig neben das Skelett, seine Hand fasste um die knöcherne Hüfte. Über den Kopf zogen sie ihm eine locker sitzende Kapuze, die nur seine Augen bedeckte. Die Füße wurden wie bei Siegbert angekettet. Neben den beiden lagen Coladosen und mehrere Tüten Gummibärchen, sodass keiner verhungern oder verdursten brauchte. Der Schauspieler in Siegberts Ritterrüstung war ein Klassenkamerad von mir. Er blieb oben an der Außentreppe des Turmes stehen und blickte von Zeit zu Zeit auf den Gefangenen hinunter, damit dieser seinen Rausch gefahrlos ausschlafen konnte. Wir schossen schnell ein paar Fotos von dem ungläubigen Conny, der nicht an Gespenster glauben wollte. Danach verließen wir ihn lachend und gingen ins Bett. Siegbert und Barbara spielten ihre Rolle die ganze Nacht weiter perfekt.
Als Conny um halb elf Uhr wach wurde und sich verwundert die Kapuze vom Kopf zog, starrte er erschrocken auf das Skelett neben sich. Er stieß einen lauten Schrei aus, der das unglückliche Paar alarmierte. Beide erschienen wieder auf der Empore und jammerten herzzerreißend. Conny begann mit zu jammern und zu lamentieren. Aber seine Bitten um Freiheit wurden nicht erhört. Er musste sich mit Gummibären und Cola zufrieden geben und den skelettierten Siegbert als Zellengenossen akzeptieren. Erst um ein Uhr hatte Beatrix ein Einsehen. Barbara und Siegbert nahmen dem armen Conny die Fesseln ab, der sichtlich flau aus seinem Verlies wankte. Er saß blass auf der Bank unter unserer alten Eiche. Gespielt freudig, lief ich auf ihn zu.
„Hey, Conny, wir haben dich überall gesucht. Wo bist du bloß gewesen? Du siehst nicht gut aus, Alter. Ich dachte, du verträgst mehr als wir?“
Er legte seine Arme um mich. „Ich geb auf. Ich werde nie wieder etwas gegen Geister sagen. Siegbert hat fürchterlich geschnarcht und wollte mir auch noch die ganzen Gummibärchen wegnehmen. Und sein Skelett stank bestialisch. Ich will nie wieder im Turm eingesperrt werden.“
Nach und nach kamen Hubertus und Andy angelaufen. Rene schlug die Hände überm Kopf zusammen und Melanie küsste ihn auf die Wange.
„Oh, mein Liebling, wo warst du? Ich bin gestorben vor Angst“, log sie theatralisch.
„Ich hab meine Lektion gelernt. Darf ich jetzt duschen? Und etwas zu essen wäre nicht schlecht.“
Wir brachten ihn nach oben. Im Speisesaal gab es Mittag und zum Kaffee saßen wir mit einigen Gästen am Tisch, die am Abend nicht mit uns in den Geburtstag hinein feiern konnten. Das wichtigste Gesprächsthema war natürlich nicht ich, sondern unser Gespensterpärchen. Klaus Bichelsteiner, unser Lokalredakteur des Wildensteiner Boten, ließ sich von Conny alle Einzelheiten seiner Entführung durch die rüde Ritterschaft erzählen. Am übernächsten Tag erschien ein Foto von Conny neben Siegberts Skelett im Turm in der Zeitung. Klaus hatte einen sehr spannenden Bericht dazu verfasst. Das ganze Dorf war stolz auf uns und unsere Burg. Ich schickte Conny die Zeitung nach Hamburg. Kurt lachte sich halb tot, aber Conny wollte noch mehr Exemplare, um sie an Bekannte auf dem Kiez zu verschenken.
Unser Direx hielt leider Wort. Eine Klausur jagte die nächste. Ich hatte keine Zeit mehr an Blödsinn, Sex oder meine Freunde zu denken. Selbst Jenny war abgemeldet. Im Schloss liefen alle auf Zehenspitzen und jeder vermied es, mich anzusprechen. Mitte Mai aber waren sämtliche Arbeiten geschrieben. Ich bereitete mich auf die mündlichen Prüfungen vor. Als ich in den Spiegel blickte, konnte ich irgendwann keinen Unterschied mehr zwischen Siegbert und mir entdecken. Ich sah aus wie ein Zombie und fühlte mich so. Das Kolloquium begann und die zusätzliche Sportabiturprüfung fand statt.
Es folgten einige bange Wochen der Ungewissheit. Am 2. Juni war alles vorbei. Gottseidank. Die Ergebnisse wurden in einer gesonderten Schulstunde verkündet. Ich jauchzte überwältigt über meine guten Noten. Mathe und Deutsch waren glatt Eins. Englisch Zwei plus, Physik Zwei plus und Geschichte mit Sozialkunde auch glatt Eins. Das Sportabitur hatte ich ebenfalls mit einer Eins abgeschlossen, was mich im Gegensatz zu den anderen Zensuren nicht allzu sehr überraschte. Die ganze Plackerei hatte sich wirklich gelohnt. Wahnsinn!
Oma wollte unbedingt bei der Zeugnisvergabe dabei sein. Sie war nun schon 95, aber immer noch ziemlich rege im Kopf. Körperlich ging’s nicht mehr so gut und zuweilen verwechselte sie mich mit Hubertus. Tante Alexa kam zur Abiturfeier mit ihr angefahren. Beatrix war natürlich dabei und schenkte mir ein sehr großes Paket. Das öffnete ich aber sicherheitshalber heimlich. Mit gutem Grund, wie ich gleich beim Auspacken bemerkte. Diverse Tuben Gleitcreme, Kondome in allen Farben und Geschmacksrichtungen und zwei versaute Gay DVD’s lagen drin. Trixi saß in der Aula neben mir und sah sich unsere Abschlussfeier genau an. Nach den Ferien sollte meine Cousine nach Frankreich ins Internat. Ich umschlang ihre Hand, als der Direx seine Abschiedsrede hielt. Das Internat lag in der Nähe von Bordeaux, sie würde also sehr weit weg von uns leben.
„Irgendwie beneide ich dich. München ist nur ein Katzensprung von zu Hause. Ich hab schon jetzt fürchterliches Heimweh.“
„Ach, Süße, das tut mir leid.“ Mein Mitgefühl war ehrlich. „Das schaffst du schon. Vielleicht wird es viel schöner als du denkst. Du bist eine kleine Comtesse, vergiss das nicht. Adel verpflichtet. Und wir telefonieren.“ Gottlob ließ sie sich damit trösten. Ihr Kopf lag während der Feier liebevoll an meiner Schulter. In Mathe und Deutsch erhielt ich als Klassenbester einen gesonderten Preis vom Direx, der sichtlich gerührt Tränen in den Augen hatte, als er uns, einer nach dem anderen, die Hand drückte und Lebewohl sagte. Das war also jetzt die Schule gewesen. Ich dachte an meine Kinderjahre, an die unruhige Zeit, als ich noch als Mädchen leben musste und an meine legendären herrlichen Jungenstreiche. Mit zwölf Jahren wurde ich damals wieder geboren und begann, mein Leben in vollen Zügen zu genießen.
Auch der Pfarrer saß im Publikum, stand lächelnd auf, gab jedem von uns die Hand und hielt eine Rede. Andy und ich schluckten, als er uns namentlich und unsere Hilfsbereitschaft von einst hervorhob. Der verwilderte Pfarrgarten sah später nie wieder so gut aus, meinte er und schmunzelte.
Mein Vater betrachtete mich während der Lobrede mit zusammengekniffenen Augen. Ihm war sichtlich nicht geheuer dabei. Nein, er würde nichts erfahren. Wie vieles andere nicht. Ich hatte meinen Stolz und wollte ihm den seinen nicht nehmen.
Abends telefonierte ich mit Rene. Mein Freund war inzwischen ebenfalls mit der Schule fertig, allerdings auch mit den Nerven. Seine Noten konnten sich sehen lassen, kamen dennoch mit den meinen im direkten Vergleich nicht ganz mit. Das störte ihn allerdings weniger. Wie hier hatte man in Hamburg mit dem Zentralabitur das Niveau deutlich angehoben, so dass die Schüler dort genauso gestresst ihre Zeugnisse entgegen nahmen, wie bei uns in Bayern. Wir unterhielten uns über unsere OP und das weitere Vorgehen. Am 07. Juli sollten wir beide in Berlin sein. Mit Doc Reimers war ein letztes Gespräch, das das Röntgen der Lunge, ein EKG und die wichtigsten Blutwerte einschloss, am 01.07. abgesprochen. Die Ergebnisse bekamen wir gleich mit, um sie der Klinik vorlegen zu können. Einen Teil der Blutuntersuchungen wollte Herr Reimers mit dem Fax ans Krankenhaus schicken. Rene meinte, wir könnten uns gegen Mittag beim Doc treffen und erst am 03. gemeinsam zu mir nach Wildenstein fliegen. Danach würde es am 07. morgens mit dem ICE nach Berlin gehen.
Der Rest vom 01. Juli und der nächste Tag sollten Conny gehören. Hubertus wollte Andy und mich nach Hamburg begleiten. Er hatte sich auf meiner Geburtstagsparty mit Conny kurzgeschlossen. Die beiden hatten sich vorgenommen, zusammen mit uns die Reeperbahn unsicher zu machen. Wir waren nun alle achtzehn Jahre alt und durften offiziell Kurts Tabledancebar besuchen und uns auf dem Kiez amüsieren. Ich freute mich auf der einen Seite und musste gegen ein mulmiges Gefühl andererseits ankämpfen. Alles hatte zwei Seiten. Würde Sina ein besonderes Engagement in bestimmter Hinsicht von mir erwarten? Sie war inzwischen eine gute Freundin geworden und nach wie vor, betrachtete ich die Huren mit den Augen einer Frau. Meine Sozialisation ließ mich weit über den Tellerrand männlicher Gelüste hinausschauen.
Hubertus und Andy blieben im Wartezimmer sitzen, als Rene und ich zu Herrn Dr. Reimers ins Sprechzimmer gingen. Wir mussten diverse Untersuchungen im Hause vornehmen lassen und waren erst gegen Mittag fertig. Der Doc hatte uns seit langem ins Herz geschlossen. Er war sichtlich bewegt. Der Abschied viel ihm nicht leicht und auch wir schluckten. Die Operation bildete den Abschluss unserer Behandlung durch ihn. Natürlich werden wir ihn noch einige Male aufsuchen, aber der Kontakt wird weniger. Ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen.
Gegen Mittag fuhren wir zu Conny. Das Wetter war herrlich, bei 25 Grad und Sonnenschein beschlossen wir noch einmal zur Alster zu fahren. „Conny, ärgere dich nicht über andere Segler, sonst liegst du wieder im Wasser“, meinte Rene frotzelnd und erinnerte uns an den kleinen Unfall, der nun auch schon einige Zeit zurücklag. Hubertus wusste von unserem Abenteuer, als wir mit dem anderen Boot zusammen stießen. Ich hatte es ihm erzählt. Ein angenehmer fröhlicher Nachmittag ließ unsere Laune und Lebensfreude in die Höhe schnellen. Mit dem Bus ging es nach der Segelpartie ans Falkensteiner Ufer. Wir sahen gebannt und voller Fernweh den vorüberziehenden Schiffen nach, badeten in der nahegelegenen Elbebadeanstalt. Conny erhielt während des Essens beim Italiener eine SMS. Er erzählte uns von einem ehemaligen Stammfreier, der ihn gerne treffen wollte. Hubertus hörte mit großen Augen zu. Dass Connys Vater eine Kiezgröße war, wusste er bereits. Aber von Connys Stricher- Vorleben hatte er keine Ahnung. Wir klärten ihn behutsam auf. „Ich hoffe, du verurteilst mich jetzt nicht“, meinte Conny und sah verlegen aus. Hubertus schüttelte den Kopf. „Um Himmels willen, nein. Ich finde das krass und faszinierend zugleich. Entschuldige, bitte. Du hast das ja sicher nicht zum Spaß gemacht. Bei den Frauen denkt man sich nicht so viel dabei. Da ist Prostitution irgendwie etwas, das zum Leben grad hier in Hamburg dazugehört. Aber bei Jungen und Männern nicht. Was sagt denn dein Vater dazu?“ „Er will nicht, dass ich es weiter tue. Und ich habe auch komplett damit aufgehört. Nur meine Stammfreier sind unglücklich. Ich sehe sie auch nicht regelmäßig. Deshalb kommt es wie heute immer wieder vor, dass sich jemand meldet und ich ihm von der neuen Situation erzählen muss. Heute Abend kommt wieder einer, den ich lange nicht mehr gesehen habe. Er ist Amerikaner und selten in Hamburg. Wir treffen uns wie üblich am Parkplatz. Max und Rene wissen, wo das ist. Ich sag Jacky Bescheid, dann könnt ihr euch auf der anderen Straßenseite auf die Bank setzen und auf mich warten.“ Ich erzählte meinem Vetter, was Rene und mir widerfahren war, als wir auf dem Straßenstrich auf Conny warteten und die Freier abwehren mussten. Er fing zu lachen an. Um 19 Uhr machten wir uns auf den Weg. Conny stellte Hubertus Jacky vor und sprach mit zwei anderen Jungen, die in der Wendeschleife standen. Wir durften, wie besprochen, auf die gegenüberliegende Straßenseite gehen. „Siehst du, Hubi, hier sitzen wir in der ersten Reihe und kriegen alles mit, was auf dem Strich passiert“, erklärte Rene. Hubertus gluckste. „Besser als jedes Kino!“ Wir hatten einige Bierdosen dabei und tranken. Nach einiger Zeit fragte mein Vetter, was es mit dem kleinen Backsteinhäuschen auf sich hatte, das durch die Bäume schimmerte. Es war das Klo. „Können wir mal hin? Ich muss das Bier wegbringen“, fragte er. Die Idee kam bei allen gut an. Wir standen auf, informierten Jacky, der wie immer, wie ein Paradiesvogel gekleidet und geschminkt war. „Tut, was ihr nicht lassen könnt“, meinte er und grinste. In Hamburg konnte man vor Überraschungen nie sicher sein. Das sollte ich in den nächsten Minuten zu spüren bekommen.
Als wir aus der Toilette kamen, vernahm ich ein eigenartiges Geräusch. Es klang, als ob jemand nach Luft röchelte. Ich ging zur Rückseite des Gebäudes. Erschrocken hielt ich inne. Ein kleiner Junge stand dort an der Mauer. Vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, seine Kleidung war verschmutzt. Er muss längere Zeit auf der Straße gelebt haben. Seine Augen starrten leer. Sein Atem ging stoßweise, sein Gesicht schimmerte schneeweiß und hob sich von der Dunkelheit ab. Hatte er Drogen genommen? Hubertus und Rene folgten mir und zuckten sichtlich zusammen, als sie den Kleinen anschauten. „Bleibt hier und passt auf ihn auf. Ich laufe zu Jacky.“ So schnell ich konnte rannte ich zur Wendeschleife und konnte nur noch zusehen, wie der in ein Auto stieg und davon fuhr. Ich blickte mich um. Einer der anderen Jungen war auf mich aufmerksam geworden. „Wir brauchen Hilfe. Da steht jemand am Klohaus, der bricht gleich zusammen. Ich glaub, er hat Drogen genommen“, erzählte ich ihm atemlos. Der Junge nickte und folgte mir. „Sch… Ganz ruhig. Ich rufe einen der Streetworker an. Wir wollen hier kein Aufsehen!“ Er sah sich den Jungen an und konnte sich kaum beherrschen. „Scheißdealer!“ Dann nahm er sein Handy. „Ronald, Tim hier. Kannst du herkommen? Am Klohaus hat‘s einen erwischt. Ist noch ziemlich jung. Weiß nicht, was er eingeworfen hat. Aber du solltest ihn mitnehmen.“ Er steckte sein Telefon in die Jacke. „Wie heißt du, Kleiner? Darf ich sehen, was du in der Tasche hast?“ Der Junge wehrte sich nicht, als Tim in seine Hosentasche fasste. Ein kleiner Beutel mit bunten Pillen kam zum Vorschein. „Gleich kommt Ronny, er ist Streetworker und bringt dich ins Krankenhaus. Die müssen wissen, welchen Stoff du intus hast.“ Rene hatte den Kleinen inzwischen in die Arme genommen und stützte ihn. Hubertus schüttelte fassungslos den Kopf. „Das ist doch noch ein Kind! Wer gibt so einem kleinen Kerl Drogen?“ Tim erwiderte recht ärgerlich: „Die Dealer haben hier im Park nichts zu suchen. Das haben wir mit ihnen abgemacht. Solche Geschichten holen die Bullen auf den Plan und die schließen uns den Park. Ronald ist sicher gleich hier. Er wird auch einen Rettungswagen holen, wenn es nötig ist. Sonst fährt er die Kids, die er aufsammelt, selbst ins Krankenhaus.“
„Hallo, Tim? Wo bist du?“ Eine kräftige Männerstimme rief nach ihm. „Hier, hinterm Haus. Danke, dass du kommen konntest.“ „Das ist doch selbstverständlich und mein Job! Hey, wer bist du?“ Ronald strich mit der Hand über das Gesicht des Kleinen und sah ihm in die Augen. Er fragte Rene, ob er ihn weiter halten könne. Rene bejahte. „Wir bringen ihn zur Straße, da steht mein Auto. Er muss ins Krankenhaus. Ich möchte den Dealer eigenhändig erwürgen!“ Mit dem Arm unterstützte er Rene und gemeinsam trugen sie den Jungen zu dem weißen Lieferwagen. „Drogenberatung Hamburg“, stand an der Seite. Roland schloss auf und legte den Kleinen vorsichtig auf eine Liege darin. Er meldete sich telefonisch im UKE Eppendorf an. „Vielen Dank für eure Hilfe“, meinte er zu uns. Tim händigte ihm den Beutel mit den Pillen aus. „Alles klar, Ronald. Nochmals danke und alles Gute für ihn.“ Er drückte dem Jungen die Hand. „Das wird wieder. Ronald hilft dir, okay?“ Der Junge nickte. Er sah sehr schwach und verletzlich aus. „Ihr gehört hier aber nicht her?“, fragte Ronny Rene und sah uns drei fragend an. „Nein“, antwortete ich. „Wir warten auf unseren Freund und wollten nur zur Toilette. Da haben wir ihn gefunden.“ „Soll ich mitfahren und auf ihn aufpassen?“, fragte Rene. „Ich habe einen Kursus in erster Hilfe bei der Jugendfeuerwehr gemacht.“ Ronald lächelte überrascht. „Klettere rein. Wir müssen auch los.“ Rene setzte sich zu dem Jungen und hielt seine Hand. „Ich melde mich nachher bei euch“, meinte er. Erstaunt sahen wir zu, wie die beiden abfuhren. Davon wusste ich gar nichts. Wir verabschiedeten uns von Tim und gingen wieder zu unserer Bank. Ich zitterte leicht. Das Erlebnis war nicht spurlos an mir vorüber gegangen. Ich war wütend auf die Leute, die Kindern Drogen verkauften. Hubertus schien meine Gedanken erraten zu haben. „Ich glaube, das war jetzt ein Schlüsselerlebnis für mich. Ich werde entweder Jugendrichter oder Staatsanwalt. Wahrscheinlich Letzteres. Dann kann ich diese Typen hinter Gitter bringen, wo sie hin gehören. Und Rene bei der Jugendfeuerwehr? Ist ja krass.“ „Das hat mich auch erstaunt. Ich bin ganz früher mal in Wildenstein dabei gewesen. Aber es ist lange her. So ein erste Hilfe Kursus ist vielleicht gar nicht schlecht“, meinte ich zu ihm. Ein Auto hielt und Conny stieg aus. „So, Leute. Ich bin zu allen Schandtaten bereit. Wo ist Rene?“ Wir erzählten ihm, was vorgefallen war. „Shit. Das mit den Drogen ist ein Problem hier. Gut, dass es Ronny gibt. Ich kenne ihn. Er ist sehr engagiert. Willst du Rene anrufen? Ich wollte eigentlich zu Kurt. Er kann doch dort hinkommen?“, fragte er mich. Ich nahm gleich mein Handy. Rene erzählte, dass sie den Jungen im Krankenhaus aufgenommen haben. Ronald wollte sich weiter um ihn kümmern. Das Drogenproblem blieb noch lange Gesprächsstoff zwischen uns. Wie geplant nahmen wir am nächsten Tag Abschied von Conny. Er drückte uns am Flughafen sehr lange. Vor Rene und mir lag eine aufregende Zeit. Sie wird unser Leben für immer verändern oder geraderücken, je nach dem aus welcher Perspektive man es betrachtete.
Die nächsten Tage auf Schloss Wildenstein gingen schnell vorüber und waren mit viel Arbeit angefüllt. Wir mussten das wichtigste einpacken. Unser Krankenhausaufenthalt sollte vierzehn Tage dauern. Am 07. Juli fuhren wir mit meiner Mutter im ICE nach Berlin. Hubertus war nach Hause zurückgekehrt, um sich auf seine USA-Reise vorzubereiten. Er wollte mit mir telefonieren. Mutter hielt dafür sämtliche Fäden in der Hand. Sie wird allen Bescheid geben und vor allem Renes Eltern sofort über unseren Gesundheitszustand informieren.
Rene und ich bezogen ein gemeinsames geräumiges Zimmer, in das wir nach dem Aufenthalt auf der Intensivstation wieder zurückgebracht werden sollten. Am nächsten Tag wollte Doktor Dupret, der uns operierte, noch einige Voruntersuchungen durchführen lassen.
Meine Mutter verließ uns nach einem kurzen Gespräch mit ihm frühzeitig, um in ihr Hotel zu fahren. Sie wirkte aufgeregt. So kannte ich sie nicht. Es ging ihr sehr nahe, das merkte man deutlich. Rene und ich freuten uns auf die Aussicht auch äußerlich Männer zu werden und gleichzeitig spürten wir so etwas wie Unbehagen vor dem letzten Prozent an möglichen Komplikationen. Wir mussten unser Einverständnis zur OP unterschreiben und wurden natürlich über alle Risiken aufgeklärt. Conny rief an. Er erzählte, die Ärzte empfinden es als Beleidigung, wenn ein Patient noch auf dem OP-Tisch verstirbt. Wir konnten also hoffen, auf jeden Fall wieder aufzuwachen. Wie beruhigend und zartfühlend! Conny traf wie immer den richtigen Ton.
Wir legten auf. Bei mir war eine Sekunde später Hubertus dran. Beatrix, meine Oma und meine Tanten und Onkels riefen ebenfalls nacheinander an. Andy meldete sich. Die ganze Bande saß im Bootshaus. Wir konnten sie grölen hören. Sie wetteten auf uns, wer wohl den Längsten bekam. Rene musste ihnen eine Enttäuschung bereiten. Es waren exakt zehn Zentimeter. Die Unterarmmanschette, aus der der Hautlappen für den Penis gewonnen wurde, besaß eine festgelegte Länge. Vielleicht kann man ihn später noch etwas ziehen, kam mir in den Sinn.
„Also kann ich euch eigentlich schon eintragen“, meinte Jacob lässig. „Beide zehn Zentimeter, Max und Rene. Sorry Leute, aber damit liegt ihr ziemlich weit hinten“, erklärte er.
„Das ist mir so wurscht, wie nur was. Hauptsache, ich habe erst mal einen. Die Länge ist mir völlig egal“, ereiferte ich mich. Und stutzte. Wenn ich es richtig bedachte, eigentlich doch nicht. „Also, zehn Zentimeter reichen auf jeden Fall, um ihn aus der Hose nehmen zu können“, setzte ich nach.
Mein Display zeigte mir Jenny an. Ich verabschiedete mich von den Jungs. Rene schüttelte den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Unser Liebesgesäusel war wohl kaum auszuhalten. Die Parallelschaltung zwischen ihm und Kerrin, die neben Melanie saß, entschädigte ihn ein paar Minuten später.
„Wisst ihr beide denn überhaupt, wieso ihr transsexuell seid?“, fragte Melanie, die am folgenden Tag nach Essen zur OP fahren sollte. Wir verneinten.
„Also, das hat natürlich Ursachen und die sind relativ einfach erzählt. Ihr wisst, dass der Storch nicht die Kinder bringt, aber trotzdem sehr wichtig ist. Er teilt nämlich jedem Neugeborenen das Geschlecht zu. Dafür erhält er jeden Morgen von Petrus eine Liste, auf der die Namen stehen und ein Körbchen, in dem sich die Geschlechtsteile befinden. Brüstchen für die Mädchen und auf der anderen Seite liegen die Schwänzchen für die Jungen.“ Rene lachte auf.
„Nicht lachen, zuhören, das ist sehr ernst, auch für den armen Storch“, erzählte Melanie weiter. „Weil die Kinder mit der Mutter in der Regel noch in der Klinik sind, ist der Storch mit dem glücklichen Vater allein zu Haus. Männer unter sich, natürlich gibt es einen aus der Buddel. Der Storch streicht den Namen von seiner Liste und lässt das entsprechende Geschlechtsteil im Kinderbettchen zurück. Er fliegt weiter. Den ganzen Tag. Und überall kriegt er einen Schnaps. Er verträgt zwar eine Menge, denn er ist in der Zwischenzeit nach zwanzig Dienstjahren schon zum Alkoholiker geworden, wie man sich denken kann. Am späten Abend ist er aber so voll wie eine Haubitze. Die letzten Kinder kann der besoffene Storch nur noch im Tiefflug und torkelnd besuchen. Meistens rempelt er dabei sämtliche Bäume und Laternenmasten an. Manchmal passiert es nun, dass die beiden am Schluss noch übrig gebliebenen Babys verschiedenen Geschlechts sind. Der Storch schleppt sich taumelnd zum Kinderbett, greift in seinen Korb und… erwischt das falsche Teil. Beim Mädchen liegt also das Schwänzchen und beim Jungen das Brüstchen. Den restlichen Schnaps kippt er noch und irgendwie landet er irgendwann am späten Abend zu Hause in seinem Horst und zusätzlich auf seinem Freund und Arbeitskollegen Horst, weil unser Storch schwul ist. Blitzbesoffen sind sie natürlich beide. Am anderen Morgen geht die Sache von vorne los. Weil alles korrekt auf dem Zettel ausgestrichen ist, merkt Petrus natürlich erst mal nichts. Ihn widert nur die fürchterliche Fahne an, mit der der Storch jeden Tag zum Dienst kommt. Aber der tut seine Pflicht. Obwohl Petrus schon öfter mit dem lieben Gott über das Problem gesprochen hat, mögen sie ihm nicht kündigen. Irgendwann sieht Petrus die Bescherung, wenn er auf die Erde zu den heranwachsenden Kindern schaut. Um den Fehler des Storches zu kaschieren, hat er sich vom lieben Gott die Erlaubnis geholt, medizinisch eingreifen zu dürfen. Ja, und deshalb sind wir eben Transkids geworden. Unser Doc wird sofort von Petrus mit uns beliefert, wenn der unter den vielen Kindern auf der Welt eines von unserer Art entdeckt. Und nun schlaft gut, ihr zwei. Wir denken an euch. Gute Nacht.“
Nein, wie süß, die Geschichte sollte man sich patentieren lassen und aufschreiben. Rene und ich sahen uns gerührt an. Mir kamen fast die Tränen.
Unsere Nachtschwester erschien und fragte, ob wir eine Tablette brauchten. Wir lehnten dankend ab. Nein, ich wollte wie Rene, mit klarem Kopf meiner OP entgegen schlafen.
Am nächsten Morgen wurde noch einmal Blut abgenommen. Gegen Mittag telefonierten wir mit Doktor Reimers. Frau Michelsen rief an, um mir alles Gute zu wünschen. Die Narkoseärztin erschien. Doktor Dupret kam als letzter, lachte und erzählte einen Witz nach dem anderen. Ich schlief tief und traumlos in dieser für mich so wichtigen Nacht.
Um sieben Uhr morgens wurde ich in mein OP-Hemdchen gekleidet und mitsamt Bett abgeholt. Aus den Augenwinkeln warf ich Rene noch einen letzten Blick zu. An die Fahrt in den Operationssaal erinnerte ich mich in der Folge nur noch schemenhaft.
Die Narkoseärztin gab mir eine Spritze. Und mir wurde schwarz vor Augen. Nur noch Leere und Stille. Ich erwachte einmal kurz, hörte Stimmen, die von weit her klangen, piepende Töne, schlief weiter. Dunkelheit empfing mich, als ich meine Augen erneut aufschlug. Mein Unterkörper tat entsetzlich weh. Ich stöhnte. Eine Schwester kam. Strich mir über die Wange.
„Alles gut?“, fragte sie. „Haben Sie Schmerzen?“
Ich nickte müde und kraftlos mit dem Kopf. Sie ging. Ein Arzt sprach mit mir. Ich antwortete irgendetwas. Und sah, wie er eine Spritze in die Kanüle an meiner Hand führte. Plötzlich schien die Sonne. Meine Nasenspitze fühlte Wärme auf der Haut. Überall leuchtete es hell. Ich blinzelte ins Licht. Schmerzen hatte ich keine. Aber die nervigen Töne waren wieder da und etliche Kabel verschwanden unter meiner Bettdecke. Am Bett saß meine Mutter, in einen grünen Kittel gekleidet. Sie las in einem Buch.
„Mum, hallo“, ich konnte kaum sprechen.
Sie schaute sofort auf. „Maxi, endlich. Ach, mein Liebling. Ich hatte mir solche Sorgen gemacht. Obwohl mir der Arzt und alle Schwestern erklärten, dass alles in Ordnung sei. Die Operation ist gut verlaufen. Du musst dich jetzt schonen und abwarten. Vor allem darfst du nicht aufstehen.“
Ich nickte, drückte ihre Hand und erkannte den Buchtitel. Es war eines der vielen Bücher, die in meinem Zimmer standen und handelte von den Erlebnissen eines Frau zu Mann Transsexuellen. Mutter hielt meine Finger fest umschlossen.
„Ich darf hier nicht telefonieren. Wir warten, bis der Doktor kommt, ja? Dann hören wir, was er sagt und ich gehe kurz nach unten und rufe Papa an.“
Meinetwegen gerne. Rene fiel mir ein. Langsam versuchte ich mich auf der Intensivstation umzudrehen. Ich konnte ihn nirgends entdecken.
„Wo ist Rene?“, fragte ich leise.
„Er liegt wohl noch im Aufwachraum. Heute ist der 10. Juli, mein Schatz. Er wurde heute Morgen operiert. Deshalb kommt jetzt kein Arzt. Die sind alle noch unten. Aber wir fragen nachher. Es ist sicher alles gut. Seine Mutter darf hier in der Klinik anrufen. Das ist halt am ersten Tag alles etwas schwierig. Mach dir keine Sorgen und hab Vertrauen. Rene ist heute genauso ein Junge geworden wie du.“
Hach, war das beruhigend. Meine Mutter fand doch immer die richtigen Worte. Ich schlummerte müde wieder ein. Später hörte ich Stimmen, blickte in die fröhlichen Augen von Doktor Dupret, der gerade wieder einen seiner Witze losgelassen hatte. Alle Leute um mein Bett herum lachten. Wir hatten ihn gebeten uns zu duzen und der Doc, der aus Frankreich stammte, kam unserer Bitte gerne nach.
„Aha, da ist ja unser neuer männlicher Erdenbürger. Morgen früh kommst du in dein Zimmer und am späten Nachmittag werden wir mal den kleinen Jungen auspacken. Bist du schon gespannt?“
„Ja, sieht er schön aus?“ „Du wirst zufrieden sein“, sagte er und zwinkerte mit den Augen.
Ich hatte es also geschafft. „Wie geht es Rene?“, fragte ich.
„Oh, der schläft noch. Bald seid ihr wieder vereint. Ich denke, wir entlassen euch beide zusammen. Ein Tag mehr hier bei uns kann dir sicher nichts schaden. Ihr braucht jetzt nur etwas Geduld. So Max, lass dich von den Schwestern verwöhnen. Und deine müde Mutti schicken wir ins Bett.“
Er wandte sich zu meiner Mutter. „Sie sehen gestresst aus, gehen Sie schlafen. Das ist ein ärztlicher Befehl! Hier läuft jetzt alles seinen normalen Gang.“ Er berührte sie freundlich am Arm.
„Ja, danke, Herr Doktor, das tue ich. Max, du hast gehört. Du bist hier in guten Händen.“
Ein paar Minuten später war ich allein. Verkehrslärm drang durch das halb geöffnete Fenster zu mir herauf. Du bist jetzt ein richtiger Junge, flüsterte mir eine leise Stimme zu. Endlich! Ich war eins. Mein Körper und meine Seele verschmolzen in diesem Augenblick zu einer Einheit. Da war nun bei mir zusammengekommen, was zusammen gehörte. Zwei Teile einer riesigen Metallplatte schoben sich über meinem Kopf ineinander. Das Ergebnis war ein neuer Mensch, ein ganzer und heiler Mensch. Die viele Kraft und mein harter Kampf hatten sich gelohnt. Das Gefühl man selber zu sein ist genauso einzigartig, wie jeder Mensch einzigartig ist. Meine Hände falteten sich von allein. Ich dachte an meine Kindertage und dankte dem Herrn für diese Minuten höchster Glückseligkeit, die ich eins mit dem Universum und vereint mit ihm in seinem göttlichen Kraftfeld erlebte. Er und ich, darauf kam es an. Nur wie wir beide miteinander umgingen und einander vertrauten, konnte bestehen. Die Kirche gab allenfalls Richtungen vor, mehr nicht. Den Weg des eigenen Glaubens musste jeder selbst gehen und wer am Ende das fand, was ich heute finden durfte, hatte sein Ziel erreicht.
Ich dachte an Melanies Geschichte vom Klapperstorch und empfand sie nicht so falsch. Da war irgendwann irgendwo an irgendeiner Stelle ein Fehler passiert. Und dieser Fehler konnte inzwischen dank moderner Medizin korrigiert werden. Niemand hatte Schuld daran. In der Natur gab es massenhaft Unfälle. Aber das Wichtigste war, Gott liebte uns alle. Diejenigen, die heil und gesund auf die Welt gekommen waren genauso wie wir, bei denen sich ein Fehler eingeschlichen hatte. Gut zu wissen, dachte ich und spürte die Geborgenheit und Nähe eines großen Ganzen, dessen Teil ich immer sein würde.
Schlaf- und Wachphasen wechselten sich ab. Meine Kabel wurden kontrolliert und entfernt. Irgendwann kamen zwei Krankenschwestern, lösten mich von den Geräten und brachten mich auf mein Zimmer. Dort schlossen sie mich wieder an. Herz, Puls und Blutdruck, alles wurde überwacht. Wo steht die Temperatur? Mein Kopf registrierte die faszinierende Technik mit halbwachem Geist. Am Bett hing ein Urinbeutel, der regelmäßig geleert wurde. Mich interessierte doch nun sehr, wo er endete. Ein Blick unter die Bettdecke löste allerdings Ernüchterung aus. Ich war untenrum vollständig eingepackt. Nun denn, da musste sich meine Neugierde wohl noch etwas gedulden.
Meine Mutter klopfte an die Tür und streckte ihren Kopf herein. „Guten Morgen, junger Mann. Ich soll dich von deinem Vater grüßen. Hubertus hat auch schon angerufen. Er sitzt auf gepackten Koffern. Beatrix meldet sich demnächst selbst bei dir.“
Ich lachte innerlich. Herrlich. Da war sicher wieder ein freches versautes Gedicht fällig.
„Heute Nachmittag darf ich das Ergebnis sehen“, erzählte ich und freute mich. „Irgendwo in dem Rucksack dort, liegt mein Handy. Ich muss nachher ganz viel telefonieren.“
Schön, wenn eine Mutter gleich jeden Wink mit dem Zaunpfahl verstand. Sie gab mir lächelnd den ganzen Rucksack.
„Hier, brauchst du noch etwas? Ich hole mir sonst kurz einen Kaffee. Wann du wieder essen darfst, weiß ich nicht. Aber da läuft noch Nahrung in deinen Arm. Der Tropf enthält alles, was du benötigst.“
Ich blickte auf meine rechte Seite. Ja klar. Mein Magen musste für die OP kalt gestellt werden. Deshalb. Hunger und Durst hatte ich nicht.
„Geh ruhig, ich schlummere noch etwas, damit ich heute Nachmittag fit bin“, lachte ich und schaute auf meine Handynachrichten. Glückwünsche und Genesungswünsche von allen möglichen Leuten konnte ich erkennen. Ein heftiges Summen riss mich plötzlich aus dem Schlaf. Ich nahm ab.
„Hallo, Cousin, können wir Schniedel messen?“ Hubertus klang genauso aufgekratzt wie ich.
„Ich hab ihn noch nicht gesehen. Es ist alles zugepackt. Erst am späten Nachmittag gibt es die Geschenke!“ „Und sonst, hast du Schmerzen?“
„Nein, aber da läuft eine Menge an Medizin in mich hinein. Wann fliegst du?“
„In vier Tagen. Ruf mich an, wenn du ein Bild von ihm machen kannst, ja?“
Gute Idee, hätte ich selbst drauf kommen können. „Mache ich, du kriegst ein schönes Foto.“
Irgendwie war ich wieder müde. Wahrscheinlich lag das an all dem Zeug, was da in meinen Arm floss. Mutter kam wieder.
„Die Schwester kommt gleich und bringt dir eine leichte Suppe. Du sollst selbst essen und trinken. Der Tropf bleibt nur noch für Medikamente“, sagte sie.
„Hubi hat eben angerufen. Er freut sich bestimmt schon auf Amerika.“
Mum nickte. „Ja, er kann es kaum erwarten. Es ist ein großes Abenteuer, wobei dort viel von ihm verlangt wird. Aber sein Englisch ist perfekt und er wird sein Studium sicher gut abschließen. Die Wildensteins sind alle recht klug. Dein Vater hatte sehr gute Examen und Onkel Ludwig ebenfalls. Beatrix macht sich Gedanken um das Internat. Sie wollte es ja selbst, aber jetzt, wo es in Reichweite liegt, quält sie das Heimweh.“
Mein Handy summte. Wenn man vom Teufel spricht… Beatrix rief an, ich zeigte Mutter das Display mit ihrem Bild. Mum lachte, und verschwand. Sie ahnte wohl, dass das folgende Gespräch nicht mehr ganz jugendfrei wurde.
„Hallo Cousinchen, ich weile wieder unter den Lebenden.“
„Männer sind Schweine. Den Song kennst du genau, denn du warst bis gestern eine Frau. Nun bist auch du ein Schwein und lässt mich armes Mädchen ganz allein. Dich und Hubertus soll der Teufel holen, ich werde euch als Domina eure Hintern versohlen!“
Daraufhin konnte ich nur noch lachen. Mein Kopfkino ratterte und schoss bereits die ersten Fotos von dieser Session.
„Deine Tante hat geahnt, dass du Schweinkram von dir gibst und eben fluchtartig das Zimmer verlassen, meine Süße. Aber ich habe um dich keine Sorge. Du wirst das Mädcheninternat mit Sicherheit gewaltig aufmischen. Ich möchte wirklich bei euch mal Mäuschen spielen.“
„Ja, das Dichten scheint bei uns in der Familie zu liegen. Hast du ihn schon gesehen?“
„Nein, am späten Nachmittag kommt der Doc. Ich bin total verkabelt und eingepackt. Du, die Schwester will etwas. Ich mach Schluss, wir telefonieren wieder.“
Ich begann brav meine Suppe zu löffeln. Die Schwester nahm den Tropf ab. Wieder etwas mehr Bewegungsfreiheit, freute ich mich.
Mum kam zurück und hatte eine zweite Tasse Kaffee in der Hand. „Na, hat sie dir eine Ferkelei erzählt? Ich muss mal mit Alexa reden. Das Mädchen dreht völlig durch. Es wird Zeit, dass sie im Internat Manieren lernt.“
Ich verschluckte mich fast bei dem Gedanken. Das war genauso gut, als meine Mutter damals von meinem Vater verlangte, dass er auf mich aufpassen sollte. Wir Wildensteins machten generell, was wir wollten. Nun war Beatrix zwar nur Cousine mütterlicherseits, aber sie hatte genug von Hubi und mir gelernt. Ihr Vater Maurice war ebenfalls kein Kind von Traurigkeit. Das wusste ich inzwischen aus unseren Männergesprächen. Maurice klärte mich schonungslos über das Leben auf.
„Woran denkst du?“
Ich erschrak. „Nichts, Mum. Nur so.“
„Hm, dein Vater erzählt mir auch nicht mehr alles, hab ich den Eindruck.“
Ich wechselte schnell das Thema, fragte sie nach dem Buch, das sie las.
„Es ist hoch interessant, er hat sich erst als erwachsene Lehrerin operieren lassen können und was er alles mit seinem Freund erlebt hat, das ist schon gewaltig.“
Wir unterhielten uns noch eine Weile, bis ich wieder einschlief. Um halb fünf Uhr wurde ich durch Geräusche geweckt.
„Also, jedes Mal, wenn ich da bin, schläft er. Manchmal denke ich, der junge Mann ist mit Absicht so unhöflich. Einen schönen guten Abend, Herr Graf, und herzliche Grüße von dem anderen jungen Herrn. Der kommt morgen her.“
Doktor Dupret lachte mich fröhlich an. Meine Bettdecke wurde zur Seite geschoben. Mum ging taktvoll aus dem Zimmer. Der Assistenzarzt wickelte alle Verbände ab. Mein Doc stellte einen kleinen Spiegel ans Fußende. Langsam wurde das restliche Verbandmaterial entfernt. Ich blickte gebannt in den Spiegel und an mir hinunter. Gleich würden wir uns das erste Mal im Leben begegnen: Er und ich. Ob er genauso aufgeregt war? Jetzt lag er nackt und frei. Hui, der ist aber winzig, dachte ich spontan, als wir einander erstaunt ansahen. Aber es siegte das beglückende Gefühl unserer zarten jungen Zweisamkeit. Er gehörte zu mir und wir hatten nun massenhaft Zeit uns kennen zu lernen.
„Einheitsgröße, aber so dick bleibt er nicht, das kommt nur durch die Operation. Was sagst du? In einem halben Jahr bauen wir ihm die Erektionshilfe ein und die Hoden an.“
Doktor Dupret schien mit seiner Arbeit zufrieden zu sein. Ich nahm meine Hand und streichelte einmal über mein neues Körperteil. Gefühl hatte ich noch keines darin.
„Er ist sehr schön, Herr Doktor. Vielen Dank. Sie glauben gar nicht, was so wenig Fleisch ausmacht.“
Er lachte laut auf, genau wie der Assistenzarzt. Die Krankenschwester schüttelte mitleidig den Kopf.
„Männer“, meinte sie. „Als ob es nichts Wichtigeres im Leben gäbe!“
„Liebe Schwester Tanja, das ist das nun mal das Wichtigste im Leben eines Mannes! Für Frauen ist das schwer zu verstehen, ich weiß.“
Der Doc wandte sich wieder an mich. „In ein paar Monaten hast du Gefühl darin. Nur kannst du einen richtigen Orgasmus ausschließlich über die Klitoris erleben, aber das weißt du sicher. Deshalb lassen wir die immer stehen. In Sauna und Schwimmbad fällst du allerdings nicht auf“, meinte er.
Als der Assistenzarzt meinen linken Arm abwickelte, schrie ich. Himmel, wie furchtbar! Da war nur noch rohes Fleisch zu erkennen. Sie bemühten sich beide, mich zu beruhigen.
„Das wächst alles wieder zu. Du musst den Arm nur hoch halten.“
Ich drehte mich weg und schaute verzückt lieber in den Spiegel zu meinem kleinen Freund. Ich dachte daran, dass Rene morgen aufs Zimmer kommen würde und einen Tag später auch seinen zu sehen bekam. Mein Arm wurde dick eingecremt und bandagiert. Mein neuer
Körperteil verschwand unter einer dicken Schicht roter Salbe und weißem Verbandsmaterial. Ich hatte ihn also anschauen dürfen. Wenn der Doc weg war, könnte ich ein paar Telefonate führen. Ach, das Foto! Nein, das ging jetzt nicht. Das musste ich nachholen, wenn der Verband weg war und ich selbst Hand an ihn legen durfte. Vielleicht noch ein oder zwei Tage, dachte ich. So lange gehörte er noch mir allein und durfte sich vor der Öffentlichkeit verstecken. Die Visite endete.
Meine Mutter kam herein und blickte mich fragend an. „Zufrieden?“
Ich nickte, „Ja sehr. Komisch, wenn ich bedenke, wie ich um ihn hab kämpfen müssen. Und jetzt hängt er da an mir herum, als wäre es nie anders gewesen.“
„Kindskopf! Ach Maximilian, ich bin jetzt auch beruhigt. Die letzten Jahre haben doch an unseren Nerven gezehrt, mehr als wir uns eingestehen wollten. Nun bist du endlich heil. Im nächsten Jahr kommt der Rest dran und das Leben kann endlich geradlinig weiterlaufen. Vater wartet auf die Rückmeldung des Amtsgerichts. Wenn du personenstandrechtlich ein Mann bist, bekommst du eine neue Geburtsurkunde und endlich deinen Ausweis. Vater kann dich im Adelsregister melden und dich notariell als Erben einsetzen. Da haben wir dem Hausgesetz ein schönes Schnippchen geschlagen. Aber auf die Idee, dass mal eine Prinzessin transsexuell sein würde und als Sohn und Erbe des Titels wieder aufersteht, konnte von unseren Vorfahren natürlich keiner kommen. Ich hoffe, es klappt alles. Vater hat Herrn Wanninger alle Vollmachten für die rechtlichen Schritte gegeben.“
Klar, unser Rechtsanwalt war in alles eingeweiht. Da konnte gar nichts schief gehen. Meine Gutachten lagen beide bereits beim Gericht und die Klinik hatte die OP gleich am selben Tag dem Richter gefaxt. Der Beschluss musste geschrieben werden und wurde noch vom Innenminister genehmigt, als Vertreter des öffentlichen Interesses. Alles nur Formsache, wie Doktor Reimers erzählte. Ich nahm mein Handy zur Hand. Es war kurz vor sechs Uhr, als ich in der Praxis anrief. Die Sprechstundenhilfe war dran und jauchzte auf, als sie meine Stimme hörte.
„Ich stelle durch, Max“, rief sie. Herr Reimers meldete sich.
„Ja, hier ist Max, Ziehpapa. Ich habe gerade mein kleines Jungenattribut gesehen. Er ist wirklich etwas klein, aber ich glaube, wir werden uns trotzdem sehr lieb haben“, erzählte ich flachsend.
„Herzlichen Glückwunsch, wie geht es dir? Hast du noch Schmerzen?“
„Nein, aber ich erhalte ziemlich viele Medikamente und bin dauernd müde. Rene ist noch auf der Intensiv. Er kommt morgen ins Zimmer. Es ist alles vollbracht, Doc. Ich bin sehr glücklich.“
„Max, ich schau gerade auf meinen Kalender. Wir sehen uns am 30. August, hab ich hier stehen. Erhole dich jetzt gut, es dauert alles seine Zeit. Grüß Rene. Ich bin sehr froh, dass es euch gut geht.“
Wir verabschiedeten uns. Ich telefonierte mit Andy und danach mit Conny. Mum gab mir Oma und Tante Alexa. Maurice rief an und Onkel Ludwig wollte wissen, wie sich das Statussymbol eines Mannes anfühlte. Ich schwebte auf rosaroten Wolken. Nachdem Mum gegangen war, rief ich Jenny an. Sie wollte alles ganz genau wissen.
„Super, dann kann ich mich schon auf unser erstes richtiges Mal einstellen“, meinte sie.
„Naja, so schnell geht das nicht. Die Pumpe kommt erst nächstes Frühjahr rein“, meinte ich und musste sie enttäuschen.
„Macht nichts. Besser als gar nicht. Das Leben liegt noch vor uns und fängt gerade erst an. Melanie ist bereits in Essen im Krankenhaus. Sie wird morgen operiert. Ich will sie gleich noch anrufen.“
„Gut, dass du das sagst. Ich schick ihr Grüße.“
Vater rief an, zeigte mein Display.
„Mein Dad, Jenny, ich melde mich morgen wieder. Dann hab ich Rene wieder bei mir.“
„Hallo Dad, hier ist die totale Telefonitis ausgebrochen. Wie geht es dir?“
Vater atmete durch. „Gut, mein Sohn. Mum hat mich schon angerufen, aber ich wollte dich natürlich selbst als meinen Nachfolger und Kronprinzen begrüßen. Hast du ihn schon gesehen?“
„Ja, vorhin. Er ist etwas klein geraten, aber wunderhübsch.“
„Die Kleinen werden irgendwann die Größten sein, das kennst du sicher. Hauptsache, du bist zufrieden. Nun sollst du nur noch lernen, mit ihm zur Toilette zu gehen.“
„Nicht nur das, Dad. Im Frühjahr will ich Jenny beglücken. Ich bin echt gespannt, wie das funktionieren wird.“
Vater lachte. „Das kriegst du schon hin. Die Gerichtssachen laufen und wenn alles da ist, schicken wir deine neue Geburtsurkunde ans Adelsregister. So etwas hatten die sicher auch noch nicht. Aber es ist alles legal und einwandfrei. Mach’s gut, mein Sohn. Wir hören wieder voneinander. Grüß Rene und Mum. Sie will wohl übermorgen nach Hause kommen. Du sollst noch zwei Wochen im Krankenhaus bleiben.“
Huch, das waren viele Neuigkeiten. Nun gut, Mum konnte nicht ewig ihre Zeit bei mir verbringen. Ich hatte mich zwar an ihre Hilfe gewöhnt, wurde dadurch aber ziemlich faul. Sie konnte gerne abreisen. Rene blieb bei mir und wir würden schon alles bekommen, was wir brauchten.
Es wächst zusammen, was…
Am frühen Vormittag kam richtig Leben in die Bude. Die Tür wurde aufgeschoben und voller Freude erlebte ich, wie einen Moment später Renes Bett an meiner Seite stand. Was für eine euphorische Begrüßung! Die beiden Krankenschwestern blickten sich überrascht an.
„Wie sieht er aus?“, fragte Rene. Mein Freund war etwas blass um die Nase und musste sich erst an die Schläuche und Kabel an seinem Körper gewöhnen, was ihm gar nicht behagte. Mir war es ebenso ergangen, aber die Erfahrung hatte mir gezeigt, dass auch er in wenigen Tagen wieder beweglicher sein wird.
„Recht klein, aber fein und mein“, antwortete ich wahrheitsgemäß und schmunzelte dabei.
„Ja, das sagte der Doc schon. Bei dir haben sie ihn absichtlich etwas kleiner gemacht, damit du mit deinem guten Zeugnis und deinem Grafentitel nicht übermütig wirst. Es liegt an den Bayern schlechthin. Die haben alle nur einen ziemlich Kurzen!“
Ich plusterte. Oh, Rene, wenn ich jetzt könnte, wie ich wollte und wie du es verdient hast!
„Irgendwann bin ich wieder fit und dann treffen wir uns in freier Wildbahn, du mein bester Freund aller Freunde. Im Übrigen steigt der HSV in der nächsten Saison ab und München wird Meister.“ Ha, damit hatte ich Renes wunden Punkt getroffen.
„Auf keinen Fall, wir werden euch das Leben sehr schwer machen. Aber es stimmt wirklich. Das ist kein Scherz. Wir Hanseaten haben Deutschlandweit die Längsten. Das kommt durch unsere Seefahrervergangenheit. Hamburg ist ja das Tor zur Welt und unsere Arme, äh, männlichen Attribute, mussten weit reichen, eben bis in die weite Welt hinaus.“
Oh Gott, wo war ich nur gelandet! Das konnte ja heiter werden. „Sag mal, was haben die dir gegeben? Stehst du unter Drogen?“ Die Schwestern beeilten sich, aus unserem Zimmer zu kommen. Danach sah es jedenfalls aus. Sie schlossen Rene noch schnell einen neuen Tropf an den Arm und verschwanden panikartig. Ich erzählte ihm von meinen vielen Telefonaten. Sein Handy lag in seinem Rucksack. Der war allerdings im Schrank. Er musste es einschalten und aufladen. Aber im Augenblick kam keiner von uns dran. Wir sollten eine Woche strikt im Bett bleiben.
Mutter kommt sicher nachher und kann uns alles bringen, dachte ich.
„Mum ist bestimmt bald da. Dann brauchen wir die Schwestern nicht scheuchen. Sie wollte nur etwas Shoppen gehen.“
„Oh, das kenne ich von meiner Mutter. Die brauchst du heute nicht mehr erwarten. Berlin hat zu viele Geschäfte!“
„Du kannst mein Handy nehmen und Kerrin anrufen“, bot ich ihm an.
„Danke, der HSV wird also doch im nächsten Jahr Meister, oder wie darf ich das verstehen?“
„Nein, mein Lieber, wir haben nur Waffenstillstand. Der Krieg fängt gerade erst an. Ich werde deinen nachmessen. Wehe, da ist mehr dran, als bei mir. Wobei, meiner ist natürlich der Schönste.“
Wir neckten uns weiter. Es war herrlich, wieder den besten Freund bei sich zu haben. Ich dachte an Conny. Andy und die anderen wollten demnächst aus dem Bootshaus anrufen. Rene telefonierte mit Kerrin.
Ich drehte mich um und schlummerte ein. Irgendwann erwachte ich und spürte, wie sich jemand an mir zu schaffen machte. Herr Melcher, der Assistenzarzt legte mich frei um mich zu verbinden.
Rene beugte sich vor. „Oh, darf ich mal sehen?“ Er betrachtete mein Ergebnis mit großem Interesse.
„Doc, meiner ist doch sicher größer, oder?“, fragte er Herrn Melcher
Der lächelte und fand das Spiel anscheinend sehr amüsant. „Ich glaube eher nicht. Unser Chef muss wohl bald zum Augenarzt. Er schneidet neuerdings sehr wenig vom Unterarm ab. Die Hautlappen werden bei jeder OP kleiner. Also, ich würde mir da keine großen Hoffnungen machen“, erklärte er ernst zu Rene gewandt. „Wegsehen?“, fragte er, als er sich an meinem Arm zu schaffen machte.
Ich nickte, drehte mich zu Rene um und streckte ihm die Zunge aus. Rene schrie auf und sah mich mitleidig und geschockt an. Er ahnte, dass sein Arm nicht besser ausschauen würde.
„Frieden?“, fragte er. Ich hielt ihm den gesunden Arm hin, an dem noch die Kanülen steckten. Wir drückten einander.
Der Arzt verzog die Lippen. „Der Tropf kommt gleich weg. Aber die Nadel soll noch drin bleiben, falls wir ein Schmerzmittel spritzen müssen. Vielleicht kann das alles morgen schon raus. Das entscheidet aber der Boss.“ Als ob man vom…
Die Tür ging auf. Doktor Dupret kam mit einer Schwadron junger Schwestern und Ärzte herein.
„Aha, da sind die beiden frischgebackenen Knaben. Nun, schauen wir uns den zweiten Herren an. Herr Färber aus Hamburg, wollen Sie Ihrem neuen Körperteil Guten Tag sagen? Bitte, Herr Kollege.“
Herr Melcher schob seinen kleinen Verbandswagen um mein Bett herum zu Rene. Gleich würden wir wissen, ob Hamburg oder Bayern Sieger war. Gespannt blickte Rene an sich herunter und in den Spiegel, den ihm der Doc hinstellte. Seine Miene erhellte sich zu einem glücklichen Strahlen. Das änderte allerdings nichts daran, dass sich die Länge von der meinen in nichts unterschied. Renes Penis war genauso klein wie meiner, oder genauso groß. Je nach Betrachtungsweise.
„Danke, Doc. Alles ok. Der gehört zu mir. Das passt alles sehr gut“, sagte Rene höchst erfreut. Ihm fiel sichtlich ein Stein vom Herzen. Zufrieden legte er sich in sein Kissen zurück.
Dr. Melcher begann seinen Arm abzuwickeln. Rene riskierte einen kurzen Blick und drehte sich erschrocken zur Seite. Die Wunde konnte auch er sich nicht ansehen. Unser Operateur legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Keine Sorge, das heilt alles zu. Ich habe einen Nerv mit transplantiert, so dass ihr später auch Gefühl darin habt. Nun braucht ihr zwei nur noch etwas Geduld und bitte, tobt nicht im Bett herum. Wenn ihr Sachen braucht, klingelt und die Schwestern helfen euch. Vor allem dürft ihr ohne Hilfe nicht aus dem Bett aufstehen. Das macht der Kreislauf nicht mit. Haltet euch an meine Anweisung. Bis morgen, meine Herren!“ Nachdem alle den Raum verlassen hatten, kam meine Mutter herein. Sie ging als erstes zu Rene, nahm seine Hand und strich ihm übers Haar. „Ich soll dir alles Liebe von deinen Eltern sagen. Sie rufen im Laufe des Abends an und sind erleichtert, dass du wieder wach und bei Max im Zimmer bist. Wenn du etwas brauchst, sag es, ich bin für euch zwei jetzt noch da und entlaste die Schwestern.“ Rene hatte plötzlich Tränen in den Augen, so sehr berührte ihn die Zuwendung meiner Mutter. „Danke, ich hätte gerne mein Handy, es ist im Schrank. Sie sind ja wie eine Mutter zu mir, ich fühle mich schon wie ein Prinz!“ Mum lachte. „Ich hol es dir, gut, hab ich jetzt eben zwei Söhne. Aber denk daran, Prinz Rene, Adel verpflichtet. Ich kann sehr streng sein und lege großen Wert auf Etiquette und gutes Benehmen!“
Sie brachte ihm seinen Rucksack und legte ihm die gewünschten Sachen so in den Nachtschrank, damit er an alles selbst herankam. Hach, da hatte ich also auf wundersame Weise einen Bruder bekommen. „Toll, Bruder Rene. Ich hab mir schon immer Geschwister gewünscht. Ich bringe dir alles bei, was du in der noblen adligen Gesellschaft zu beachten hast. Hab ich dir von Maren erzählt? Sie ist eine Baronin von Schönefels und hat mir damals Karten für den König der Löwen in Hamburg besorgt. Erinnerst du dich noch, Mum?“
Meine Mutter wusste alles. „Ja, Maren ist die Tochter einer langjährigen Freundin von Maximilians Großmutter. Ihre Familie stammt ebenfalls aus Ostpreußen. Sie arbeitet als Eventmanagerin und betreibt inzwischen eine eigene Firma. Wenn ihr irgendwo eine Veranstaltung sehen wollt, besorgt sie euch die schönsten Plätze. Max, du hättest sie ruhig mal anrufen können. Sie weiß über dich Bescheid und freut sich sicher, dass es dir gutgeht!“ Mutters Stimme klang vorwurfsvoll. Ich hatte tatsächlich viele Verpflichtungen nicht mehr wahrgenommen und mich stattdessen nur noch um meine Hamburger Freunde gekümmert. Das muss ich sofort ändern. Im Herbst beginnt das erste Semester in München an der Uni. Vielleicht kann mir Maren einen Veranstaltungsplan schicken. Ich versprach meiner Mutter mich im eigenen Interesse zu bessern. Sie strich mir daraufhin wie Rene übers Haar.
„Ich fahre übermorgen Nachmittag nach Hause“, erklärte sie. „Vater braucht meine Hilfe und ich habe Landfrauensitzung. Wenn ihr in vierzehn Tagen entlassen werdet, kommt einer von uns her und begleitet euch. Rene bleibt noch mindestens eine Woche bei uns und wird von Doktor Steiner mit betreut. Ihr benötigt eure Spritzen. Ich denke, der Doc hier wird sie euch vor der Heimfahrt geben. So, ihr zwei, habt ihr noch etwas Wichtiges für mich zu erledigen? Sonst will ich wieder in die Stadt. Ich habe nicht alles einkaufen können, was ich wollte.“
„Arme Berliner, die müssen sich fühlen, wie damals nach dem Krieg bei der Blockade. Wahrscheinlich hast du bereits alle Läden leer gekauft!“ Ich wollte nicht frech sein, aber witzeln musste ich doch.
Meine Mutter reagierte wie erwartet. „Du ungezogener Bengel. Du hast dich gar nicht verändert, bist noch genauso schlimm wie damals, als du Robert mit deinem schrecklichen Weihnachtsgedicht so zugesetzt hast!“
„Ach Mum, du weißt doch, das war nur die Spitze des Eisberges. Die schlimmsten Streiche kennst du gar nicht.“
Rene ereiferte sich. „Nein, Mum. Und erst in Hamburg. Dein Max ist ein ganz böser Finger. In was der mich alles reingezogen hat! Das willst du bestimmt nicht wissen!“
Ich warf Rene einen warnenden Blick zu. „Oh, ich denke, dass sich deine Eltern auch sehr für deine besonderen Ausflüge interessieren würden.“
„Ich hab nichts gesagt. Fahren Sie ruhig nach Hause, Adelheid. Max und ich kommen gut selbst klar und die Schwestern sind auch noch da. Vielleicht können wir mit einem Taxi zum Bahnhof fahren und allein den ICE nach München nehmen. Wir müssen doch nur einmal umsteigen.“
Ich dachte nach. „Wir müssen das Gepäck irgendwie transportieren, doch da kann uns der Taxifahrer gegen ein kleines Trinkgeld helfen und im Zug fragen wir den Schaffner. Auf jeden Fall kannst du zurückfahren, Mum.“
Sie ging zu jedem von uns, küsste ihn auf die Stirn und herzte Rene zärtlich.
„Ob ich nun einen Sohn oder zwei zu betreuen habe, ist egal. Ihr seid beides Lausbuben.“ Sie wuschelte Rene liebevoll übers Haar.
Als sie draußen war, holten wir unsere Handys. Der Telefonmarathon begann. Ich schrieb massenhaft E-Mails. Für Hubertus hatte ich mir etwas Besonderes ausgedacht. Mein Vetter erhielt ein sehr privates Foto und reagierte prompt. „Jungs, hier meldet sich euer Gewissen. Max, das sieht sehr gut aus. Er könnte etwas länger sein, aber er bleibt im Normbereich. Nicht jeder kann einen so langen haben wie ich.“ Ich hatte gottlob nicht vergessen, wie man sich wehrt.
„Danke, für die Blumen. Du weißt, wie schnell man in Amerika in den Knast kommen kann. Da lieben die anderen Häftlinge so lange Teile.“
Hubi kicherte. „Ich freu mich, dass es euch gut geht und ich bin ganz aufgeregt wegen der Reise. Übermorgen geht es los. Zwei ganze Jahre weg von zu Hause. Ihr werdet mir fehlen und das Bootshaus.“
„Du wirst uns auch sehr fehlen, Hubertus. Aber wir mailen einander und simsen. Gottseidank gibt es heute viele Kommunikationsmittel. Unsere kleine Beatrix jammert auch schon übers Internat. Sie ist ein richtiges kleines Ferkel und hat uns beiden angedroht, uns als Domina zu vermöbeln“, erzählte ich. „Oh je, da kommt einiges auf uns zu, wenn sie älter wird. Sie hat schon jetzt viel Power.“
Auf Renes Handy summte es. Conny war dran. Uns erwartete eine Konferenzschaltung.
Er wünschte Hubertus viel Glück in den Staaten. Nach einigem Bitten gaben wir nach und schickten auch ihm ein Foto. Er freute sich und beruhigte uns, wegen der Länge. Alles sah gut aus und lag im Normbereich. In den nächsten Tagen werden immer mehr Drainagen abgenommen und irgendwann kam der große Moment, an dem wir zur selbständig zur Toilette sollten. Hoffentlich klappt alles. Conny grüßte uns von Kurt, Babs und Sina. Auch die Jungs vom Straßenstrich wünschten uns alles Gute. Der Frischgebackene Prinz Rene sah mich an. Whow, wo hatten wir überall Bekanntschaften! Was für ein Kontrast zu unserem bürgerlichen Leben. Hubertus verabschiedete sich. Er musste noch zur Uni. Mein Handy summte, kaum dass er sich aus klinkte. Andy war dran. „Max, Rene, wie geht es euch? Willkommen im Reich der Männer!“ Jacob und Mario grölten im Hintergrund. „Alles Roger, seid ihr im Bootshaus?“ „Ja, habt ihr schon Fotos?“ Rene nickte. „Ich schick euch gleich zwei Stück, aber die sind nur für uns. Dass mir niemand auf die Idee kommt, sie weiter zu geben. Beatrix darf die Fotos nie in die Finger kriegen. Die ist imstande und veröffentlicht uns auf youtube, die kleine Hexe!“ Die drei beschworen sich als Ehrenmänner. Mir war trotzdem nicht wohl bei der Sache. Es dauerte auch eine Weile, bis eine Reaktion kam. Die hörte sich vernichtend an. Andy druckste. „Also, die sind ziemlich kurz, meinen die zwei hier. Ist das alles oder wachsen die noch?“
Renes Augen waren klein geworden. Ungehalten kam er mir mit der Antwort zuvor. „Andy, da kommt im nächsten Jahr eine Pumpe rein und unten hängt uns der Doc zwei dicke große Eier dran. Die werden mindestens zehn Zentimeter länger. Ich schätze alles in Allem auf fünfundzwanzig Zentimeter im Endstadium.“
Das war maßlos übertrieben. Aber irgendwie mussten wir uns wehren. Das schuldeten wir unserem Selbstbewusstsein. Ich pflichtete Rene deshalb bei. „Ja, Andy, wir werden im nächsten Jahr wieder messen. Du kannst dir vorsorglich ein paar Gewichte dranhängen, wenn du mithalten willst“, rief ich frech ins Mikro. Sein Seufzen war deutlich zu hören. Er hatte die Flunkerei tatsächlich geglaubt.
„Der Trainer hat gefragt, wann du wieder Fußballspielen willst, Max“, meldete sich Jacob.
Ich musste passen. „Das wird solange ich in München studiere sicher nichts. Im September fahren wir. Andy geht mit und ich fürchte, die Wildensteiner Mannschaft wird in den nächsten Jahren ohne uns auskommen müssen. Nach dem Studium steigen wir irgendwo bei den alten Herren wieder ein und spielen bis an unser Lebensende für den Verein. Ich werde wieder reiten und das Kampfsporttraining fehlt mir natürlich. Versucht in der Zwischenzeit ein paar Nachwuchsspieler zu finden. Da sind einige Talente in den unteren Klassen, die uns würdig vertreten können“, forderte ich meinen Freund auf.
Andy und ich hinterließen im Fußballverein eine gewaltige Lücke. Normalerweise würden wir jetzt altersmäßig bei den Erwachsenen spielen und unsere erste Bezirksligamannschaft verstärken. Aber das konnten wir von München aus nicht schaffen und ohne gemeinsames Training ging gar nichts. Wir hätten dazu regelmäßig mit unseren Leuten trainieren müssen, um das Zusammenspiel und die Pässe zu üben. Schade, aber leider nicht zu ändern. Ich war mit meinem Muskelaufbau dank der Hormonbehandlung hervorragend in die Mannschaft integriert und konnte mich im Zweikampf gut durchsetzen. Mein Trainer freute sich zwar zum bestandenen Abitur, bedauerte es aber im Gegenzug seinen besten Stürmer zu verlieren. Es ging eben nicht alles auf einmal.
Andy verabschiedete sich aus der Schaltung und Conny musste an die Arbeit. Den Rest des Nachmittags beantworteten Rene und ich unsere Fanpost. Auf meinem Laptop kamen ständig Nachrichten ein. Wenig später meldete sich Beatrix. „Ich hab grad von Hubertus gehört, dass ihr Fotos versendet.“ „Aber nicht für dich, kleine Hexe. Dann können wir gleich nackt auf youtube posieren. Fotos gibt es nur für die Männer und die bleiben in diesem Fall unter sich.“ Sie schimpfte, bettelte, jammerte und zog eine riesen Show ab. Aber ich blieb hart. „Na gut, ich krieg schon, was ich will. Amüsiert euch schön und einen netten Abend wünsch ich euch!“ Schnippisch legte sie auf. Eine Vorahnung konnte ich nicht verhindern. Was führte Trixi im Schilde? Rene schluchzte laut. Kerrin war dran. Er konnte nicht anders und hatte seiner Freundin ein Foto geschickt. Sie meinte, das sehe alles sehr klein aus. Oh je, da musste etwas getan werden. Ich bat Rene um sein Handy.
„Kerrin, hier ist Max. Die Größe ist nicht entscheidend, wobei da im nächsten Jahr noch Eier dran kommen und die Pumpe eingebaut wird. Am Schluss hast du mindestens dreißig Zentimeter pure Freude, glaub mir. So tief kann dir deine Ärztin gar keine Vagina zaubern. Was macht Melli?“ Nein. Himmel, die mussten wir gleich noch anrufen. „Rene, ich hab‘ Melli vergessen. Oh, die ist mir doch glatt in der Aufregung durchgerutscht. Die bringt mich um!“
„Bleib ruhig, Max. Sie ist erst heute Morgen unters Messer gekommen. Vor morgen Nachmittag brauchst du dich nicht bei ihr melden. Ich sag euch am besten Bescheid, denn ich hab einen guten Draht zu ihrer Mutter. Sie ist bei ihr und hat mich vorhin angerufen. Es ist alles gut gelaufen. Sie liegt auf Intensiv. Sag Rene, ich bin nächsten Monat dran. Meine Zusage kam gestern. Ich hoffe, du hast Recht. Dreißig sind nicht zu verachten. Das bespreche ich mal mit der Ärztin. Gut, ihr zwei, ich muss Schluss machen. Bleibt ordentlich. Ich ruf Rene morgen an, dann könnt ihr euch bei Melli melden.“ Wir verabschiedeten uns. Rene sah mich dankbar an.
„Hach, das hast du gut gesagt. Es geht doch nichts über Freunde. Wir sollten zufrieden sein und uns nicht verarschen lassen. Die haben doch alle keine Ahnung und Hubertus liegt weit hinter Martin auf der ewigen Bestenliste.“
Ich klopfte mir wegen meiner Geistesgegenwart selbst auf die Schulter und wurde müde. Rene lehnte sich ebenfalls in die Kissen zurück. Die letzten Tage hatten unsere ganze Kraft gefordert. Wir sollten den Rat vom Doc befolgen und uns ausruhen. Am nächsten Morgen rief Kerrin an. Sie hatte ihren Rene wieder ganz doll lieb. Melanie war noch nicht auf ihrem Zimmer. Wir mussten uns also tatsächlich noch einen Tag länger gedulden. Sie wollte ihr Bescheid sagen, dass es uns gut ging und wir sie bald anrufen würden.
Herr Melcher kam unerwartet zur Kaffeezeit. „Jungs, da sind zwei Herren aus der Berliner Selbsthilfegruppe draußen. Die kennen euch noch nicht, wissen aber, wann unser Chef Leute von eurer Art operiert. Die stehen wohl noch am Anfang und fragen, ob sie euch besuchen dürfen.“
Rene und ich sahen uns kurz an. „Klar, immer rein. Wir nehmen Bier und Gummibärchen!“
Er lachte und öffnete die Tür. „Habt ihr Bier und Gummiteddys dabei?“
Zwei Jungs steckten die Nasen zu uns herein. „Ne, aber Schokolade haben wir mit. Hi, wir sind Julius und Mats. Der Doc hat uns gesagt, dass er wieder im OP war. Er darf aber keine Namen nennen, wegen Arztgeheimnis und so. Deshalb müssen wir selbst anklopfen und fragen, ob wir euch sprechen dürfen. Mats will nächstes Jahr operiert werden, wenn die Krankenkasse mitspielt und ich hab’s grad durch. Mein Termin liegt schon im Oktober.“
Schöne Abwechslung.
„Immer rein in die gute Stube, oder Rene?“, sagte ich. Der grinste. „Nichts dagegen, mal was anderes.“
Die beiden holten sich Stühle und schauten sich interessiert um.
„Wir sind noch untenrum eingepackt, deshalb können wir euch nur etwas zeigen, wenn Herr Melcher kommt und uns trocken legt. Aber wir haben Fotos gemacht. Rene zeigte den beiden sein Handy. „Geil, das ist wahnsinnig. Die sehen super aus. Für mich absolut richtig in der Größe, nicht zu kurz und nicht zu lang. Seit wann seid ihr wieder auf dem Zimmer?“, fragte Julius.
„Du bleibst am OP Tag und noch einen weiteren auf Intensiv. Wenn du die Narkose bekommen hast, wachst du zwischendrin immer mal auf, weißt aber später von nichts. Ich hatte einmal kurz Schmerzen, es kam ein Arzt und spritzte mir etwas. Ihr werdet total verkabelt. Hier ist der Urinbeutel.“ Ich zeigte auf das Gestell an meinem Bett. „Schmerzen haben wir keine, allerdings haben wir jeder so eine Pumpe. Da werden reichliche Medikamente drin sein. Ich fühle mich irgendwie high. So bin ich sonst nicht. Die haben uns also mit Sicherheit unter Drogen gesetzt.“
Ich sah die beiden neugierig an. Sie waren älter als wir. Beiden fehlte allerdings noch der Bartwuchs. Julius sprach schon recht männlich. Die Stimme hörte sich gefestigt an. Er ahnte anscheinend, woran ich dachte.
„Ihr seid noch sehr jung, um die Achtzehn?“
Rene nickte. „Ihr nicht. Das sehe ich. Wir haben noch keinen Kontakt zu erwachsenen Transsexuellen gehabt. Doktor Reimers in Hamburg behandelt lediglich Kinder und Jugendliche. Ich war zwölf Jahre alt, als ich zu ihm kam. Rene vierzehn Jahre. Wir hatten im letzten Jahr ein Transkidtreffen, wo wir uns mit elf Leuten kennenlernten, zwei Jungs und neun Mädels. Der Doc meinte, wenn wir selbst erwachsen wären, könnten wir die Selbsthilfegruppe in Hamburg besuchen. Das wäre sicher interessant für uns“, erzählte ich.
„Ich bin schon fünfundzwanzig und Mats hier, sechsundzwanzig Jahre alt. Ihr habt es besser, weil ihr bereits als Kinder in der gewünschten Rolle auftreten durftet. Bei uns dauerte das Drama länger. Wir müssen uns jetzt die Brüste abnehmen lassen, was eine Operation mehr zu bewältigen bedeutet. Es ist schön, dass es die Frühbehandlung inzwischen gibt.“
Mats nickte. „Ich hab genau wie Julius viel zu spät damit angefangen, Hilfe zu suchen. Aber meine Eltern hörten mir nie zu. Nun bin ich endlich in Therapie und schreibe gerade die Anträge für die Gerichtsgutachten. In der Gruppe erfährt man alles, was man dazu wissen muss.“ Julius gab Rene ein Päckchen, welches mehrere Tafeln Schokolade enthielt. Rene brach gleich eine auf und bot jedem ein Stück an. Lecker, den Geschmack hatte ich vermisst. Ich sagte es den anderen und bedankte mich herzlich.
„Also, das sieht wirklich gut bei euch aus. Ich bin beruhigt. Das gibt Hoffnung. Den Penoidaufbau kriegen inzwischen immer mehr Ärzte in Deutschland hin. Nur die benötigen zu viele Einzelschritte. Wenn dann in einer OP irgendetwas schief läuft, wird dadurch alles weitere blockiert. Andererseits sind zehn Stunden Narkose natürlich eine lange Zeit, die der Körper verkraften muss. Deshalb lehnen die normalen Kliniken die Methode von Dupret ab. Aber für mich ist es besser Augen zu und durch. Danach werden die Pumpe und der Hoden eingebaut und es ist geschafft. Der medizinische Dienst hat mir gestern die Zusage geschickt. Ich hab vor Glück geheult und heute Morgen meinen Termin bei der Sekretärin vom Doc endgültig festgelegt. Bei der Gelegenheit erfuhr ich, dass er gerade zwei Operationen hinter sich hatte“, erzählte Julius und sah sehr optimistisch dabei aus. Mats meinte, dass er sich erst die Brust abnehmen lassen wollte. Er sei zu gut bestückt. In der Zwischenzeit hat der Doc noch mehr Erfahrungen gesammelt und das sei wichtig für den Verlauf und das Ergebnis. Wir konnten ihm nur zustimmen. Die Komplikationsrate war bei Dr. Dupret ausgesprochen gering. Deshalb gaben die gesetzlichen Krankenkassen auch gerne ihr ok. Mehrere Einzeleingriffe kosten zusammengenommen letzten Endes auch sehr viel und man muss den Arbeitsausfall bei den Patienten bedenken. Zudem ist der Doc ein Arzt, der nicht nur durch seine Erfahrung glänzt, sondern mit seiner menschlichen Art Vertrauen aufbaut. „Der Doc ist ein lustiger Typ. Ich möchte nicht wissen, was die im OP alles besprechen. Er spielt gut Golf und erzählt jedem, wie hoch sein Handicap ist, hat uns Herr Melcher berichtet.“ Ich gluckste. Aber ich hatte tatsächlich keine Angst vor dem Eingriff gehabt. Das klang alles so selbstsicher, was uns der Doc erzählte und seine Fotos sahen toll aus. „Es scheint, als ob bei uns alles planmäßig läuft. Irgendwann müssen wir im Stehen pinkeln. Darauf freue ich mich schon wie früher auf den Weihnachtsmann“, meinte ich.
Julius nahm sein Handy und bat um unsere Nummern. Rene sprach über die Zeit bei Herrn Reimers.
„Wir mussten einige Jahre warten. Bei Kindern wird nur die Pubertät unterdrückt. Die Testosteronbehandlung und die OP sollen erst kurz vor oder nach der Volljährigkeit vorgenommen werden. Die Hormone haben wir schon mit Siebzehn bekommen. Du hörst dich nach dem Stimmbruch gut an“, sagte er zu Julius.
„Ja, ich bin ganz stolz. Das klappt nicht bei allen. Vor allem, wenn man nur das Gel nimmt, kann es ziemlich lange dauern. Ich wollte erst die drei Spritzen haben und nach der zweiten fing es schon an. Jetzt reicht mir das Gel. Meine Hormonwerte sind gut. Wie ist das bei dir, Mats? Wolltest du nicht auf Spritze umsteigen?“ Mats, der noch sehr jugendlich wirkte, nickte. „Ich hab grad die zweite Spritze bekommen und hoffe, dass sich die Stimme etwas schneller verändert. Mit dem Gel habe ich gar keine Wirkung erzielt. Mein Endokrinologe sagt, das ist unterschiedlich. Jeder reagiert anders, aber man kann nach Bedarf wechseln.“
Nach einer halben Stunde verabschiedeten sich die beiden. Wir beschlossen in Kontakt zu bleiben. Freunde kann man nie genug haben!
Die nächsten Tage wurden nicht langweilig. Mellis OP war gut verlaufen. Sie freute sich sehr und hatte wie wir, Herrn Reimers schon angerufen. Wir telefonierten ausgiebig mit ihr und wünschten ihr Glück mit Conny. Ihn neckten wir mit der Aussicht ein biederer braver Ehemann zu werden. Warum sollte es ihm besser ergehen als uns? Ihm gefiel es, mit einem Mädchen zusammen zu sein. Er war anscheinend bisexuell und kam nach Kurt. Es war eine schöne Erfahrung. Irgendwie toll. Man hat viel mehr Möglichkeiten in der Partnerwahl, wenn man sich für beide Geschlechter öffnen kann. Die Heteros wissen gar nicht, was ihnen entgeht.
Nach und nach wurden unsere Geräte entfernt, bis der Urinkatheder übrig blieb. Wir hatten zwischendurch noch einmal Besuch von der Selbsthilfegruppe Berlin bekommen. Die beiden Jungs waren bereits sichtlich erwachsen und schon lange durch. Sie erklärten uns, dass wir am Anfang das Pinkeln erst lernen müssten. Der Beckenboden muss trainiert werden. Die Tipps hörten sich nützlich an. Jeder Mensch reagierte verschieden auf die transsexuelle Problematik und musste seinen eigenen Weg mit dem Umgang damit finden. Sie fragten uns nach unserer Krankenkasse. Ich erzählte von meinem Vater und unserem Anwalt. Transsexuelle erleben sich eigentlich nicht als krank und doch muss man für die Kostenübernahme eine Art Krankheit draus machen. Krankenkassen, das erklärt bereits der Name, zahlen die Kosten, um eine Krankheit zu heilen. Da passt es nicht, wenn man erklärt, transsexuell und körperlich gesund zu sein, aber Geld für eine Operation zu fordern, bei der dem gesunden Körper gesunde Organe entnommen werden. Ich empfand mich während meiner Kinderzeit als Missgeburt. Ich war anders als die anderen Kinder. Von der Warte aus muss man den Zustand als regelwidrig ansehen. Und je länger jemand gezwungen ist, im falschen Geschlecht leben zu müssen, umso mehr psychische Schäden stellen sich ein. Die zwei sahen das genauso und verabschiedeten sich mit den besten Wünschen für uns.
Mein derzeitiges Problem war allerdings die lange Bettruhe. Ich stellte mir vor, wie ich wohl drauf sein würde, wenn ich aufstehen durfte. Meine Muskulatur hatte sich viel zu schnell zurückgebildet. Am Ende der Bettwoche kam der große Augenblick. Herr Melcher zog mir mit einem Ruck den Katheder aus der Blase. Ich sollte trinken und bemühte mich redlich, zwei Flaschen Mineralwasser leer zu bekommen. Irgendwann musste ich und klingelte. Wir durften auf keinen Fall allein aufstehen, hatte er gesagt.
Rene blickte mich erwartungsvoll an. „Viel Glück“, meinte er und hatte da wohl an sich selbst gedacht.
Herr Melcher erschien und führte mich vorsichtig zur Toilette. Mein Kreislauf meldete sich wie auf Kommando. Oh, wurde mir schwindelig. Sicherheitshalber aufs Klo setzen. Der Anfang war fies. Es stach und pikste in der Blase. Erst kamen nur ein paar Tropfen. Ich blieb eine halbe Stunde sitzen, bis der Strahl endlich ins Becken lief. Uff, das war vollbracht. Bedauernd sah ich zu Rene, als Herr Melcher mich wieder ins Bett führte. Er hing mir eine Urinflasche dran. Morgen soll Rene aufs Klo, erklärte er. Ich versuchte Rene Mut zu machen. Aber er hatte sich schon selbst ausgemalt, dass es nicht einfach wird, weil ich nicht wiederkam. Sein Misstrauen erwies sich als berechtigt. Das Desaster geschah am späten Vormittag. Renes Katheder wurde herausgezogen. Das tat nicht weh. Herr Melcher war sehr geübt darin. Rene saß danach aufm Klo. Und er saß und saß. Völlig verzweifelt rief er nach Herrn Melcher. Der drehte ihm den Wasserhahn auf, aber nichts half. Am Schluss musste er unverrichteter Dinge wieder ins Bett zurück. Unser Assistenzarzt verschwand und kam nach fünf Minuten mit einem Stapel Wäsche zurück. Ehe Rene protestieren konnte, lag er in eine dicke Windel eingepackt.
„Einfach vergessen, nicht dran denken. Irgendwann wird der Druck zu groß und es läuft von allein“, sagte Herr Melcher. Rene schluckte und machte einen traurigen Eindruck.
„Er braucht seinen Schnuller“, rief ich und flachste. Im nächsten Moment flog mir unsere neue Sportzeitschrift um die Ohren. Gut, auf die hatte ich schon gewartet. Ich grinste gemein. Baby Rene in Windeln, hihi.
„Wehe, du erzählst nur ein Sterbenswörtchen.“ Seine Stimme klang drohend.
„Daran dachte ich gar nicht. Eher an ein schönes Foto. Was meinst du, was Kerrin dazu sagt?“, rief ich munter aus. Ach, nein. Das war nicht witzig und Rene tat mir leid. Er trank weiter brav sein Mineralwasser. Ich spielte an meinem besten Stück, er blickte neidvoll drauf und drehte sich auf den Bauch. Plötzlich kletterte er aus dem Bett, hielt sich am Bettpfosten fest und machte in die Windel. Die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Geschafft“, meinte er triumphierend. „Macht Spaß, ist ein irres Gefühl. Solltest du mal ausprobieren.“ Der Sarkasmus und etwas Häme waren nicht zu überhören.
Als Schwester Tanja kam, mit der wir uns inzwischen duzten und herrlich herum blödeln konnten, erzählte ich ihr, was Rene getan hatte und grinste. Sie sagte nichts, sondern half ihm zur Toilette und wickelte ihn aus. Nachdem sie seine Windeln entsorgt hatte, kam sie mit einem gefährlichen Lächeln an mein Bett, nahm die Urinflasche und leerte sie. Aber sie legte sie nicht wieder zurück. Stattdessen hob sie meine Bettdecke hoch, nahm eine dicke Windel vom Stapel und ehe ich protestieren konnte, war ich verklebt. Eine zweite kam darüber. Sie klatschte mir einmal mit der Hand auf den Schenkel, als ich mich wegdrehen wollte.
„Du wirst gehorchen. Die Nachtschwester gibt dir heute Abend deine Flasche wieder. Rene, du klingelst beim nächsten Mal, dann bringt dich einer von uns zur Toilette. Das hat ja gut geklappt. So, Baby Max, schön brav sein, oder ich sag’s der Mami.“
Rene holte sein Handy raus und fotografierte mich, als sie gegangen war. Er strahlte über beide Backen. „Ich werde dies als Pfand behalten und wenn du mich irgendwann ärgern solltest, weißt du, dass ich ein wunderhübsches Bild von dir habe und es Jenny schicken kann“, meinte er. „Was bist du fies! Das ist Erpressung!“ Es nutzte nichts. Ich überlegte, wie ich an sein Handy kommen konnte. In einen unbeobachteten Moment muss ich es nehmen und das Foto schnell löschen. Hauptsache er überspielt es nicht auf seinen Laptop. Das hatte ich nun von meiner Häme. Nicht auszudenken, wenn Jenny mich zu sehen bekam!
Mum rief an und wollte wissen, wie es mir geht. Ich sagte nichts von der Windel und blickte Rene warnend an. Er nahm das Handy und erzählte, die Schwester wollte uns erst Windeln umlegen, falls wir es nicht bis zur Toilette schafften. Aber wir konnten Entwarnung geben.
Mum lachte. Sie wollte keine Babys mehr, allenfalls Enkelkinder. Ich fand zu meiner alten Form zurück.
„Ach, Mum, wir brauchen etwas Spaß hier. Sonst wird es zu langweilig. Rene ärgert mich den ganzen Tag und er schnarcht so schrecklich!“ Prompt flog ein Handtuch an meine Backe. Rene ereiferte sich.
„Es ist umgekehrt, Mum. Wollen Sie nicht lieber mich als Sohn adoptieren und Max in ein Kinderheim stecken, am besten in ein Geschlossenes für schwer Erziehbare?“
Sie legte auf.
Am Dienstag überraschte uns Doktor Dupret mit der Aussicht auf Entlassung am Freitag. Das war herrlich. Endlich ging es wieder heim. Mich nervte das Krankenhaus inzwischen sehr. Die Freude war riesig und uns anzusehen. Wir begannen gleich alle Klamotten einzupacken.
Renes Mutter hatte sich freigenommen und kam am Donnerstag mit dem Auto angefahren. Sie schlief eine Nacht im nahegelegenen Hotel. Mum und sie hatten sich abgesprochen. Renes Mutter wollte unser bescheidenes Heim sehen und ein paar Tage bei uns Ferien machen. Auf einem Schloss zu wohnen war schon etwas ganz Besonderes, dass sie sich nicht entgehen lassen konnte. Ich ließ sie mit Rene diskret allein. Er konnte sich vor Küssen und Liebkosungen kaum retten und hätte lieber Kerrin dafür in Anspruch genommen. Aber seine Mutter war so froh, ihn gesund in den Armen halten zu dürfen, dass er sich widerwillig fügte.
Am späten Freitagnachmittag kam Wildenstein in Sichtweite. Renes Mutter staunte, genau wie alle anderen, die uns bisher besucht hatten. Rene und ich waren allerdings durch die Reise so müde und fertig, dass wir freiwillig schlafen gehen wollten. Rene bestand darauf, bei mir zu nächtigen. Wir warfen unsere Rucksäcke aufs Sofa. Wie ich mein Zimmer vermisst hatte!
„Ich muss dich doch weiter ärgern können, nebenan macht das keinen Spaß“, meinte Rene, als wir uns setzten. Sein Bett wurde gleich aus dem Gästezimmer zu mir rüber gebracht.
Am nächsten Tag kam Doktor Steiner aufs Schloss. Er wollte wie in den guten alten Zeiten einen Hausbesuch machen, meinte er und untersuchte uns gründlich. Die Verbände an unseren Armen wurden gewechselt und er gab uns den Rat, später eine Tennismanschette darum zu binden, damit die Wunde nach der Heilung geschützt blieb. Das Gehen fiel mir noch ziemlich schwer. Ich dachte, mein Unterleib würde auseinander brechen. „Das ist doch klar. Ein so großer Eingriff kann nicht im Nullkommanichts an dir vorübergehen. Jetzt ist Schonung für euch angesagt, meine Herren. Ich lasse euch noch einige Schmerztabletten da und wenn alles okay ist, sehen wir uns übermorgen bei mir unten in der Praxis zur Spritze und zum Verbandswechsel.“
„Und wann kann ich wieder Sport treiben und reiten?“, fragte ich.
„Oh je.“ Mein langjähriger Hausarzt seufzte laut auf. „Ich hatte dir doch gerade alles erklärt. Max, hast du Alzheimer? Du merkst doch selbst, wie du drauf bist. Frühestens in drei Monaten kannst du langsam mit dem Training anfangen.“
Ach, da bin ich gerade wieder fit, wenn die Pumpe eingesetzt wird und die Sache geht von vorne los. Ich sparte mir das Gejammer. Die Gesundheit ging vor.
München
Im Laufe des Tages kamen ständig Freunde zu uns. Fürs Bootshaus reichte unsere Kraft noch nicht aus, deshalb trafen wir uns auf meinem Zimmer. Eigentlich waren es drei Räume. Wir hatten zwei Wände herausgenommen und so besaß ich ein Schlafzimmer mit Couchgarnitur und neben meiner eigenen kleinen Bibliothek ein Arbeitszimmer mit Schreibtisch, PC und Sitzgelegenheit für Besucher. Den Rest des großen Zimmers hatte ich mir als Wohnraum gestaltet und in eine Nische eine kleine Pantryküche eingebaut. Nur zwei Herdplatten und eine Mikrowelle, damit ich mir kleine Gerichte aufwärmen konnte. Mein großer Fernseher war mit einer Stereoanlage und gewaltigen Lautsprechern ausgestattet worden, so dass sich meine Eltern ein einziges Mal beschweren mussten und mir zukünftig lediglich Zimmerlautstärke genehmigten, selbst wenn Besuch da war. Eine überdimensionale Kuschelschlafcouch komplettierte mein ‚kleines‘ Reich, das man gerne so nennen durfte und bei allen meinen Freunden seinesgleichen suchte. Nun, so etwas war nur auf einem Schloss möglich, wo die entsprechenden Räumlichkeiten zur Verfügung standen.
Jacob, Mario und Andy waren mein bescheidenes Heim gewohnt und lümmelten sich mit Rene auf dem Sofa. Ich hatte Techno aufgelegt, wohlweislich darauf achtend, dass die Lautstärke im Erträglichen blieb, was bei dieser Musikrichtung naturgemäß schwierig war. Cola und Bier standen reichlich auf und neben dem Tisch. Rene und ich mussten mit Alkohol etwas aufpassen, weil wir noch Antibiotika schluckten. Naschis und Kartoffelchips hatten meine Besucher mitgebracht. Es war also urgemütlich bei mir, zumal es draußen anfing zu regnen.
Carsten streckte den Kopf zur Tür herein. „Hallo, ich wollte die neuen Männer begrüßen!“, rief er uns lachend zu. Ich zeigte auf den gefüllten Tisch. Er schüttelte den Kopf.
„Nur ein Bier bitte, Glas brauche ich nicht. Bin Flaschenkind. So, dann ist alles okay mit euch zweien?“
Rene grinste. „Alles paletti. Ich verabschiede mich nächste Woche nach Hamburg. Am 30. August haben wir dort einen Termin bei unserem Doc. Der wird Augen machen. Und am 10. September geht’s los mit der Uni.“
„Oh, hat es mit Jura geklappt?“, fragte er
Rene senkte traurig das Gesicht. Ich antwortete für ihn.
„Er hat den Schnitt nicht ganz geschafft. Aber er studiert nun BWL und wenn er damit fertig ist, darf er Jura hintendran hängen.“
„Ja, meine Eltern haben grünes Licht gegeben. Solange ich nicht Kneipenwirtschaft studiere, geht alles klar. Sie freuen sich, einen fleißigen Sohn zu haben“, meinte Rene.
„Davon können unsere alten Herrschaften nur träumen. Aber Jacob will nun doch in die Fußstapfen unseres Vaters treten und Forstwirtschaft studieren“, berichtete Mario, der im nächsten Jahr Abitur machen sollte.
Ich horchte auf. „Jacob, doch nicht etwa in München? Hast du schon eine WG?“
Meine Augen suchten Andy. Dessen weiteten sich bereits hocherfreut. Seine Phantasie begann umgehend zu arbeiten.
„Wir haben drei Zimmer, herrliche Unilage, zentrumsnah, Kneipen gleich nebenan und vor allem, die Wohnung ist vom Feinsten! Zur Anlage gehört ein Schwimmbad mit Sauna, das wir mitbenutzen können, eine super Dachterrasse für Partys und es sind nur junge Leute im Haus. Ich brauch nichts zu bezahlen, außer Strom und eine Umlage für die Nebenkosten. Dafür sorge ich für Getränke, haben wir abgemacht“, erzählte er freudestrahlend und nahm sich demonstrativ die nächste Flasche von unserem leckeren Hausbier. Die Stimmung wurde nahezu euphorisch.
„Du, das wäre geil. Dein Zimmer ist nicht ganz das Größte, aber Bett, Schreibtisch und PC mitsamt Schrank, passen gut rein. Das Bad ist riesig, mit Regendusche und Whirlpool. Onkel Ludwig hatte sich für Hubertus ein standesgemäßes Luxusapartment gekauft und nun haben sich mein Vater und Maurice eingeklinkt. Wenn ich fertig bin, kommt Beatrix. Ich muss zwei Abschlüsse hinlegen. Beatrix wird vorher für eine Weile nach Paris gehen, aber das Hauptstudium macht sie hier.“ Das waren wirklich tolle Aussichten. Am liebsten hätte ich natürlich auch Rene bei mir gehabt, aber Jacob und Andy würden mich etwas über ihn hinwegtrösten.
Jacob strahlte. „Also, wenn das geht, wäre das Spitze. Mein Vater zahlt bestimmt etwas zu und ich kann für die Mädels sorgen. Wir brauchen Leute zum Aufräumen und Saubermachen. Aber das krieg ich geregelt. Man darf nur nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Wenn man sich dumm genug anstellt, nehmen die Mädchen von selbst die Putzeimer in die Hand. Vielleicht bekochen sie uns. Ich organisiere obendrein die Partys. Das wird eine Gaudi!“
„Ich spreche nachher mit meinem Vater. Er wird sich sicher auch mit deinem unterhalten. Die beiden verbindet ohnehin ziemlich viel Blödsinn“, meinte ich.
Mario grinste. „Blödsinn ist wohl nicht ganz der richtige Ausdruck dafür. Die zwei hatten nämlich was miteinander. Als unser Alter unsere Mutter kennenlernte, war spontan alles vorbei. Es gab deswegen gewaltigen Knatsch, aber dein Opa hat ein Machtwort gesprochen und Vater nach Abschluss des Studiums als Förster eingestellt. Jetzt sind die beiden wieder beste Freunde. Nur Freunde!“
Ich staunte und freute mich über die Bestätigung dessen, was ich ohnehin schon ahnte. Aha. Da kam also langsam aber sicher scheibchenweise die Wahrheit ans Licht. Um halb sechs Uhr kam Dad zu uns.
„Guten Abend, die Herren. Große Runde, gutes Bier?“, rief er aus und klopfte auf den Tisch. Rene und Jacob antworteten nahezu aus einem Mund.
„Sehr gutes Bier, Herr Graf. Echtes Wildensteiner Pils. Gibt es nur hier im Original. Möchten Sie eines?“
„Da der Kasten aus meiner Fabrik stammt und mit Sicherheit von meinem Sohn nicht bezahlt wurde, sehr gern!“ Andy reichte ihm eine Flasche.
„So, ihr seid also die Raubritterschar, die meinem Max nun Gefolgschaft leistet? Auf die Ritter von Burg Wildenstein, Saufgelage, Orgien und was Jungen sonst noch einfällt! Ich denke, die Herren Max, Andy und Rene haben sich bei Conny ausgetobt und sind jetzt bereit an ihre berufliche Zukunft zu denken. Erfahrungen, auch auf pikanten Gebieten, machen nicht dümmer und sind oft im späteren Leben nützlich. Es ist genau wie beim Alkohol und bei den Frauen: Man muss rechtzeitig aufhören können. In dem Sinne, Prost!“
„Danke, Dad. Du bist der beste Freund, den ich habe. Weiß Mum etwas, was sie besser nicht wissen sollte?“
Mein Vater wischte sich spontan eine kleine Träne aus dem Auge.
„Junge, das war das schönste Kompliment, das du mir machen konntest. Der beste Freund seines Sohnes zu sein, ist wohl das Ziel aller Väter. Viele erreichen es nie. Und wenn deine Mutter etwas weiß, wird sie es dir bestimmt nicht sagen. Sie wird dich allenfalls spüren lassen, was sie davon hält. Wobei sie andere Methoden anwendet und ihre derzeitige Waffe trägt sogar einen Namen: Jenny! Was ich unterstreiche. Das Mädel ist nicht nur ausgesprochen hübsch, sondern passt in allen Bereichen zu uns. Ich habe ihre Eltern Georg und Amalia kennengelernt. Es sind wunderbare Menschen, die genau wie wir davon ausgehen, dass ihr zwei das neue künftige Grafenpaar Wildenstein werdet. Jenny ist übrigens nicht von gestern. Sie ist dir möglicherweise auf bestimmten Gebieten weit überlegen, aber sie ist eine Dame, genau wie deine Mutter.“
Ich schwieg beruhigt. „Ich werde euch keinen Kummer machen, Dad. Versprochen. Wusstest du, dass Jacob in München Forstwirtschaft studieren wird? Wir haben eben beschlossen, dass er eigentlich bei uns in der WG wohnen kann. Das dritte Zimmer ist frei und sein Vater steuert sicher etwas dazu. Jacob kennt sich gut mit Mädchen aus und wird uns eine große Hilfe sein.“
„Daran zweifle ich nicht. Jacobs Ruf eilt ihm in dieser Hinsicht hier schon voraus. Aber kann ich erwarten, dass ihr irgendwann in der Uni an den Vorlesungen teilnehmt? BWL gehört zwar zu den Wirtschaftswissenschaften, doch die Kneipen sind damit nicht gemeint.“
Wir drei sahen uns an und lächelten siegessicher.
„Aber immer Dad, wir werden alle pünktlich unsere Scheine machen und ich kann auf diese Weise sehen, was ich beim Forsten lernen muss. Wann sollen wir eigentlich mit dem Jägerlehrgang beginnen? Die Prüfung ist nicht ohne“, erklärte ich.
„Ich kümmere mich drum. Hartmut kann euch unterrichten und ich besorge die Lehrbücher. Ich spreche nachher sowieso mit ihm. Gut, Jacob, du wirst sozusagen der dritte Skatbruder im Bunde. Sorgt dafür, dass die Wohnung in einem Topzustand bleibt und Mutter mal eine Nacht bei euch schlafen kann, wenn sie etwas in München vorhat.“
Er blieb ein paar Minuten und verabschiedete sich zufrieden von uns. Auch die anderen mussten langsam gehen. Mein Leben verlief perfekt organisiert, fiel mir ein. Ich ging zur Toilette, stellte mich wie selbstverständlich ans Becken und nahm meinen kleinen Freund zärtlich in die Hand. Er enttäuschte mich auf diesem Gebiet nicht mehr. Mann, was war ich glücklich! Konnte das alles wahr sein? Ich kniff mir in die Wange. Autsch, ja, ich lebte in der Realität.
Die nächsten Wochen vergingen ohne besondere Vorkommnisse. Rene war schon lange nach Hause gefahren und mailte fleißig. Am 30. August flog ich nach Hamburg, wo ich den Doc herzlich begrüßte. Wir unterhielten uns fast eine Stunde miteinander und tranken Tee dabei. Er schaute sich begeistert das Operationsergebnis an. Rene kam dazu.
„Rene, schön, dass du da bist. Komm gleich herein. Ich wollte euch zwei fragen, ob ihr Lust habt, zum Transkidtreffen im November zu kommen. Wir werden sicher wieder um die zehn Leute sein. Natürlich nur, wenn ihr das wollt.“
Was für eine Frage! Es war ein schöner Gedanke, anderen helfen zu können. Wir hatten mit Doc Reimers großes Glück gehabt. Mein Vater nannte es einmal, ‚einen goldenen Apfel‘ erhalten, wenn man in guter materieller und menschlicher Absicherung aufwachsen darf. Dieses Geschenk sollte man zurückgeben, indem man denjenigen half, die es nicht so gut getroffen hatten. Auf dieser Sichtweise basierte philanthropisches Verhalten. Eine ähnliche Bedeutung konnte man dem Ausdruck: ‚Adel verpflichtet‘ zuschreiben.
Nach dem Arzttermin fuhren wir zwei zur Reeperbahn. Als völlig normale Jungs. Was für ein Gefühl! Rene steuerte auf seinen Lieblingssexshop zu. Neue Klamotten konnten nicht schaden. Eigentlich waren sie zur Feier des Tages als Belohnung nicht nur erlaubt, sondern Pflicht. Ich erstand ein paar geile Unterhosen, die kaum Stoff besaßen und hinten alle Freuden offen ließen. Ein schwarzes Satin-T-Shirt und eine schwarze Jeans fanden ihren neuen Besitzer. Wie Rene zog ich mich gleich im Laden um. Zielstrebig spazierten wir bei herrlichstem Sommerwetter zu Conny. Wir lagen uns in den Armen und konnten uns nicht voneinander lösen.
„Lasst uns euer neues Leben gebührend feiern!“, rief er fröhlich. Er hatte mir gefehlt. Der Dönerladen kam uns zum Essen gerade recht. „Ihr seht beide gut aus“, meinte Conny, nachdem wir bestellt hatten und mit unserem Bier draußen auf der Terrasse saßen. Er überraschte uns mit der Neuigkeit, wieder in die Schule gehen zu wollen. Sein Unterricht war in der siebenten Klasse abgebrochen und Kurt wünschte sich, dass sein Sohn wenigstens die Hauptschule beendete. Rene bot sich sofort an, Conny beim Lernen zu unterstützen. Die Dankbarkeit stand diesem ins Gesicht geschrieben. „Das wird nicht so leicht für mich. Ich komme auf ein Tageskolleg, aber ich hab keine Ahnung mehr. Es fängt im Grunde wieder in der ersten Klasse an.“ Ich versuchte ihn zu beruhigen. „Den anderen geht es genauso. Du bist nicht allein in der Gruppe und wenn du einen Abschluss hast, kannst du auch einen Beruf lernen.“ Conny nahm meine Hand. Rene blickte verwundert zu uns und begann zu schmunzeln. „Aha“, meinte er. „Was heißt hier, aha?“, fragte ich. „Nun, wenn ich das richtig verstehe, bist du mit Jenny sozusagen verlobt und hast gegen einen Flirt mit einem Vertreter des männlichen Geschlechts ebenfalls nichts einzuwenden, oder sehe ich das falsch?“ Ich senkte den Blick. Conny antwortete für mich. „Ich bin schuld, ich hab Max ganz zu Anfang als wir uns kennenlernten verführt.“ Rene schüttelte den Kopf. „Ich hab noch einen Termin an der Uni und muss ohnehin nach dem Essen weg. Dann könnt ihr zu Conny gehen und eurer Lust frönen!“ Ich begann zu zittern. Bisher hatte mich Conny nur geküsst und wir hielten uns an den Händen. An mehr dachten wir nicht. Der Gedanke mit ihm im Bett zu liegen löste Phantasie und Erregung in mir aus. Conny schien etwas zu spüren. „Danke, Rene“, antwortete er und sein Minenspiel zeigte Erleichterung. „Ich mag Max sehr gerne und ich bin bi. Meine schwule Seite lässt sich nicht unterdrücken.“
In meinem Bauch begannen derweil die berühmten Schmetterlinge herumzuflattern. Wie wird es mit einem Freund sein? Ich hatte noch keine sexuellen Erfahrungen gesammelt. Wie auch! Als Junge konnte ich es aufgrund meines weiblichen Körpers nicht zulassen. Andy hatte es einmal versucht, als wir uns küssten. Doch das künstliche Glied in meiner Hose verhinderte eine Erektion bei ihm. So blieb es bei Zärtlichkeiten, die die Gürtellinie nicht unterschritten. Während des Essens schwirrten Gedanken durch meinen Kopf. Emotionales und Sachliches vermischten sich. Wir brauchten Gleitcreme und Kondome. War Conny gesund? Er war schließlich auf den Strich gegangen und hatte mit vielen Männern geschlafen. Ich sah ihn von der Seite an, während mein Döner, den ich in diesen bedeutungsvollen Momenten gar nicht so würdigen konnte, in meinem Mund verschwand. „Wir besprechen alles in meiner Wohnung. Hab keine Angst, ich bin sehr vorsichtig“, entgegnete er leise. Rene spitzte die Ohren. „Ich erwarte später einen detaillierten Bericht.“ Die Situation schickte sich an, grotesk zu werden. Das erste Mal lag vor mir. Mit meinen achtzehn Jahren war ich dafür ziemlich spät dran. Aber dennoch, die Gefühle und Erwartungen änderten sich deshalb nicht. Rene verabschiedete sich nach dem Essen und drückte mich. „Ich wünsche dir alles Gute.“ Er wandte sich an Conny und grinste. „Mach ihn glücklich, sonst bekommst du Ärger mit mir!“ Conny lachte. Hand in Hand verließen wir den Döner.
Mit Herzklopfen betrat ich wenig später seine Wohnung. Er nahm mich zärtlich in die Arme und ließ seine Hand vorsichtig über meinen Po streichen. In mir begannen die Nerven zu vibrieren. Ich spürte, wie meine Klitoris anschwoll und sich die Erregung immer mehr steigerte. Conny führte mich zielstrebig ins Schlafzimmer, zog mir das T-Shirt aus und öffnete meine Hose. Liebkosend strich seine Hand über mein Glied. Ängstlich nahm ich die meine und versuchte es ihm gleichzutun, indem ich seinen Hosenlatz berührte. Dabei erlebte ich die starke Kraft, die von ihm dort aus ging. Wir zogen uns komplett aus. Conny küsste und streichelte mich und ich tat dasselbe bei ihm. „Lass uns zusammen duschen“, raunte er mir zu. Ich folgte ihm, ließ mich sanft mit Duschgel einreiben und fühlte, wie das warme Wasser an meinem Körper herunter rann. Das Gel duftete herrlich. Conny kniete vor mir und rieb meine Klitoris, die sich unter der Haut am Gliedschaft befand, intensiv mit dem Finger. Als das Wasser von unserer Haut perlte, drehte er die Dusche ab und nahm ein großes schwarzes Handtuch. Wir wickelten uns beide darin ein und spürten nichts als Erregung und den Wunsch, mit dem anderen zu einer einzigen Einheit zu verschmelzen. Conny gab mir im Schlafzimmer ein Kondom und zeigte mir, wie ich es über ihn ziehen sollte. Minuten wurden zu Stunden. Gefühlt und tatsächlich. Ich schwelgte in Glückseligkeit. Es war das erste Mal, das allererste Mal und ich durfte als Junge mit einem Jungen schlafen. Voller Vertrauen überließ ich Conny die Führung. Er enttäuschte mich nicht. Seine Erfahrung und sein Wissen um die männliche Liebe sorgten für das schönste Erlebnis in meinem Leben. Zwischendurch stand er auf, holte Sekt und zwei Gläser. Das zögerte den Höhepunkt hinaus, die Erregung steigerte sich bis in meinen Kopf, der gleich zerspringen wollte. Der kalte Sekt brachte mich wieder etwas herunter, aber nur um im nächsten Moment noch stärker zu werden und ich begann das Spiel zu genießen. Die Lust erhöhte sich bis kurz vor den Ausbruch, um abzubrechen, eine gewisse Enttäuschung zu erzeugen und sich mit noch stärkerer Heftigkeit zurückzumelden. Zwei bis dreimal konnten wir uns zurückhalten. Zeit spielte keine Rolle, wir ließen uns treiben. Verstand und klares Denken gab es nicht mehr. Nur noch Trieb und Instinkt, so wie es dem Menschen von der Evolution mit auf den Weg gegeben wurde. Irgendwann entlud sich der Vulkan. Es musste geschehen, das Magma in unseren Lenden war nicht aufzuhalten. Verschwitzt und zitternd lag ich auf dem Bauch, genoss das Abklingen und stellte mir vor, wie ein pyroplastischer Strom den Berghang herunter sauste um mich am Ende zu verschlingen und ins Meer zu ziehen. Mein Partner atmete tief und schwer. Er drehte sich zu mir um. Ich sah sein erigiertes Glied im durchsichtigen Kondom. Eine weiße Flüssigkeit füllte die kleine Beule an der Spitze aus. „Alles gut?“, fragte er. Ich nickte. Meine Hand streichelte dankbar über seine Wange. „Es war wunderschön. Ich werde das nie vergessen. Nun weiß ich, warum sich Frauen ein Leben lang an ihr erstes Mal erinnern. Ich habe so lange auf diesen Moment warten müssen. Ich fühle mich erst jetzt richtig als Mann. Obwohl, da ist noch etwas anderes, dass ich nicht beschreiben kann.“ Conny lächelte. Er nahm die Sektflasche und schenkte mir ein. „Prost, Max. Du bist etwas ganz Besonderes. Was du empfindest, können normale Männer wie ich nicht wahrnehmen. Die Schwellkörper lassen das nicht zu. Du empfängst deine Höhepunkte aus einem Organ, das nur Frauen besitzen. Und ich habe zusätzlich deinen G- Punkt gefunden und massiert. Deine Lust ist intensiver und sie hält viel länger, sofern ein Mann damit richtig umzugehen weiß. Leider können die meisten Männer zu wenig und die Frauen erleben ihre wahren Fähigkeiten nie. Wenn lesbische Frauen mit einer Partnerin zusammen waren, die sich mit den Geheimnissen des weiblichen Körpers auskennt, dulden sie nie wieder einen Mann in ihrer Nähe.“ Ich verstand, was mir mein Freund sagen wollte. In einem halben Jahr werde ich mein Glied durch eine Pumpe zum Stehen bringen können. Jennys Bild tauchte vor meinem inneren Auge auf. Ich fragte Conny danach. „Wir werden damit üben und du darfst bei mir oben liegen. Die richtige Massage kann man lernen. Du musst dich konzentrieren und nur sie vor deinen Augen haben. Dein Orgasmus wird am Schluss wie der eines Mannes sein. Kurz und schmerzlos. Vielleicht schaffst du es mit mehr Erfahrung auch zusammen mit ihr, es für dich hinauszuzögern. Du bereitest ihr dadurch größere Befriedigung. Aber sie ist die Hauptperson, nicht du. Ich hab das mit Melli noch vor mir. Doch ich freue mich darauf, das erste Mal mit ihr zu schlafen, weil ihr Körper jetzt komplett der einer Frau ist.“ Wir sahen uns verliebt an. Himmel, war das herrlich gewesen. Ich schwebte. „Wollen wir uns mit Rene in der Bar treffen?“, fragte Conny und durchbrach damit meine Gedankenwelt. „Hm, ich sims ihm“, meinte ich glücklich. „Es ist vollbracht. Du weißt nicht, was dir als Hetero entgeht! Wir treffen uns in der Bar.“ Smily. Mein Handy summte. „Den genauen Bericht in doppelter Ausfertigung! Bis nachher, so gegen 21 Uhr.“ Conny warf einen Blick auf das Display. „Das kriegen wir hin“, meinte er lächelnd.
Rene kam pünktlich wie die Maurer zu uns in Kurts Bar. Er blickte mich von oben bis unten an. „Für mich ein Bier und ich höre“, sagte er zu uns gewandt. Conny schmunzelte leicht, während er den Kopf schüttelte. „Der Kavalier genießt und schweigt. Und ich habe es genossen. Schade, dass ich bei dir nicht landen kann!“ „Halt, ich dachte, du liebst nur mich?“, rief ich gespielt erbost aus. Conny blieb cool. Ihn konnte so leicht nichts erschüttern. „Das tue ich doch auch. Aber Rene wäre eine interessante Abwechslung.“ Rene wehrte ab. „Ne, ne. Ich will mit Kerlen nichts zu tun haben. War es denn schön?“ Ich nickte. Wir frotzelten weiter und merkten nicht, dass wir beobachtet wurden. Die Bar war zwar noch nicht offiziell geöffnet und das Tanzprogramm begann erst gegen 23 Uhr. Wer etwas zu trinken wollte, konnte aber jederzeit wie in eine Kneipe eintreten. Zwei junge Männer saßen in einer Nische, tranken Bier und blickten immer wieder zu uns. Rene drehte sich plötzlich um und erstarrte. „Was ist?“, fragte ich. „Die beiden sind von meiner Schule. Wir haben zusammen Abi gemacht“, erzählte er. „Und was ist so schlimm daran?“ „Eigentlich nichts.“ Conny vertrat Kurt in dessen Abwesenheit und kehrte gerne den Wirt heraus. Er ging zu den beiden und lud sie an die Bar ein. „Hallo, vielen Dank. Wir überlegten schon, ob du das bist, Renate. Obwohl du dich ja Rene nennst. Bist du schon operiert?“ Rene atmete aus. Renate! Jetzt wusste ich Bescheid. Stopp. Ich darf mir nichts anmerken lassen, schoss es durch meinen Kopf. „Ja, bin ich“, knurrte er. „Darf ich vorstellen: Claudius und Lennart. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Ihr wart eigentlich meine Freunde. Warum musstest du meinen Mädchennamen verraten, Claudi?“ Der hochgewachsene blonde Junge fühlte sich anscheinend ertappt und wich zurück. „Oh, sorry, ich hab ganz vergessen, dass du den Namen nicht so gerne hörst. Aber ich kenne dich seit der Grundschulzeit. Und später waren wir zwar auf derselben Penne aber in unterschiedlichen Klassen, so dass wir wenig Kontakt hatten. Entschuldige, ist mir rausgerutscht und kommt nicht wieder vor. Ich geb die nächste Runde aus.“ Rene schien mit der Antwort zufrieden zu sein. Wir unterhielten uns noch eine Weile mit ihnen und erfuhren, dass sie in Flensburg Schiffsbetriebstechnik studieren wollten. Sie erzählten von Fernweh und den vielen tollen Reisen, die sie als Seeleute unternehmen werden. Mein Studium begann Mitte September. In München war natürlich viel los, aber dennoch, Reisen in fremde Länder waren nicht zu verachten. Auf dem Heimweg neckte ich Rene mit seinem Mädchennamen, den er natürlich nach der Vornamenänderung nicht mehr führte. Er sprach mich dafür in der S-Bahn mit Prinzessin an.
Zuhause bereiteten Andy, Jacob und ich uns auf den Studienbeginn vor. Wir mussten Koffer packen und Bücher sortieren. Lisa hatte genau wie Jacobs Mutter eine riesige Fresskiste zusammengestellt. Es sollte uns an nichts fehlen und das Schlimmste, was jungen Menschen in der Entwicklung passieren konnte, war, nicht genug zu essen zu bekommen, meinte die alte Lisa weise. Verhungern und verdursten würden wir sicher nicht. Vater hatte ein paar Kisten Bier spendiert, damit wir unsere Einweihungsparty zünftig feiern konnten. Wir sollten an unsere neuen Kommilitonen denken. Freunde waren sehr wichtig und bei Männern wurde dies durch die Bierfrage gelöst. Als Raubritter wusste mein Dad Bescheid.
Beatrix und Hubertus schrieben Mails und wünschten uns Glück. Hubertus hatte sich in Philadelphia bereits gut eingelebt und träumte sogar auf Englisch. Einzig die Freundschaft zu uns stand noch zwischen seiner Rückkehr und einem neuen Leben in den Staaten, erklärte er und schickte massenhaft Fotos. Beatrix meldete sich rundum zufrieden aus ihrem Internat in Bordeaux. Die Nonnen waren allesamt sehr nett und Keuschheitsgürtel gab es keine, stellte sie fest. In ihrer Klasse war sie die mit Abstand versauteste. Und dann passierte etwas, was mir ernsthafte Bauchschmerzen bereitete. Meine dreizehnjährige Cousine schickte mir zwei Fotos, pikante Fotos, denn sie zeigten Rene und mich an einer Stelle, die wir nicht gerne öffentlich machen wollten. Sie hatte Renes Bild von der ahnungslosen Kerrin erhalten und Jenny hatte es sich nicht nehmen lassen das Foto, das ich nur ihr im Vertrauen übermittelt hatte, mit ihrer künftigen Schwägercousine zu teilen. Die Frauen hielten zusammen. Unsere kleine Maus beschwichtigte uns sogleich. Sie wollte die Fotos für sich behalten. „Ihr braucht keine Sorge zu haben. Niemand erfährt etwas, vielleicht nur meine Freundinnen hier, aber ich stelle solche netten Fotos natürlich niemals auf youtube.“ Das klang nicht gut. Trixi führte etwas im Schilde. „Was willst du?“, fragte ich ohne Umschweife und wurde in meinen Vermutungen bestätigt. „Du wirst mir bei den Matheaufgaben helfen, liebster Cousin, mehr sage ich dazu nicht. Und du brauchst auch Hubertus nicht auf mich anzusetzen. Ich weiß, was sich für eine Comtesse gehört“, flötete sie mir ins Ohr. Ich musste nachgeben. Auf die Frage, ob sie weiß, was Erpressung ist, lachte sie. Trotzdem erzählte ich Hubertus davon. Er meinte, das Übel wäre auszuhalten. Wir sehen uns irgendwann zuhause auf Wildenstein und dann könnte man sich mit der Kleinen auseinandersetzen. Ihm fällt schon eine Strafe ein. Er wünschte mir Glück in München. Ich erhielt eine Liste von Lokalen und die Namen von Leuten, die sich auf dem Campus dort gut auskannten.
Am achten September fuhren drei Familien und ein Pferdetransporter mit Gepäck und Bierkästen nach München. Unsere Mütter richteten uns ein, wir Männer setzten uns zusammen mit dem Bier zünftig auf die Dachterrasse. Ich musste Jenny per Skype durch die Wohnung führen. Sie wollte genau wissen, wo ich schlief und wie es bei uns aussah. Gottseidank verschwand unser Anhang am späten Abend. Wir drei lagen ausgepowert im Bett. Ich musste am nächsten Tag zu meinem neuen Hausarzt, den mir Doktor Steiner vermittelte. Ich brauchte noch regelmäßig meine Spritze. Jacob und Andy begleiteten mich und stellten sich für Notfälle gleich mit vor. Man wusste ja nie, ob man vor einer Klausur nicht plötzlich krank wurde…
Danach nahmen wir unsere Uni unter die Lupe. Ich hatte meine Fakultät und die Vorlesungsräume im Studentenführer schnell gefunden. Es gab noch einiges im Sekretariat für uns zu erledigen. Die Mensa sowie die Sportstätten mussten zudem einer eingehenden Inspektion unterzogen werden. Zwischendurch kamen wir immer wieder mit anderen Neuen ins Gespräch, die genauso verwirrt über das riesige Gelände liefen wie wir. Die ersten Freundschaften und Bekanntschaften wurden geschlossen. Wir waren in einer doch sehr exklusiven Wohngegend untergebracht. Die meisten mussten sich erheblich bescheidener begnügen.
Am Abend begannen wir mit einigen der Jungs und Mädels unseren ersten Kneipenbummel zu machen. Zwei Bier und es hieß stets LKW: Lokalwechsel. Nur so konnten wir die vielen Wirtschaften in einer angemessenen Zeit kennenlernen. Die meisten der Jungs erwiesen sich als heterosexuell. Andy zeigte mir im Internetführer eine Kneipe, die uns beide brennend interessierte, denn dort sollten sich schwule Studenten treffen. Jacob blieb mit seiner neuen Flamme zurück. Sie hieß Maja, war Neunzehn und sah hinreißend aus. Für Jacob genau das Richtige. Außerdem studierte sie Forstwirtschaft wie er, und das war bei den Mädchen nicht ganz so häufig. Das Fach wurde eher von Männern belegt. Majas Papa arbeitete als Förster in Oberbayern und diente ihr als Vorbild. Na bravo, die zwei hatten sich also gesucht und gefunden und Jacob war bereits am zweiten Tag in München unter der Haube.
Andy und ich verabschiedeten uns von den beiden Liebenden und machten uns auf die Suche nach der Schwulenkneipe. Dank unserer Handynavis wurden wir schnell fündig. Die Bar lag etwas abseits, war aber trotzdem von unserer Wohnung in einer halben Stunde zu Fuß erreichbar. Es fuhren zwar Busse, die wir allerdings noch erkunden mussten. Durstig wie immer, traten wir ein. Am Donnerstagabend war naturgemäß in allen Kneipen wenig los. Wir setzten uns an die Bar und bestellten zwei Wildensteiner. Einen Moment später stand das Gewünschte auf dem Tisch. Andy lächelte mich an. Ja, ich dachte genau dasselbe. Wir waren zu Hause! Die Wirtschaft sah nicht nach dem aus, was wir eigentlich zu finden gedachten. Eine ganz normale Einrichtung im bayerischen Stil empfing meine Augen, die mit wachem und interessiertem Blick umherschweiften.
„Sucht ihr etwas?“, fragte der Wirt, ein leicht bebauchter Mittvierziger, dezent seine schwule Ausrichtung kaschierend. Für uns brauchte er das nicht, wir hatten ihn eh durchschaut.
„Wir sind hier eine etwas andere Kneipe. Das Publikum ist nicht das, was ihr vielleicht kennt. Seid ihr Studenten?“ Oh, der ging aber ‘ran.
Ich nickte. „Ja, wir haben unsere Uni gerade in Beschlag und Augenschein genommen und schauen uns jetzt nach Feierabendaktivitäten um. Mein Kumpel hier“, ich zeigte auf Andy, der zufrieden an seinem Bier süffelte, „hat gezielt nach dieser Lokalität gesucht. Aber es ist wohl heute noch nicht viel los bei euch.“
Er drehte sich um, nahm eine Flasche Korn und schenkte drei Gläser voll. Zwei standen flugs vor uns. „Prost, Jungs, ich bin Alois und begrüße euch in München!“
„Danke, was für ein Service! Wir kommen aus Wildenstein, daher die Biersorte. Max hier, ist Miteigentümer der Schnapsfabrik und der Bierbrauerei“, lachte Andy.
Publicity konnte nicht schaden. Alois schlug die Hände überm Kopf zusammen. Im nächsten Augenblick stand Wildensteiner Korn mit dem gräflichen Wappen auf dem Tresen.
„Dann machen wir gleich damit weiter. Ich schenke eigentlich beide Sorten in der Hauptsache aus. Die meisten heimischen Studenten und Besucher wollen unser eigenes Bier trinken. Seid ihr zusammen?“
Ich nickte lächelnd. „Eigentlich schon. Wir kennen uns aus der Sandkiste. Andy hat das Problem, dass er mit Frauen nicht gut kann, im Gegensatz zu mir. Vielleicht findet sich ja hier im Laufe der nächsten Monate ein netter Begleiter für ihn.“
Alois musterte Andy von oben bis unten und blieb mit dem Blick gekonnt auf der wichtigsten Stelle haften.
„Das will ich meinen, da werde sogar ich wieder lecker. Am Samstag ist mehr los. Aber später kommen noch einige Stammgäste. Am Tage verirren sich immer wieder Touristen hier herein und die Jungs wissen das natürlich. Man will unter sich bleiben, deshalb musste ich euch auf den Zahn fühlen. In den hinteren Räumen besteht die Möglichkeit für Techtelmechtel in der Dunkelheit. Ihr könnt euch in besondere, von den normalen Klos abgetrennte Toiletten verziehen. Jeder, wie er es am liebsten mag. Einen kleinen SM- Spielplatz hab ich ebenfalls eingerichtet. Einmal im Monat feiern wir in geschlossener Gesellschaft, dann gibt’s einen Dresscode. Ohne den ist kein Eintritt möglich. Ich geb‘ euch hier mal meinen Hausprospekt, nur für Gäste wie euch.“
Das hörte sich sehr gut an. Ich wusste, wo ich mich in Zukunft abends herumtreiben würde. Andy sagte nichts und griff sich gleich den Werbezettel. Am Samstag nächste Woche gab es eine Party. Wir sahen uns zustimmend an.
„Da kannst du uns gleich auf die Liste setzten, Alois.
Es standen schon etliche Namen auf seinem Zettel. Ich war gespannt, wen wir alles kennen lernen würden. In eine normale Schwulenkneipe kamen ältere Leute und nicht nur Studenten in unserem Alter. Die Tür ging auf. Ein Pärchen trat ein. Er war wohl um die Fünfzig und sein Partner, sehr weiblich auftretend, etwas jünger. Sie begrüßten den Wirt per Handschlag. Neugierig blickten sie zu uns.
„Das sind Max und Andy, zwei Studienanfänger. Und die zwei hier sind Tom und Tina, so werden sie von allen nur genannt. Sie sind verheiratet und kommen schon seit ewigen Zeiten hierher. Ich kümmere mich mal um die Getränke. Kennenlernen und quatschen müsst ihr selbst.“
Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Die beiden waren sympathische Leute. Nicht ganz unsere Zielgruppe, aber das machte überhaupt nichts. Andy und ich lernten gerne Menschen kennen.
„Was studiert ihr denn?“, fragte Tom. Andy antwortete, während sich Tina kurz entschuldigte und, frauentypisch, mit Täschchen zur Toilette stöckelte. Gekonnt wippte Tina mit ihrem schmalen Hintern, welcher in einer sehr engen hellblauen Jeans steckte. Ich fragte mich, wo es solche Farben gab und wollte mich bei ihrer Rückkehr danach erkundigen. Das knappe weiße T-Shirt mit einem glitzernden Stern ließ eine unbehaarte oder zumindest voll rasierte Brust erahnen. Ich blickte ihr anerkennend hinterher.
Tom lächelte. „Ja, meine Tina ist ein nettes Mädel, sie hat besondere Qualitäten. Aber ich denke, du passt nicht in ihr Schema. Sie steht auf ganze Kerle. Da muss ich eher auf deinen Freund achtgeben!“ Recht hatte er.
Studenten
Tina kehrte zurück. Leicht geschminkt, schimmerten ihre Lippen silbrig und betonten einen sinnlichen Mund. Wie erwartet schob sie sich zwischen Andy und Tom, küsste ihren Mann und wandte sich dem Ziel ihres Interesses zu. Ich schmunzelte und blickte zu Tom. Der verstand, wir tauschten die Plätze. Ein anregendes Gespräch schloss sich an.
Irgendwann spürte ich das Bier in meiner Blase und stand auf. Dabei berührte ich versehentlich Toms Hand. Oder auch nicht? Er gefiel mir und ich war gespannt darauf, wie seine Männlichkeit gebaut sein würde. Tom kam mir hinterher. Tina und Andy flirteten ungeniert weiter miteinander.
„Kennst du dich schon aus?“, fragte Tom. Ich drehte mich zu ihm und schüttelte den Kopf. Er fasste mich an die Hand und ließ mich nicht mehr los.
„Hier sind die normalen Klos. Sie sind für Touristen gedacht und nur für biologische Geschlechter eingerichtet. Wir gehen durch diese Tür.“ Er schob mich zu einem Treppenaufgang, auf dem das Wort ‚Privat‘ stand.
Eine dunkelrote schwülstige Tapete empfing uns. Die Toiletten teilten sich ebenfalls für Männlein und Weiblein auf.
„Möchtest du für die Mädchen oder für die Jungen?“
Natürlich ging ich in die Knabentoilette, ich war nun selbst in meiner schwulen Rolle alles andere als weiblich. Das wäre ja noch schöner. Dann hätte ich mich nicht operieren lassen brauchen! Tom stellte sich neben mich ans Becken. Ich riskierte einen Blick auf seine Männlichkeit. Er war sehr gut gebaut. „Was ist das? Bist du Trans?“, fragte er mich überrascht. Ich erzählte ihm von meiner OP. „Das stört mich nicht. Durch Tina bin ich es gewohnt, mit einem Jungen anderer Art zusammen zu sein“, meinte er und führte mich in einen dunklen Raum, in dem er das Licht an knipste. Die Wände waren schwarz, ein überdimensionales Bett mit Vorrichtungen für Ketten stand in der Mitte. „Hier werden SM Spiele abgehalten“, erzählte Tom. Die Latexkissen auf dem Bett hoben sich knallig rot ab. Tom zeigte mir zwei weitere Räumlichkeiten, die für besondere Vorlieben genutzt werden konnten. Wir kehrten zurück an unsere Getränke. Nach und nach füllte sich das Lokal. Viele Männer saßen in den Nischen. Einige blickten neugierig zu uns. Tina entschuldigte sich. Andy auch. Beide verschwanden in Richtung Klo. Was das hieß, brauchte mir niemand zu erklären. Andy würde in Kürze eine ebenso detaillierte Einweisung in die Örtlichkeiten erhalten wie ich. Tina war ganz sein Geschmack. Bei ihr konnte er seine heterosexuelle Begierde ausleben, ohne vor einer biologischen Frau Angst haben zu müssen. Es dauerte etwas länger, bis die beiden wieder bei uns am Tisch saßen. Ich hatte immer mal wieder auf die Uhr geschaut.
Morgen früh fand um zehn Uhr die Begrüßung der Erstsemester statt. Da bestand Anwesenheitspflicht, wir wurden namentlich aufgerufen. Es war zwei Uhr durch. Wenn wir einigermaßen ausgeruht im Audimax sein wollten, sollten wir uns langsam nach Hause begeben. Andy nickte, als ich mit ihm darüber sprach. Wir verabschiedeten uns von unseren neuen Bekannten und winkten Alois zu. Draußen standen einige Taxen. Ich hatte keine Lust mehr zu laufen. Das Studenten ein Taxi nahmen, kam in München nicht so häufig vor. Aber wir hatten Geld genug. Ich knuffte Andy. Jacob lag schon im Bett, als wir zu Hause eintrafen, doch er schlief noch nicht. Er stand vorwurfsvoll wie eine Mutter in seiner Zimmertür, als wir in die Wohnung kamen.
„Eh, Leute, morgen früh haben wir um zehn Uhr Einführung, schon vergessen?“
„Reg dich ab, Mama, wir gehen jetzt schlafen und ich stell den Wecker. Es war geil, aber du als hetero willst sicher gar nichts über das Münchner Schwulenleben wissen. Hast du deine Kleine schon gevögelt?“
Jacob sah mich grinsend an, sagte „Arschloch!“, und verschwand wieder in seinem Bett.
Um acht Uhr rasselte mein Wecker. Die Sonne schien. Mein erster Weg führte an den Kühlschrank. Eier und Toast waren reichlich vorhanden. Jacob wackelte in die Küche, griff sich die Kaffeekanne und schaffte es irgendwie die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Andy duschte. Ich deckte zusammen mit unserem zweiten Sklaven namens Jacob den Tisch. Seine Majestät kam herein, fragte nach dem Schinken und schimpfte, dass er sich diesen selbst aus dem Kühlschrank nehmen musste. Ich ging ebenfalls duschen, Jacob folgte. Irgendwie lief alles wie am Schnürchen. Morgen könnten wir mal auf der Dachterrasse decken, dachte ich. Als ich in der Küche saß, stand Andy am Herd und haute die Eier in die Pfanne. Mit dieser Arbeitsteilung konnten wir zufrieden sein.
Pünktlich um halb zehn Uhr begann der Ernst des Lebens für die drei frisch gebackenen Studenten. Ja, man konnte nicht nur von Liebe und Sex existieren. Schade, dachte ich. Aber es würde sicher genügend Zeit bleiben, um alle unsere besonderen Bedürfnisse zu befriedigen. Ich las laut meine Mails vor, während wir zur Uni spazierten. Hubertus, Conny und Rene wünschten uns Glück und reichlich Potenz. Beatrix schickte zur Bekräftigung ihrer Wünsche ein heißes Bild. So ein Luder!
Im Audimax füllten sich die Plätze. Wir saßen gewohnheitsmäßig etwas weiter hinten. Der Dekan kam herein und begrüßte uns. Nach und nach wurden wir mit einem lustig-ernsten Vortrag durch unser künftiges Studentenleben geführt. Trotz meiner guten Schulnoten machte ich mir einige Sorgen, wie die Prüfungen an einer Hochschule ablaufen würden. Vater und Mutter erwarteten gute Leistungen von mir, das war klar. Üblicherweise stellten die Grafen von Wildenstein stets die Elite der Universitätsabgänger und deshalb baute sich ein ziemlicher Druck bei mir auf.
Während des Essens in der Mensa kam ein älterer Mann auf mich zu. Er stellte sich als Professor Moritz von Tannenhof vor und erzählte, mein Vater wäre einer seiner Studenten gewesen, als er noch an der Uni lehrte. Er sprach in sehr hohen Tönen von meinem alten Herrn, so dass ich mich fragte, ob der Herr Professor nicht vielleicht den falschen jungen Grafen von Wildenstein angesprochen hatte. Nein, das war nicht der Fall. Er wünschte mir alles Gute, ich solle meinen Vater grüßen und bot mir seine Hilfe bei Fragen und Problemen an. Gut, ich bedankte mich höflich. Andy und Jacob katzbuckelten vor mir. Herr Graf hier, Herr Graf da. Irgendwann wurde mir ihr Eifer zu bunt und ich beendete den Blödsinn.
Maja erschien am späten Nachmittag bei uns in der Wohnung. Sie nahm Jacob lächelnd den Staubsauger aus der Hand und half ihm sein Zimmer aufzuräumen. Wie machte der Typ das nur? Vielleicht hätte ich Jenny dazu bewegen können den Haushalt zu übernehmen, wenn sie hier wäre. Eigentlich könnten wir in Erwägung ziehen, sie im nächsten Jahr in München Tiermedizin studieren zu lassen. Maja hatte eine Freundin im Schlepptau, die sich sehr interessiert umsah. Ich musste die beiden aufklären. Jenny forderte leider ihren Tribut. Ich war so gut wie verlobt und Andy? fragten sie. Ja, sie könnte es mal versuchen, aber der Erfolg war wohl mäßig. Andy stand mehr auf Leute mit Schwanz und damit konnte sie nicht dienen. Traurig verabschiedete sie sich von uns. Nun, Maja hatte ihren Jacob fest an der Angel. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Für mich gab es in München keine Ausflüge in die Damenwelt. Das würde mir sehr schlecht bekommen. Jenny besaß überall Verbindungen und ließ ihre Spione für sie arbeiten. Vielleicht war Grit, so hieß die Unglückliche, schon so ein Teil dieser Untergrundorganisation gewesen. Ich tat gut daran, alle Versuche liebestoller Frauen abzuwehren. Mein Weg führte zu Alois in die Schwulenkneipe. Die nächsten Wochen vergingen rasch. Ich musste viel lernen und saß oft bis mitten in der Nacht am PC. Am Wochenende amüsierten sich Andy und ich bei Alois. Der Dresscode Abend war supergeil verlaufen. Wir hatten viele Leute aus der Szene kennengelernt. Ich durfte als SM-Sub herhalten und mein Erfahrungsschatz auf dem Gebiet wuchs. Es waren ältere Studenten darunter, die wir hin und wieder zum Essen in der Mensa trafen. Schulisch versuchte ich Informationen zu sammeln und ließ mir von den alteingesessenen höheren Semestern gerne helfen.
Mitte November stand unser Transkidtreffen in Hamburg an. Am Freitag flogen wir zu dritt los. Andy und Jacob wollten unbedingt mit. Letzterer riskierte sogar den ersten ‚Ehestreit‘. Aber seine Geliebte lenkte ein, nachdem sie selbst eine schöne Abwechslung fürs einsame Weekend gefunden hatte. Wir geilten uns während des Flugs gegenseitig auf. Rene und Conny standen am Flughafen. Das Begrüßungskomitee jubelte uns zu, als wir aus der Ankunftshalle kamen. Wir sollten erst am Samstagmittag beim Doc im Hotel sein und konnten uns auf diese Weise zunächst mit unseren Freunden treffen. Conny wollte sich gleich um Jacob und Andy kümmern. Ich sah Rene aus dem Augenwinkel an. Na, da hätte Maja ihren Jacob wohl besser nicht fliegen lassen sollen, dachten wir beide zur selben Zeit und grinsten. Andy wird sicher bei Kurt in der Bar unterkommen. Er machte schon während des Flugs Andeutungen, dass er den Abend über bei Kurt etwas Taschengeld verdienen konnte. Conny zeigte ihm, wo das Bier stand und wie er die Getränke aufzufüllen hatte. Babs freute sich über die unerwartete Hilfe. Sie und Sina bedienten die Gäste. Oft tranken die sehr viel und die Bierfässer mussten ausgetauscht werden. Das war Männerarbeit. Conny freute sich, den Job für zwei Tage an Andy abzugeben.
Am nächsten Tag gab es für Rene und mich eine herzliche Begrüßung beim Doc. Frau Wagner war da und wollte wissen, wie es uns ging. Sie hatte bereits am Vormittag alle rechtlichen Probleme mit den Jungs durchgearbeitet. Was für ein schönes Gefühl, sie und den Doc wiederzusehen. Ohne die beiden wären wir sicher nicht hier. Vor allem Doktor Reimers hatten wir unser jetziges Leben in unserem gefühlten Geschlecht zu verdanken.
Wir saßen allerdings nur mit den Jungen in einer Runde. Die Einrichtung des Seminarraumes hatte sich seit dem letzten Jahr nicht verändert. Fünf Augenpaare schauten uns neugierig an. Es waren einige abgesprungen, so dass sich die Gruppe verkleinert hatte. Für mich war das kein Problem, im Gegenteil. So konnten wir uns mit jedem sehr viel intensiver befassen. Der Doc hielt seine Ansprache und stellte uns vor.
„Ja, ich grüße euch. Die beiden jungen Herren sind Max und Rene, die ich seit einer Ewigkeit begleite. Sie wurden vor knapp vier Monaten operiert. Im Frühjahr wird die Erektionshilfe eingesetzt und ein Hodenersatz geformt.“
Er wandte sich an uns. „Ich möchte euch zwei einfach bitten, kurz etwas von euch und eurem Leben zu erzählen. Bitte bezieht noch keine OP Einzelheiten ein, das machen wir später. Es gibt bis zur OP immer noch den Weg zurück ins biologische Geschlecht, den gerade zwei meiner jungen Patienten gehen möchten und die ich dabei begleite. Beide sind jetzt selbstverständlich nicht hier. Deshalb ist die Runde etwas kleiner geworden.“
Oh, das war etwas Neues. Ich überlegte, wie so etwas kam. Die meisten, die es bis hierher geschafft hatten, wussten, was sie wollten. Jugendliche, die wieder umschwenkten, gab es eigentlich selten. Darüber wollte ich mit Herrn Reimers später sprechen.
Frau Wagner saß interessanterweise bei uns und blickte mich lächelnd an. Sie war als Psychologin mit allen Wassern gewaschen. Wahrscheinlich ahnte sie bereits, an was ich dachte.
Wo die Aufmerksamkeit schon auf mich gerichtet war, konnte ich gleich anfangen.
„Ja, also, ich heiße Max. Dass ich kein Mädchen bin, wusste ich bereits mit drei Jahren. Ich denke, die Gefühle, im falschen Geschlecht zu leben, sind euch hinreichend bekannt. Sonst wärt ihr nicht hier. Für mich gab es kein Wenn und Aber. Ich war ein Junge. Anfangs versuchten meine Eltern alles, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Doch als ich meine erste Blutung bekam, war Schluss damit. Ich hatte ein ziemlich heftiges Gespräch mit meiner Mutter und sie war gottlob mit einer Psychologin befreundet. Die kannte sich zwar beruflich nicht mit Kindern aus, konnte ihr aber Telefonnummern von Ärzten und Therapeuten nennen. So landete ich endlich hier beim Doc, den wir inzwischen liebevoll als Ziehpapi bezeichnen. Für mich war es wichtig, dass ich Menschen fand, die mich mit meinem Wunsch ernst nahmen und mir erlaubten, so zu leben, wie es gut für mich war. Die Schule spielte mit und alle anderen auch. Nur ein paar Leute versuchten mich zu mobben. Aber die bekamen es mit meiner Mutter zu tun. Die Zeit hier beim Doc war schön und doch nicht. Als ich nämlich älter wurde, bekam ich so etwas wie eine Depression, weil ich bis zum siebzehnten Lebensjahr auf meine Hormone warten sollte. Alle meine Freunde und Kumpels entwickelten sich zu jungen Männern und ich war noch ein Kind, wenngleich ich mich in meine jetzige Freundin verliebte.“
Ein kleiner blonder Bursche meldete sich. „Darf ich etwas fragen?“
Doc Reimers lachte. „Natürlich, Joe, dafür sind wir hier. Am besten, ihr sagt erst mal euren Namen und euer Alter, dann können sich Max und Rene ein Bild von euch machen.“
„Ich heiße Joe, eigentlich bin ich auf Johanna getauft, aber ich bin kein Mädchen und meine Eltern finden das okay. Ich will meinen Namen in Johannes ändern lassen und Joe klingt fürs Tägliche einfach besser. Ich bin Fünfzehn. Max, hast du auch die Spritze bekommen, die deine Pubertät unterdrückt? Wie konntest du dich da verlieben, wenn du noch keine Hormone hattest?“
Ich staunte. Der sah wie elf oder zwölf Jahre aus. „Ich hab dich auf gerade mal Zwölf geschätzt, entschuldige. Natürlich bekam ich die Spritzen vom Doc und ich fühlte mich sehr gut damit. Das Wachstum läuft unvermittelt weiter und ich war zudem sehr sportlich. Vor allem machte ich Kampfsport, womit ich schon mit acht Jahren angefangen hatte. Ich ritt und spielte Fußball im Verein. Mein Körper blieb in der Entwicklung nur im Hinblick auf die Brust und auf die Regel stehen. Auf beides konnte ich verdammt gut verzichten. Mit dem Kopf hat das nichts zu tun.“
Alle lachten spontan.
„Als ich zum Sichtungslehrgang der Deutschen Reiterlichen Vereinigung eingeladen wurde, traf ich dort Jenny, sie wurde meine Freundin und irgendwann erzählte ich ihr alles. Es machte ihr nichts aus, denn ich wollte mich operieren lassen. Rene und ich trafen uns hier
und ich habe außerdem einen guten Freund zu Hause. Der ist jetzt mit mir in München und studiert ebenfalls. Wichtig ist, dass der Doc euch die alleinige Entscheidung bei der Hormoneinnahme überlässt. Er gibt euch nichts vor. Nur die Altersgrenze mit Siebzehn. Danach könnt ihr selbst wählen, als was und wie ihr leben wollt. Ich denke, wer da noch Zeit braucht, der soll sie sich unbedingt lassen. Die OP ist nicht mehr rückgängig zu machen. Und es gibt unterschiedliche Methoden. Ich wollte alles möglichst schnell durch haben, aber jeder ist anders und es gibt viele Leute, die erst die Brust operieren lassen und sich nach und nach an die anderen OP’s herantasten.“
Joe nickte. „Ich frag nur deshalb, weil ich anfange nach Jungs zu schauen. Da meldet sich etwas bei mir, das gar nicht an meinem Körper ist. Wie ein Phantom. Aber wenn ich mich in einen Jungen vergucke, werde ich schwul und davor habe ich Angst. Das ist der Grund für Melf und Kevin gewesen, sich erst mal wieder von der Behandlung zurückzuziehen. Es ist schon schwer genug den Eltern zu verklickern, dass man Trans ist, aber Trans und Schwul, das geht gar nicht.“ Joe sah mich traurig an.
Rene schluckte, oh Gott. Nun waren wir wirklich gefragt. „Das ist ein großer Denkfehler“, erwiderte Rene. „Eure Ausrichtung steht selbst bei normalen Kids in diesem Alter noch nicht fest. Auch Leute, die sich mit ihrem Geschlecht in Einklang befinden, merken erst in der Pubertät oder manchmal sogar viel später als Erwachsene, dass sie bi sind oder schwul/lesbisch. Ihr dürft euren transsexuellen Weg nicht von einem Vorurteil der Gesellschaft abhängig machen. Das Wichtigste seid ihr. Ihr müsst mit eurem Geschlecht zufrieden leben können und euch sicher als Jungen oder Mädchen fühlen. Die Ausrichtung ist überhaupt nicht wichtig. Zeit lassen ist völlig okay. Keine überhastete Hormoneinnahme oder gar OP. Aber ob ihr später als Männer schwul lebt oder Hetero, ist für euren eigenen Weg vollkommen egal. Wer nur wegen der Eltern und gesellschaftlicher Schwierigkeiten auf die Angleichung verzichtet, macht einen gewaltigen Fehler. Max ist bi. Und für meine Eltern zählen nur Abi und Studium. Ich muss eines Tages für mich selbst sorgen können. Irgendwann muss jeder sein eigenes Geld verdienen. Beruf und keine Straftaten, keine Drogen. Kein Schnaps. Das ist wichtig und alles andere, sagen meine Eltern, muss ich mit mir selbst abmachen. Max‘ Vater besitzt eine Schnapsfabrik und eine Brauerei, da bin ich manchmal froh, dass ich in Hamburg studiere und nicht in München, bei Max und Andy. Allerdings nur manchmal. Meistens fehlen sie mir.“ Rene warf mir einen zärtlichen Blick zu.
Oh, das ging wieder runter wie Öl. Und ich hatte verstanden. Wir mussten diesen Jungen die Angst nehmen, aus dem möglichen Mobbing wegen ihrer transsexuellen Veranlagung nicht mehr herauszukommen, weil sie nach der Angleichung als Homosexuelle gleich in die nächste ‚Katastrophe‘ schliddern würden. Ich beugte mich zu Rene, erwiderte seinen liebevollen Blick und schlang die Arme um ihn.
Die Jungen blickten erschrocken zum Doc und überrascht auf uns. Einige atmeten hörbar aus. Da fielen wohl etliche Steine von fünf jungen Herzen, das war deutlich spürbar. Ich bezweifelte, dass sich alle in homosexuelle Partnerschaften verlieren würden. Das schwule Ausprobieren war für die meisten nur eine Durchgangsstation, um sich selbst auszutesten und kennenzulernen. Wenn sich nach der OP die Gelegenheit bot, bemühte sich die Mehrheit um Mädchen. Der prozentuale Anteil Homosexueller war bei Transsexuellen nicht anders als bei den biologischen Männern und Frauen.
Frau Wagner machte sich Notizen und wischte sich eine kleine Träne aus dem Auge. Sie nickte Herrn Reimers zu. „Die Idee war gut, Achim. Siehst du es ein? Ich hatte recht.“
„Ich werde mit den anderen reden, auch mit den Eltern. Danke, ihr zwei. Selbst ich lerne noch dazu“, meinte er.
Die Erleichterung stand allen Jungen ins Gesicht geschrieben. Sie quatschten auf einmal durcheinander, fragten uns Löcher in die Bäuche und wir erzählten über unsere Erfahrungen.
„Warum warst du letztes Jahr noch nicht dabei, Joe?“, fragte Rene. Das interessierte mich ebenfalls, denn schließlich hatte uns der Doc erklärt, wir wären die einzigen männlichen Transkids gewesen.
„Ich bin aus dem Ruhrpott nach Hamburg gezogen und kam erst kurz nach eurem ersten Treffen zum Doc“, erzählte er.
„Das stimmt, und Julian ebenfalls. Jan und Birger waren erst Zwölf und mir somit noch zu jung für die Truppe. Die hätten von euch beiden Großen zu viel Blödsinn gelernt“, sagte der Doc. „Ja, und Sami hat ein ganz besonders tragisches Schicksal zu bewältigen. Ich weiß im Augenblick gar nicht, was ich mit ihm machen soll“, setzte er nach und sah den kleinen dunkelhaarigen Jungen an seiner Seite mitfühlend an.
Schicksale
„Es ist nicht schlimm, Doktor. Ich bin gerne ein Junge. Ich kenne es gar nicht anders“, antwortete der und lächelte.
„Darf ich deine Geschichte erzählen oder möchtest du es selbst tun? Die anderen wissen nichts von dir.“
Sami überlegte. „Das würde ich gerne selbst tun. Ich heiße Sami, bin elf Jahre alt und stamme aus Afghanistan. Wir sind erst seit einem Jahr in Deutschland. Mein Vater war Lehrer an unserer Dorfschule. Wir wohnten sehr weit weg von der Hauptstadt Kabul auf dem Land. Ich habe einen siebzehnjährigen Bruder, einen zwanzigjährigen Bruder und ich hatte eine Schwester. Sie war zwölf Jahre alt, als sie starb. Meine Mutter sollte damals wieder ein Kind bekommen, nämlich mich. Meine Eltern sind beide sehr fortschrittlich. Mein Vater unterrichtete deshalb die Mädchen in unserem Dorf. Eines Tages kamen Taliban und haben mehrere Männer, die sich ihnen in den Weg stellten, erschossen. Meinen Vater haben sie verprügelt und gedroht, ihn umzubringen, wenn er weiter Mädchen unterrichtet. Meine Schwester wollte ihm helfen und …“
Sami hielt inne, senkte den Kopf. „Sie haben sie geschlagen und mitgenommen. Eine Bäuerin aus dem Dorf hat sie später gefunden. Sie haben ihr etwas Schlimmes angetan und sie danach einfach erschossen. Meine Mama war völlig fertig und weinte nur noch. Als ich zur Welt kam und sie sah, dass ich ein Mädchen war, sagte sie meinem Vater, ich wäre ein Junge. Niemand merkte etwas. Ich trug Jungenkleider und ging nur mit Mama zur Toilette. Sie erzählte mir, als ich in die Schule kam, dass ich eigentlich ein Mädchen bin, aber niemand das wissen durfte und ermahnte mich, immer aufzupassen, wenn ich zur Toilette ging. Irgendwann bekam ich Durchfall in der Schule und mein Vater wollte mir helfen. Ich hatte furchtbare Angst vor ihm, aber er nahm mich nur in die Arme und weinte. Zuhause weinten meine Eltern beide. Vater fuhr kurz danach in die Stadt und Mama erzählte, dass wir Afghanistan verlassen wollten. Es dauerte noch zwei Jahre, bis sie alle Papiere zusammen hatten und wir sind mitten in der Nacht aufgebrochen. Wir besaßen Flugtickets. Mein Vater durfte hier in Deutschland gleich als Lehrer und Übersetzer arbeiten. In meinem Ausweis steht, dass ich ein Junge bin. Meine Eltern wollten, dass ich als Mädchen lebe, aber ich will nicht. Ich bin ein Junge. Ich hoffe, der Doktor kann meine Eltern umstimmen und mir helfen.“
Rene und ich starrten uns betroffen und geschockt an. Wie krass war denn so etwas? Hier musste jeder zur Schule gehen. Warum durften Mädchen nicht lesen und schreiben lernen? Aber ich hatte in der Schule und aus den Nachrichten von dem Leid der Kinder in diesen muslimischen Kriegsgebieten gehört. Es gab in vielen islamischen Ländern Männer, die Frauen den Schulbesuch verboten. Nur ist es ein Unterschied, ob man etwas im Fernsehen sieht und in der Zeitung liest oder es direkt erlebt. Sami saß jetzt neben uns.
„Ich glaube, ich hätte an Stelle deiner Mutter genauso gehandelt“, sagte ich. „Wenn alle Kinder in Afghanistan Jungen werden, gibt es keinen Nachwuchs mehr. Dann sterben die Taliban aus. Aber im Ernst, deine Mama wird ein Leben lang darunter leiden, dass sie ihre Tochter verloren hat und ihre Reaktion, dich nur retten zu können, wenn sie dich zum Jungen erklärt, kann jeder vernünftige Mensch nachvollziehen. Doch du bist natürlich nicht so transsexuell wie wir. Du bist dazu gemacht worden und ich denke, für dich ist es am besten, die Pubertät wird unterdrückt, du gehst ganz normal als Junge zur Schule und schaust mal, ob du dich bei den Mädchen wohlfühlst. Du solltest offen bleiben für beides und dich nicht so schnell entscheiden. Warte ab, bis du vierzehn oder fünfzehn Jahre alt bist und verlieb dich das erste Mal. Vielleicht verliebst du dich in einen Jungen und fühlst dich auf einmal wie ein Mädchen. Dann kannst du dich entsprechend kleiden und deine Pubertät erleben. Für jemand wie dich ist die Altersgrenze vom Doc wirklich gut. Vor allem, geh in die Schule und lerne. Wenn du ein Mann bleiben willst, ist das okay. Oder du kannst vielleicht später den Mädchen in deiner Heimat besser helfen, wenn du eine Frau bist.“
„Ich hatte Ähnliches im Sinn“, antwortete Doktor Reimers. „Wir werden uns viel Zeit mit Sami lassen. Ein solcher Fall geht mir immer sehr nahe. Wir hatten so etwas hier noch nie und es macht mich einfach wütend, wenn Männer es zulassen, dass Frauen nicht einmal ihren Namen schreiben können und so viel Angst und Schrecken verbreitet wird, dass solche Entwicklungen dabei herauskommen. Sami, deine Mutter hat richtig gehandelt. Sie wollte, dass du etwas lernst. Und wenn das in deiner Heimat lediglich als Junge möglich ist, gab es nur diese Lösung. Wir warten ab, wie du dich entwickelst. Willst Du ein Junge sein, belassen wir es dabei. Frau Wagner wird dich zusätzlich begleiten.“
Die nickte und warf dem Kleinen einen aufmunternden Blick zu. „Ich glaube, wir müssen jetzt über ganz andere Dinge reden, als über deine Geschlechtlichkeit. Das Wichtigste ist im Augenblick deine Beziehung zu deinen Eltern, vor allem zu deiner Mutter“, meinte sie.
Herr Reimers sah nachdenklich auf die Uhr. „Ich denke, wir machen jetzt erst mal eine Mittagspause, damit ihr etwas zu essen bekommt. Danach könnt ihr zusammen die Spielmöglichkeiten in den Aufenthaltsräumen in Augenschein nehmen und euch mit Max und Rene frei unterhalten. Um drei Uhr ziehen wir uns an und fahren ins Aquarium. Danach geht’s bis acht Uhr weiter ins Sportcenter. Max, Rene, ich wäre froh, wenn ihr uns begleitet. So hab ich ein paar Aufpasser mehr für die Rasselbande. Wenn alle Mann wieder in der Herberge sind, könnt ihr gerne fahren. Ich nehme an, ihr trefft euch mit euren Hamburger Freunden?“
Rene nickte. „Klar, machen wir, Doc. Die Kids sollen alles fragen, wir werden uns beim Spielen mit ihnen weiter beschäftigen. Wenn wir um neun Uhr gehen können, ist es früh genug.“
Samis Augen ruhten während der Mahlzeit ständig auf mir. Ich hatte ihn ins Herz geschlossen. Wer seinen Lebenshintergrund nicht kannte, käme nie auf die Idee, dass er vom Grundgeschlecht ein Mädchen war. Wir spielten erst Tischfußball, holten uns die Schlüssel für die Kegelbahn und erklärten am Schluss allen die Billardregeln. Das Hamburger Aquarium am späten Nachmittag wurde für Rene und mich ein besonderes Erlebnis. Joe bat mich auf dem Klo, ihm etwas mehr zu zeigen und fragte nach der OP Methode. Für ihn war der transsexuelle Weg nur eine Frage der Zeit. Auch die anderen drei zeigten deutliche Anzeichen ihrer besonderen Prägung. Sami hatte die Qual der Wahl. Wie er sich später entschied, war offen. Ich tippte allerdings darauf, dass er ein Junge bleiben würde. Die ersten Lebensjahre legten ihn bereits in seiner Rolle fest. Vielleicht geschah ein Wunder. Das musste ein Junge sein, der ihm seine verborgene Weiblichkeit zu Bewusstsein brachte. Wir begleiteten unsere jungen Freunde am Abend wieder in die Jugendherberge.
Unser Weg führte danach gewohnheitsmäßig zu Conny, der uns am nächsten Vormittag zum Flughafen brachte.
Die Zeit verging. Die Wochen und Monate rasten an uns vorüber. Unser erstes Semester brachte ständig Neues. Wir lernten viele Menschen kennen und die Bildung forderte ihren Beitrag. Die meisten Stunden verbrachte ich, wie wohl alle Studenten zu Beginn, mit der Suche nach den Vorlesungs- und Seminarräumen. Ich war mehrere Monate nicht mehr in Hamburg gewesen. Der Kontakt zwischen mir und Rene, sowie Conny, beschränkte sich auf gelegentliche Mails. Conny erzählte mir freudig von seinen Erfolgen in der Schule und Rene stöhnte über die Anforderungen der Uni. Ihm ging es nicht anders als uns. Aber er war viel mit Kerrin zusammen. Rene und die Hamburger Freunde fehlten mir manchmal sehr. Umso glücklicher war ich über den zweiten OP-Termin in Berlin, der uns nach gelungenem erstem Semester erwartete. Während der kurzen Semesterferien sollten Rene und ich unsere Erektionshilfe erhalten.
Am 20. März trafen wir uns bei Doktor Dupret in der Klinik. Wir waren beide mit dem Zug angereist und fielen uns schon auf dem Bahnhof in Berlin um den Hals. Schnell wurden SMS an Freunde und Verwandte geschrieben und obendrein noch ein Selfi verschickt. Die Voruntersuchungen verliefen reibungslos. Wir sollten beide am 22. nach einander operiert werden. Der Eingriff dauerte nicht lange und war recht unkompliziert, erzählte uns der Doc.
Am Abend lagen wir schon wieder auf unserem Zimmer und schauten uns nach dem Aufwachen müde aber sehr glücklich an. Der Aufenthalt sollte nur eine Woche dauern. Am anderen Morgen kam Doktor Melcher und wechselte die Verbände. Ich konnte den ersten Blick auf meinen Kleinen werfen und freute mich wie ein Kleinkind zu Weihnachten.
„Wer hat die dicksten und größten Eier, Doc?“, fragte Rene.
Herr Melcher grinste und antwortete mit Sarkasmus und Ironie wie beim letzten Mal.
„Ich fürchte, keiner von euch beiden. Die fallen bald in sich zusammen und sind kaum noch sichtbar. Der Chef hatte wieder die falsche Brille auf. Er wird alt. Seine Hände zitterten merklich beim Einbau der Pumpe. Ich würde mich also nicht allzu sehr darauf verlassen, dass sie funktioniert.“ Rene atmete aus.
„Haha!“, entfuhr es mir. Zärtlich und neugierig nahm ich meinen Penis in die Hand. Die Silikonhoden waren in Tat nicht so groß, aber sie sahen sehr echt aus, und darauf kam es an.
„Nicht die Pumpe betätigen, das üben wir erst in ein paar Tagen. Es muss alles heilen. Aber der Chef zeigt euch, wie’s geht und ihr müsst regelmäßig üben.“
Als er Rene auspackte, kam der Boss. Doktor Dupret hatte wohl gerade auf dem Flur einen seiner berüchtigten Witze losgelassen, denn sein ganzer Ärzte- und Schwesternanhang lachte, als sie eintraten.
„Guten Morgen, meine Herren. Operation geglückt. Die beiden Patienten sind leider tot. Wie sieht‘s aus, Herr Kollege?“, fragte er und besah sich nicht ohne Stolz sein Werk. „Aha, alles erfolgreich eingesetzt. Meine Herren, in ein paar Tagen werden Sie beginnen, sich wie Männer zu benehmen und ich erwarte regelmäßiges Üben. Das schließt die Damen nach Ihrer Entlassung ein.“
„Ich dachte, wir bekämen diese besondere Einweisung noch hier und dürften uns dazu einige ihrer hübschen Krankenschwestern aussuchen“, meinte ich.
„Das ist leider im Preis nicht enthalten. Das zahlen die Krankenkassen nicht mehr.“ Doktor Dupret lachte selbst und zwinkerte uns und den anderen Ärzten zu.
Schwester Tanja drehte sich zu ihrer Kollegin um. „Ich denke, der Patient braucht heute noch einen Einlauf. Was meinst du Heike?“
Die Angesprochene nickte zustimmend. „Ja, und wir sollten den Dreiliterbeutel nehmen, damit er etwas davon hat.“
Ein paar Minuten später lagen wir allein im Zimmer. Wir konnten es kaum erwarten, unsere Pumpen zu benutzen. Die nächsten Tage wurden zur Geduldsprobe. Beatrix bat um ein Foto, wenn wir das erste Mal etwas zeigen konnten. Ich lehnte ab. Und für Jenny sollte es eine Überraschung bleiben. Rene dachte dasselbe.
Der große Moment kam und wir saßen stolz im Bett. „Wie bekommen wir sie jetzt wieder runter, Doc?“, fragte ich. „Wieso runter? Der muss noch weiter rauf. Und dann bleibt er so. Das wolltest du doch, oder hab ich das falsch verstanden?“
Schwester Tanja kicherte. „Runter geht nur mit Einlauf.“ Na, das konnte ja heiter werden.
Nun stand die Kiste endlich, aber ich fand den Knopf zum Ausschalten nicht. Womit hatte ich das nur verdient? Der Spieltrieb nahm uns völlig gefangen. Irgendwann bekamen wir den Bogen raus. Jetzt war also unserem Leben als vollständige Männer keine Grenze mehr gesetzt. Nun ja, fast keine. Aber das störte uns in diesem bedeutungsvollen Moment nicht.
Ein paar Tage später stand die Entlassung an. Auf dem Bahnhof umarmten wir uns und waren kaum in der Lage voneinander zu lassen. Rene und ich, zwei transsexuelle Jungen, die seit sie denken konnten, auf diesen einen Augenblick hin gefiebert hatten. Deren Träume tagtäglich nur darum kreisten, wann sie endlich richtig und heil sein würden. Die letzten Jahre waren wir unzertrennlich gewesen, fiel mir ein. Wir küssten uns mit Tränen des Glücks in den Augen. Freude und Schmerz lagen so dicht beieinander.
Noch hatten wir Termine bei Doktor Reimers. Auf diese Weise durften wir uns in Hamburg treffen. Aber etwas war jetzt anders. Wir wurden älter und mussten uns von unserem Kinder- und Jugendleben verabschieden. Es war alles in allem eine wunderschöne Zeit gewesen, die ich nie missen wollte. Ich ließ die Bilder in meinem Kopf Revue passieren. So gesehen besaßen wir eine einzigartige Lebenserfahrung, die uns von biologisch geborenen Jungen unterschied. Ich spürte allerdings, wie sich mein Geist in die Entwicklung zum Erwachsenen aufmachte und es war nicht mehr möglich, dies aufzuhalten. Unser Leben änderte sich. Wir waren keine Jugendlichen mehr. Die Normalität hatte uns eingeholt. Ein letzter Blick. Renes Zug fuhr zuerst ab. Eine halbe Stunde später saß ich im ICE nach München.
In einer Woche begann die Uni. Das zweite Semester! Von insgesamt sechs. Danach werde ich noch drei Jahre Forstwirtschaft hinten dran hängen und darin meinen Bachelor machen. Mehr brauchte ich als Erbe der Wildensteiner Grafen nicht. Mein Vater hatte mein Geschlecht erfolgreich im Adelsregister ändern lassen, wie es unser Hausgesetz verlangte.
Die Bearbeiter dort staunten nicht schlecht. Das hatten sie in der gesamten Zeit ihres Bestehens noch nicht erlebt. Aber ich war nun der Erbgraf von Wildenstein.
Wenn alles gut lief, könnten Jenny und ich schon in sechs Jahren heiraten.
Meine Güte, ich hatte noch nie so detailliert meine Zukunft geplant. Das war real, kein Traum. Ein leichtes Zittern überkam mich. Landschaften, Bahnhöfe, Städte zogen während der Zugfahrt in einem Tempo an mir vorüber, dass mir schwindelig wurde. Das Leben kam mir auf einmal so schnell vor. Bis vor wenigen Tagen war es noch behäbig und langsam gewesen. Das große Ziel lag so weit entfernt, nahezu unerreichbar und ich dachte immer wieder daran, wie lange es noch dauerte, bis ich endlich erwachsen sein durfte. Damit verband ich stets mein Geschlecht und die Funktionalität der dazu notwendigen männlichen Organe. Über Nacht war es nun geschehen. Das Ende einer langen Reise war gekommen.
Am Abend fuhr der Zug in den Münchner Hauptbahnhof ein. Jenny meldete sich kurz vor der Ankunft am Telefon.
„Du hast es geschafft, Max. In ein paar Jahren sind wir verheiratet und ich werde, wenn Gott will, unser erstes Kind austragen dürfen. Dein Kind, mit Hubertus’ Samen befruchtet. Auch meines wird eines Tages von ihm sein und wir können zusammen das Erbe der Grafen von Wildenstein für die Zukunft bewahren. Ich liebe dich von ganzem Herzen.“
„Ich liebe dich auch, Jenny, und ich danke Gott dafür, dass er mir eine so wunderbare Frau geschenkt hat. Der Zug hält, ich muss aussteigen. Ich ruf dich nachher noch einmal an.“
Kurz fiel mir die Geschichte vom Storch ein. Nun, Petrus hatte den Fehler bei mir wieder ausgebügelt. Ich schmunzelte unwillkürlich in mich hinein. Meine Reise war hier wirklich vorbei und ich endlich am Ziel. Die körperliche Schwäche würde sich in ein paar Wochen in Luft auflösen. Als ich vor dem Bahnhof stand und dem Taxifahrer die Adresse gab, fühlte ich, dass eine neue Reise gerade begonnen hatte. Sie hieß: Das Leben eines Mannes.